Memorabilia aus der schriftlosen Vorzeit in Harsefeld

Ich habe keine Zeit für Erinnerungen. Die aber schert das nicht, und sie überkommen mich.

Der Lokalanzeiger vermeldet wieder einmal Unwichtiges. Privatkram wird öffentlich gemacht, damit Öffentliches privat bleiben kann. Irgendein historischer Zug soll renoviert werden.

Doch nicht irgendeiner, sondern der, in dem ich zur Schule gefahren bin, damals in der relativ automobilfreien Zeit. Als die Leute auf dem Land ihre Fahrzeuge gebrauchten, um ihre Arbeitsplätze in der Stadt zu erreichen. Bevor sie aufs Land zogen, obwohl sie Arbeitsplätze in der Stadt hatten.

Bevor es immer mehr Mühe machte, den Arbeitsplatz mit dem Auto zu erreichen. Als die Leute noch Bus und Bahn benutzen und das nicht für unter ihrer Würde hielten. Als sie Fahrrad fuhren ohne sich deshalb für bessere Menschen zu halten.

Kindheitseisenbahn

Als Museumsstück gehegt und gepflegt wird ein »Triebwagen« von WUMAG. Klingt ziemlich dumpf dräuend: WUMAG war die bis 1946 bestehende Waggon- und Maschinenbau AG in Görlitz, die 160 Jahre zuvor mit dem Bau von Kutschen begonnen hatte.

In den 1930ern entstand das Gefährt, im dem ich 1968 von Harsefeld zum Gymnasium in Buxtehude befördert wurde. Letzte Fahrten: bald schon musste ich den Bus nehmen.

Kindheitseisenbahn

Ich hatte einen Stammsitzplatz, von dem aus ich durch den Führerstand auf die voraus liegende Strecke blicken konnte statt die Landschaft seitlich vorbei wischen zu sehen.

Kindheitseisenbahn (Zeichnung: urian)Kindheitseisenbahn (Zeichnung: urian)

Die Bahnlinie zwischen Harsefeld und Buxtehude gehörte zu den vielen Verbindungen, die gekappt wurden, sobald Verkehr nurmehr als Autoverkehr aufgefasst wurde. Bis die Wirklichkeit die Verkehrsplaner einholte.

In dem Jahr 1993, als es mich zurück in die Gegend verschlug, wurde die Bahnstrecke nach Bremerhaven neu eröffnet, mit der ich noch frühere Erinnerungen verbinde als die Triebwagen-Reisen.

Der Verein, der den Triebwagen betreut, bewahrt noch ein zweites Gefährt meiner Kindheit.

Ich wuchs neben dem Bahndamm und einem Tunnel auf, der bei seiner Eröffnung 1912 offenbar eine Verkehrsverbindung darstellte, inzwischen aber von einer Nebenstraße an einem Wald vorbei zum Schützenplatz führte und für Autos unbenutzbar war.

Auf dem Bahndamm zu spielen war verboten, aber das hieß bloß, dass den Erwachsenen nicht erzählt werden konnte, wie die Nachbarsjungen und ich den »Schienen-Zepp« abpassten.

Helikopter-Eltern, wie sie inzwischen genannt werden, gab es auch damals, aber nicht in meinen Kreisen. Oder vielmehr doch, und mit einer tragischen Pointe.

Meine Eltern mussten beide berufstätig sein. Ich wurde der Nachbarsfamilie überlassen, zu der Teenager gehörten, die mich zusätzlich zu einem Bruder in meinem Alter beaufsichtigten. In meiner Erinnerung dominieren die Streifzüge mit ihm und anderen Jungen der Nachbarschaft abseits etwelcher Aufsicht.

Wie die Aufenthalte am Bahndamm und auf den Strecke. Das Ohr auf den Schienen konnte das Nahen eines Zuges verraten. Einzelheiten sind verschollen: hatten wir uns irgendwann die Zeiten gemerkt, wann Züge vorbei rollten? Wie lange hielten wir vergeblich Ausschau oder lungerten am Damm herum, ein Ohr immer dem Schienenstrang zugewandt?

