Wikinger fallen 994 in Niederdeutschland ein

Einen Tag lang waren sie scharf geritten. Thietmar und der Bote seiner Mutter Kunigunde gaben ihren Pferden Sporen und Peitsche, denn die Zeit drängte.

Erst hatte der Bote bei Rikdag, dem Abt des Klosters Berge bei Magdeburg, vorgesprochen. Doch der hatte sich geweigert, seinen Schützling, Thietmars jüngeren Bruder, ziehen zu lassen.

Dann war der Bote bei Ekkehard, dem Leiter der Schule des Magdeburger Domstifts, vorstellig geworden. Und »Der Rote«, wie er genannt wurde, willigte ein, dass Thietmar einer Ehren- und Familienpflicht nachkam: Der Novize, der in einem Monat 19 Jahre alt würde, sollte sich als Austauschgeisel in die Hände der Wikinger begeben.

An einem Freitag im Juni 994 reiste er ab, in weltlicher Kleidung, die seine geistliche Tracht verbarg. Unterwegs setzte ihn Kunigundes Bote genauer ins Bild über die Ereignisse, die seine Familie, das Herrschergeschlecht der Udonen, in Schrecken versetzt hatten.

250 Jahre lang, von 900 bis 1144, regierten die Udonen an der Unterelbe. Thietmars Urgroßvater Luder, gestorben 929, war der erste Graf, dessen Name überliefert ist. Anno 969 wurde der Aufstieg der Familie untermauert durch den Bau einer Burg und einer Kapelle an ihrem Stammsitz in Hersevel, Horsafellum oder Rosenfeld, dem »Feld der Pferde«. Die Ereignisse um Thietmars Ritt nach Harsefeld leiteten eine neue Phase in der Udonenherrschaft ein, den Umzug des Machtzentrums nach Stade.

Zur ersten Jahrtausendwende fielen die Wikinger mehrmals über die Küsten von Elbe und Weser ein. 994 griffen sie von beiden Seiten an. Bei Oerel im Kreis Bremervörde erlagen die Askomannen einer List: Ein gefangener sächsischer Ritter führte mutmaßlich 20 000 von ihnen ins Glindmoor, wo sie ihre Kräfte vergeudeten und von den ortskundigen Feinden aufgerieben wurden.

Zur selben Zeit erlebten die Udonen ein Blutbad und eine dynastische Katastrophe. Von Stade aus kontrollierte die Familie den Zugang der Wikinger über die Elbe. Damals verlief ein Arm des großen Stroms keine zwei Kilometer nördlich der »urbs«, des »befestigten Orts« Stethu – heute liegt der Hafen sechs Kilometer Schwinge-Fluss vom Ufer entfernt.

Als Thietmar nach Harsefeld ritt, regierte dort sein gleichaltriger Onkel Heinrich II., der sich in seinen folgenden 22 Jahren Herrschaft den Beinamen »Bonus«, der Gute, erwarb. Heinrich und seine Brüder Udo und Siegfried sowie Graf Ethelger von den benachbarten Billungern hatten sich am 23. Juni auf der Elbe eine Schlacht mit den Piraten geliefert.

Udo war im Kampf gefallen, die anderen Führer in Gefangenschaft geraten. Unterhändler des Billunger-Herzogs Bernhard kamen mit einer Forderung von 7000 Pfund Silber Lösegeld zurück. Dafür wollten die Wikinger die Geiseln freigeben und die Gegend fürs erste in Frieden lassen.

Binnen weniger Tage war der größte Teil der immensen Summe aufgebracht. Der mit den Udonen verwandte Sachsenkönig Otto III. beteiligte sich; die Grafen hatten sich unlängst im Kriegsdienst ausgezeichnet. Gegen die erste Lieferung Silber wurden Geiseln getauscht: für Heinrich, den jugendlichen Herrscher, sein einziger Sohn Siegfried, ein Kleinkind, und zwei weitere Verwandte; für Ethelger zwei Billunger.

Heinrichs Bruder, der 15- oder 16-jährige Siegfried blieb gefangen. Weil er keinen männlichen Nachkommen vorweisen konnte, bot seine Schwester Kunigunde an, mit einem ihrer fünf Söhne auszuhelfen.

