Vor 27 Jahren wurde Gustav Schneeclaus von Neonazis getötet

Als Surrealist glaube ich an den Zufall. Daran, dass Zusammentreffen nicht willkürlich sind, sondern Sinn machen. Buxtehude gilt vielerorts allein des Namens wegen als märchenhafte Lokalität, und tatsächlich ist es eine Stadt traumhafter Widersprüche.

Gestern machte der Lokalanzeiger mit Historie auf, und auch der NDR verbreitete die Botschaft, dass die im Stadtarchiv vorhandenen Akten von Hexenprozessen restauriert werden, damit sie endlich ausgewertet werden können. (→ Hexenbrand in Buxtehude) Zur Geschichte der Hexenverfolgung in der Hansestadt gehört inzwischen längst, wie mit der Erinnerung damit umgegangen wird: Wie die Beschäftigung mit einer fernen Epoche von Unrecht und Grausamkeit die Nicht-Befassung mit einer näher liegenden kompensiert. (→ Verbrechen und Gedächtnis)

Gestern jährte sich ein Verbrechen in Buxtehude, dessen von der angesehenen Bürgerschaft nur ungern gedacht wird. Kein Zufall, dass der Tod von Gustav Schneeclaus durch Hände, Füße und »gefährliche Werkzeuge« von zwei Skinheads, wie Neonazis damals genannt wurden, heute aktueller ist als je seither. (→ Das Nest in der Nordheide, → Die Braunen Banditen von Buxtehude)

Wer sich nicht ohnehin dieses Datums erinnert, wird von den offiziellen Bewahrern des Gedächtnisses nicht daran gemahnt. Nicht anzunehmen auch, dass sie Zusammenhänge erkennen zwischen den Verbrechen: dem, dessen sie gern gedenken, und dem, an das sie nicht erinnert werden möchten.

Dass hunderttausendfach Frauen als Hexen ermordet werden konnten, fiel nicht vom Himmel und war nur möglich, weil Hunderttausende mitmachten. Dito im Dritten Reich, allerdings mit Millionen. Am 18. März 1992 wurde manifest, wie virulent der Wahn war. Es bedarf keiner sonderlich offenen Sinne, um aktueller Korrespondenzen inne zu werden.

Der namenlose Attentäter von Christchurch bezieht sich auf dem Titelblatt des Pamphlets, in dem er seiner Bluttat Gründe zu geben versucht, auf dieselbe Tradition wie ein namentlich bekannter Neonazi, der sich bei den Aufmärschen in Chemnitz im Sommer 2018 hervor getan hat. Das Symbol im Zentrum der australischen Hetzschrift trägt der deutsche Neonazi im Gesicht.

Obwohl sie eindeutiger als das Hakenkreuz für das »nie genannte und nie zu nennende Ruhmesblatt« der SS, die Shoah, steht, ist die Schwarze Sonne, ein Kreis aus zwölf Sigrunen, nicht verboten. Abgesehen von einem Bodenfries in der Wewelsburg bei Padernborn, die sich Heinrich Himmler als »Mittelpunkt der Welt« wünsche, gab es keine Abbildungen, das Signet wurde nicht auf Plakaten oder Fahnen gezeigt. Die Schwarze Sonne war ein okkultes Emblem in doppeltem Sinn: eine Geisterbeschwörung, die sich an Eingeweihte aus der Führung des Mörder-Ordens richtete. Deshalb stand sie nicht auf der von den Alliierten erstellten Verbotsliste, die bis heute maßgeblich für die Strafverfolgung von Kennzeichen ist.

Seit 20 Jahren rollt das Runenrad durch das Web, und ihre Popularität hat längst eine Dimension erreicht, dass es nicht nur vergeblich wäre, sie zu verschweigen wie den Namen des Attentäters von Christchurch. Dass ein Massenmord in ihrem Zeichen geschieht ist kein Zufall – wie wenig derjenige, der sie irgendwohin malt, von ihrem Ursprung weiß und die Bedeutungen kennt, mit denen sie aufgeladen werden sollte.

Der Neonazi, dessen Tattoo ich 2005 auf dem Pferdemarkt in Stade fotografierte, wusste so wenig von dem Zeichen, dass ich mich hütete, ihn auf Gedanken zu bringen, indem ich Hintergründe erläuterte. Ich kann nicht wisen, inwieweit er sich der Beziehung der Schwarzen Sonne zum Massenmord bewusst war oder diese gesucht hatte. Dass er außerdem Keltenkreuz und »Wikinger« auf dem Unterarm trug, kann bedeuten, dass er »nur« einem Krieger-Mythos anhing, der Gewalt gegen Feinde und Frauen ein- und Tötung nicht ausschließt, diese aber nicht als Mord verstanden wissen will. ­­Insoweit hat der Massenmörder von Christchurch keinen Interpretationsspielraum gelassen bei seiner Verwendung von Himmlers Abzeichen.

Der Krieger-Mythos wurde nach 1945 der Waffen-SS zugeschrieben, was dadurch erleichtert wurde, dass sie in den Urteilen des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals nicht ausdrücklich als verbrecherische Organisation benannt wurde. Eine böse SS wurde erfunden und mit den Wachmannschaften der Konzentrationslager assoziiert, während die Waffen-SS vermeintlich nur Krieg geführt habe wie auch die Wehrmacht. Auf diese Tradition der Verharmlosung baute die politische Klasse, nachdem sie 2000 einem ehemaligen NPD- und späteren CDU-Abgeordneten aus Apensen ein Bundesverdienstkreuz verliehen hatte und seine Waffen-SS-Zeit Skandal machte. (→ Sanners Schelmenroman) Einige seiner Unterstützer sind bis heute in Amt und Würden.

Es gäbe allerhand zu erinnern, das an den Tod von Gustav Schneeclaus anschließt, von dem bloß ein Bruchteil in dem gespeichert ist, was als kollektives Gedächtnis gelten kann. Gestern hat in Buxtehude ein Gedenken stattgefunden, das die Brücke ins Heute schlägt, von dem ich zur Stunde lediglich aus einem facebook-Post der Grünen Jugend erfahren habe. In dem Teil des Gedächnisses, auf das die Stadtoberen Einfluss haben, bei google News, wurde auf Hexenverfolgung umgeschaltet.

Siehe inzwischen: → sj-die-falken-niederelbe