Von Mäusen und Menschen

Ich habe Mäuse. Nicht im Hirn – in der Wohnung. Hinter den Wänden. Da krabbeln sie, mit ihren kleinen Füßen und langen, dünnen Schwänzen, wie bei Walt Disney. Nachts kommen sie aus den Löchern hervorgekrochen und räumen wie die Heinzelmännchen die Krümel auf, die in der Küche auf den Boden gefallen sind.

Jetzt, da es kälter wird, rascheln sie gern hinter dem Bücherregal, kommen dichter an den Schreibtisch heran, kriechen um die Füße, suchen nach Wärme. Werden notgedrungen dreister.

Ein Bekannter hat ebenfalls Mäuse. Eine ganze Horde, die nachts durchs Gemäuer rennt, dass die Poster an den Wänden flattern. Er ist dagegen sehr empfindlich und sinnt auf Abhilfe. Aber diese Mäuse sind schlau – wie Jerry aus dem Zeichentrickfilm, der seinen Kater Tom ständig austrickst.

Und sie sind zu mehreren. Eine Schnappfalle beeindruckt sie überhaupt nicht. Käse hin, Käse her – wenn einer von ihnen von dem Stahl zerschnitten worden ist, haben sie ihre Lektion gelernt. Dann rührt keiner mehr den Köder an. Vielleicht noch ein Versuch, der eine Vorderpfote kostet. Dann muss eine andere Waffe her. Was für eine archaische Methode auch diese Schnappfalle ist!

Es gibt ein Mittel gegen Mäuse, das nahezu unfehlbar ist und sich den modernsten Stand der Biochemie zunutze macht. Man wird sie alle los. Nicht auf einen Schlag, aber endgültig.

Mein Bekannter hat dieses Gift gestreut. Die Mäuse sind misstrauisch. Futter? Woher plötzlich, wo doch gestern noch Schnappfallen den Weg zum Kühlschrank pflasterten? Sie sitzen hinter ihrem Loch und beraten – wie eben noch die Wohnungsinhaber auf der anderen Seite –, was zu tun ist.

Klare Sache: Einer muss hin und vorkosten. Sie gucken einen aus. Keinen jungen, denn der Nachwuchs ist die Zukunft; keinen Alten, die haben unentbehrliche Erfahrung und sind ohnehin als Testtier allzu gebrechlich. Keine Frau, natürlich. Keinen im besten Mannesalter. Einen im Soldatenalter also.

Er verlässt das Loch und geht fressen. Vorsichtig, auf zitternden Beinen, nur ein wenig. Und kommt zurück.

Nichts passiert. Die Gruppe steht noch eine Weile beisammen und beratschlagt. Man beobachtet die Testmaus eingehend. Keinerlei Reaktionen. Schließlich zerstreut man sich.

Zwei, drei Tage. Die Testmaus ist zwar etwas bedrückt, zeigt aber weiterhin keine Veränderung.

Noch zwei Tage. Der Testmaus geht‘s gut, sie wirkt zeitweilig geradezu euphorisch. Kein Wunder, da sie dem Tod so tief ins Auge geblickt hat und entkommen ist.

Draußen vor dem Loch liegt noch das vermeintliche Futter. Aber wieso vermeintlich? Nichts ist passiert. Vielleicht haben die Menschen sich eines Besseren besonnen und sind zur friedlichen Koexistenz übergegangen. Warum sollten nicht auch sie des Lernens fähig sein?

Die Testmaus hat überlebt – also wird das Futter durchs Loch hinter die Wand geschafft. Ein schöner Vorrat für die kommenden Wochen. Bald haben alle davon gegessen. Ist auch bequemer und gefahrloser, als in der Wohnung herumzustöbern.

Einige junge Mäuse, wenig erfahren und ohne Misstrauen, laufen, gegen den Rat der Alten, nur so zum Spaß zwischen den Menschen herum, die sich als so friedlich erwiesen haben. Seltsam nur, dass die großen plumpen Gestalten trotzdem zusammenzucken, sobald eine Maus sich ihnen nähert.

Nach einer Woche ist die Stimmung in der Mäusekolonie an einem Höhepunkt angelangt. Alle sind ausgelassen und zufrieden, als hätten sie eine Droge gefressen.

Dann fallen die ersten um. Die Alten sterben binnen weniger Stunden. Dann die Jungen, dann die Frauen, schließlich die erwachsenen Männer.

Und aus ist es mit den Mäusen. Das Futter hat ihnen langsam das kleine Gehirn zerfressen.

Zugegeben, ich liebe das Gekrabbel um meine Füße nicht. Was ich dagegen tue? Nichts.

• • •

die tageszeitung, Hamburg 17.10.1987
© Uwe Ruprecht