Der »Schienen-Zepp« war nicht zu hören, bevor er in Sicht kam und erst zu sehen, wenn er schon sehr nah war.

Der »Zepp« – ein Name, von dem ich nicht erinnere, ob er uns Kindern überliefert wurde oder wir ihn erfanden, weil der Wagen so schnell vorbei rauschte – war ein Opel Olympia Caravan, der 1953 zur Motordraisine umgebaut worden war, mit dem der Bahnmeister unterwegs war.

Schienen-Zepp

Dass wir den »Zepp« abpassten ging auf einen Vorfall zurück, als wir auf der Kuppe des Bahndamms unweit des Tunnels gespielt hatten. Neben dem Tunnel war die Böschung abgenutzt. Im Winter fuhren wir dort Schlitten.

Der Bahnmeister sah uns nicht, wenn wir einen gewissen Abstand zur Kuppe hielten, und wir hörten ihn nur vorbei rasen.

Einmal, als wir nicht die Strecke zum Spielplatz erkoren hatten und entsprechend aufmerksam auf das Nahen von Zügen oder »Zepp« waren, uns aber so dicht an der Kuppe aufgehalten hatten, dass der Bahnmeister uns sah, hielt er an.

Das bemerkten wir rechtzeitig genug, um uns in dem vertrauten Terrain zu verstecken und lediglich seine Beschimpfungen und Ermahnungen zu vernehmen.

Seither hielten wir nicht nur wie vordem Ausschau nach ihm, um von der Strecke zu verschwinden, sondern taten dies so spät, dass er uns dabei beobachten konnte.

Diese Episode bezeichnet einen Raum der Geschwindigkeit im Sinne Baudrillards. Meine und die Eltern meiner Freunde waren so wenig leichtsinnig wie wir, wenn wir vor den Zügen auf dem Bahndamm keine Heidenangst hatten. Das Tempo in den frühen 1960ern war gemächlich genug, um von Kindern bewältigt zu werden.

Tatsächlich war die gefährlichste Passage jener Jahre die vom Bahnhof in Buxtehude, wo mich der Triebwagen abgesetzt hatte, über den angrenzenden Parkplatz, auf dem ich einmal angefahren wurde.

Unsere Eltern waren »Kriegskinder«. Für meine Mutter aus Harsefeld hieß das die längste Zeit wenig Dramatisches. Gelegentlich Bomberstaffeln auf dem Weg nach und von Hamburg, Tiefflieger ab Januar 1945; die ersten Panzer kamen im April ins Dorf.

Mein Vater hatte dagegen auf der Flucht aus Pommern Ärgeres erlebt als sein ältester Sohn in seinem ganzen Leben. (→ Fluchtpunkt Harsefeld)

Was heute wie Unbehütetsein anmutet war damals und zumal auf dem Lande normal. So vergleichsweise frei und wild wie ich wuchs das Gros der Nachbarsjungen auf, deren Väter Hafenarbeiter, Maurer oder Zeitungsvertriebsfahrer waren.

Ralf durfte partout nicht bei dem mitmachen, was wir am Bahndamm trieben. Er kam als Spielkamerad nur auf der Wiese in Sichtweite seines Elternhauses in Frage, wo sich zugleich deren Fleischergeschäft befand.

Der Bach, in dem wir anderen uns  austobten und Stichlinge jagten, war für ihn tabu. (→ Spuren aus Fakensieps) Ralf spielte am meisten allein zu Haus, es sei denn er wurde von den Nachbarsjungen besucht.

Ich entsinne mich nicht, damals einen Begriff für seine Eltern gehört zu haben und müsste nachforschen, welcher dafür im Schwange war. An Helikopter dachte man dabei jedenfalls nicht und hätte allenfalls Hubschrauber verstanden.

Ralf war fünf, als er bei einem Autounfall mit seinem Vater am Steuer umkam.

Historischer Triebwagen in Stade (Foto: urian)
Verkehrsmuseumsstück im Bahnhof Stade