Keine Woche nach der Seeschlacht, am 28. Juni, ritten Thietmar und der Bote auf Harsefeld zu. Sie hatten den Urwald durchquert, der die norddeutsche Tiefebene bedeckte. 500 Jahre lang war Harsefeld ein Vorposten der Zivilisation, den alle Missionare auf dem Weg von Rom ins wilde Skandinavien passieren mussten. Beim Feld der Pferde im Tal der Aue grenzte der Große Wald an die Elbmarschen.

Thietmar von Merseburg vor Harsefeld (Zeichnung: urian)
Thietmar und der Bote im Urwald vor Rosenfeld (Zeichnung: urian)

Spät erst sah Thietmar die Burg. Vorher schon hörte er das Klagegeschrei. Aus den Hütten im Auetal drang es zu ihm auf den Hügel über der Lichtung. Näher zum Gemäuer schwoll es an: Ein Hochgestellter war gestorben, und seine Bauern und Knechte, seine Freunde und seine Sklaven beweinten ihn lauthals.

Bang betrat Thietmar die Burg. Die Udonen-Frauen wehklagten. Der Ankömmling war jedoch zunächst erleichtert: Ein Gang zu den »brutalen Kerlen« blieb ihm erspart. Denn Siegfried, sein jüngerer Onkel, dessen Platz er einnehmen sollte, begrüßte ihn. Aber auch er trauerte.

Am selben Morgen war Siegfried den Wikingern entkommen – aus einer für den edlen Udonen eher komfortablen Geiselhaft. Jedenfalls konnte er seinen Bediensteten Notbald und Ediko befehlen, mit einem Boot allerhand Wein heranzuschaffen, um seine Bewacher betrunken zu machen.

»Und die gierigen Hunde deckten sich ein«, schrieb Thietmar später in der europaweit bedeutendsten Beschreibung seiner Epoche, dem lateinischen Chronicon: »Als morgens der Priester zur Messe rüstete und der Graf [Siegfried], seiner noch vom gestrigen Weine schweren Wächter ledig, auf dem Vorschiff sich waschen ging, wagte er den Sprung in das bereit gehaltene Boot.«

Die Wikinger hielten den Priester für den Anstifter der Flucht und prügelten ihn, bevor sie die Anker lichteten und die Verfolgung aufnahmen. Knapp erreichte Siegfried das Ufer, fand das bereitgehaltene Pferd und brachte sich nach Harsefeld in Sicherheit.

Kaum allerdings hatten sie sich an Siegfrieds Rettung erfreut, wurden die Udonen entsetzt. Auf der Suche nach Siegfried waren die Wikinger verwüstend und plündernd in Stade eingedrungen. Als sie den Flüchtling nicht fanden, »raubten sie den Frauen gewaltsam die Ohrringe und kehrten dann missmutig um«, notierte Thietmar.

Zurück auf ihren Schiffen schnitten die Seeräuber den fünf verbliebenen Geiseln und dem Priester Nasen, Ohren und Hände ab und warfen die Verstümmelten in die Elbe. Anschließend zogen sie mit ihrer Silber-Beute ab.

Die Udonen bargen die Geiseln. Bis auf das Kind Siegfried, den Erbfolger, waren alle tot. Drei Monate lang sorgte man sich am Harsefelder Grafenhof sowohl um das Leben des Knaben wie um die Dynastie. Den 26. Oktober 994 überlebte das Kind nicht.

Thietmar war längst wohlbehalten nach Magdeburg zurückgekehrt. Dem Überfall der Wikinger verdankt Stade seine erste schriftliche Erwähnung in der Chronik, die er als Bischof von Merseburg schrieb. Hoch geachtet starb er im gesegneten Alter von 43 Jahren.

Dramatisch ging die Geschichte der Grafen weiter. Sieben Jahre nach der Geiselnahme ermordeten Udonen einen Anwärter auf den Sachsenthron. Im Zuge der Sühnemaßnahmen wurde das Harsefelder Kloster gegründet; Heinrich der Gute ließ die Burg zerstören und an selber Stelle ein Stift für Kanoniker errichten.

Der Hof der Grafen war inzwischen nach Stade verlegt worden; um 1010 wurde eine Burg auf dem Spiegelberg über dem Hafen erbaut. Weil Heinrich erbenlos blieb, übernahm sein jüngerer Bruder, Thietmars geretteter Onkel Siegfried, etwa 37-jährig die Macht.

Die Gräber Heinrichs des Guten und seiner Gemahlin Mechthild von Schwaben waren mehr als ein Jahrhundert lang ein Wallfahrtsort. Wahrscheinlich sind ihre Gebeine unter denen, die man bei den Ausgrabungen der Udonenburg an der Harsefelder Kirche seit 1981 fand.

Udonenknochen (Foto: urian)
Knochen der Udonen

Thietmars Chronik, eine Handvoll Scherben und Mauerreste: mehr nicht zeugt verlässlich von dieser Geschichte aus dem Zeitendunkel. Und Luder-Udos Kopf.

Nach einem Hinweis erkennt es auch der Laie: Das ist kein Bruch, da ist nichts weggesplittert; dieser regelmäßige Riss mit der glatten Kante am Schienbein stammt von einer Streitaxt. Luder-Udo erhielt den Hieb bei der Seeschlacht auf der Elbe anno 994. Außerdem hackte man ihm einen Fuß und den Kopf ab.

Die Leiche kam in die Grablege der Grafen von Harsefeld, wo die Knochen 1000 Jahre später ausgegraben wurden. Auf dem Dachboden des Agathenburger Schlosses, im Magazin der Kreisarchäologie, lagerten in schlichten Pappkartons die Gebeine der Udonen.

1992/93 wurden auf einer acht mal acht Meter großen Fläche neben dem Turm der Harsefelder Kirche zwei Dutzend Grabstellen entdeckt. Sie geben Rätsel auf. Eigentlich hätten die Knochen längst vermodert sein müssen. Eine schlüssige Erklärung für den außergewöhnlich guten Erhaltungszustand gibt es nicht.

»Sozusagen ein Wunder«, schmunzelte der Ausgräber und Autor Dietrich Alsdorf. Wunder sollen sich tatsächlich ereignet haben über den Gräbern der Grafen, genauer über denen von Heinrich »Bonus« (gestorben 1016) und seiner Gemahlin Mathilde. Die Überlieferungen dazu sind spärlich.

In den Sächsischen Annalen heißt es: Als eine Gräfin zum Beten in der Gruft weilte, »kam plötzlich eine Hand, ergriff ihr Schienbein und drückte es stark. Und als sei einen Schrei ausstieß und gefragt wurde, was ihr wäre, sagte sie, was sie gefühlt habe, und zeigte am Schienbein die Spur der Finger; diese behielt sie auch während ihrer ganzen Lebenszeit.«

Knochen der Udonen (Foto: urian)
Udonenknochen

Im Winter, wenn es nichts zu graben gibt, grübelte der Ausgräber über den Knochen. Wer ist wer? Als Anhaltspunkte dienen die Stammtafel der Udonen auf der einen, der Grabungsbefund auf der anderen Seite, aus dem sich die relative zeitliche Abfolge der Begräbnisse ergibt. Ein detektivisches Puzzle.

Als gute Christen haben die Grafen sich ohne Grabbeigaben, die eine Identifizierung erleichtern würden, zur letzten Ruhe betten lassen. Für die Nachwelt waren ihre Gräber vermutlich durch längst zerstörte Steinplatten markiert.

Klar erkennbar sind die Überreste des Kindes Siegfried, das die Geiselnahme der Wikinger überlebte und doch gestorben war. Der Ausgräber vermutete, dass Siegfrieds Grab durch einen Altar oder ähnliches besonders markiert war. Und dass seine Eltern sich in seiner Nähe bestatten ließen. Die geringsten Probleme bereitet die Bestimmung der Edelleute, die im Kampf umkamen.

Heinrich IV. erhielt um 1102 einen Keulenschlag ins Gesicht. Udo IV. wurde 1130 fern der Heimat erschlagen, war wahrscheinlich schon verwest, als er in Harsefeld ankam und wurde entsprechend rasch in die Erde gebracht: Man verzichtete darauf, ihm ein formgerechtes Rahmengrab zu schaffen, denn dazu hätte eine gemauerte Einfassung gehört. Rudolf II. bekam 1144 in Dithmarschen zwei Hiebe an den Kopf; der erste glitt ab, der zweite war tödlich.

Demnächst wird Harsefeld als Gruseletappe in Schwarzen Reiseführern erscheinen. In der Halloween-Folge von ZDF History im Oktober 2019 wurde die Theorie des Kreisarchäologen Daniel Nösler vorgestellt, wonach im Areal des ehemaligen Klosters reihenweise Leute begraben worden sein sollen, die auch über den Tod hinaus gefürchtet waren: »rund um die St. Marien- und Bartholomäi-Kirche im niedersächsischen Harsefeld im Landkreis Stade […] lassen archäologische Funde ahnen, welche Angst unsere Vorfahren vor Untoten hatten – und welche Maßnahmen sie ergriffen, um sie im Grab zu halten: […] Mit Steinen beschwert, festgeschnürt, mit Glöckchen im Grab oder enthauptet – die Indizien sind vielfältig.«

Indizien, mehr nicht, dafür, die Funde bei Ausgrabungen in den 1980er Jahren, von denen vor allem noch Fotos künden, als Wiedergänger oder Untote zu deuten. Dafür, dass in einem christlichen Kloster heidnische Bestattungen vorgenommen wurden, wenigstens bis ins 14. Jahrhundert; dass, wie Nösler meint, im Ernstfall dem christlichen Glauben nicht so stark vertraut wurde wie den abergläubischen Überlieferungen. Praktiken, die nur mündlich tradiert worden sein können, und die trotz ihrer vermeintlichen Wirkmacht dem Christentum, dem sie über Jahrhunderte stand gehalten haben müssen, dennoch unterlagen und nahezu spurlos verschwanden – bis auf die im 20. Jahrhundert aufgefrischte Tradition durch Neuheiden und Gothics. Sogar die Äbte des Harsefelder Klosters sollen im Herzen Heiden gewesen sein und einen der ihren mit einem Schloss in das Grab gebannt haben.

Das Glöcken an einer Leiche verweist auf Vorzeitiges Begräbnis, aber die ZDF-Drehbuchautoren versagten es sich, auf ihre und Nöslers Quelle bei Edgar Allan Poe zu verweisen. Nöslers Theorie hat Lücken. Aber wenn man, wie ZDF History und demnächst wohl die Fremdenverkehrswerber im Harsefelder Rathaus nach passenden Indizien sucht, wird man unweigerlich welche finden. Nösler hat die Untoten inzwischen in ganz Europa entdeckt.

Dietrich Alsdorf, der 1982 ein Skelett ausgrub, dessen Kopf mit einem Stein beschwert schien, dachte daran, dieser sei »aus einer Mauer gerutscht«, und kam nicht auf eine übernatürliche Erklärung. Dank der Konkurrenz von YouTube, wo alles Obskure ganz oben rangiert, favorisiert das ZDF die Horrortheorie. Und schwenkt die Kamera weiter nach Transylvanien und in englische Spukschlösser.

Literatur

G. Aust: Die Vorgeschichte des dänischen Angriffs auf Stade 994, ín: Stade, Stade 1994 | D. Alsdorf: Hügelgräber, Burgen, Kreuzsteine, Stade 1980 | E. A. Friedrich: Wenn Steine reden könnten III, Hannover 1995 | H. Harthausen: Die Normanneneinfälle im Elb- und Wesermündungsgebiet, Hildesheim 1966 | R. G. Hucke: Die Grafen von Stade 900–1144, Stade 1956 | Thietmar von Merseburg: Chronik, Darmstadt 1974 | U. R. in Hamburger Abendblatt 16.6.1997, 28.7.2000; Geschichte und Gegenwart, Harsefeld 1997 | Stader Jahrbuch 1953, 1955, 1969 | Zwischen Elbe und Weser 3/1994.

© Uwe Ruprecht

Siehe auch

Schwarzer Ritter. Der Untergang des Klosters Harsefeld
Räuber auf zwei und vier Beinen. 35 Jahre Herrschaft von Baron Bidal und Wolfszeit in Harsefeld

Mäusebutter zum Tee. Ein Mord in Buxtehude, eine Hinrichtung und ein Suizid in Harsefeld 1839-43

Weitere → Geschichten aus Stades Geschichte und → Kriminalgeschichten