Heinrich Himmlers Flucht in den Tod vom 20. April bis 23. Mai 1945 von Berlin über Flensburg nach Lüneburg

Graphic Essay

240.000 Zeichen Text (120 S. Taschenbuchformat) mit 860 Bildern auf 170 Blatt DIN/A 5. Im Anhang: Zeittafel, Kurzbiografien der Gehilfen und Personen der letzten Tage, Anmerkungen und Quellennachweise.

HIMMELREICH HIRN (Zeichnung: urian)

Er verfolgt mich. Nicht als Jude. Das ist so eine Täuschung. Als hätte er nur Juden umgebracht. Er versuchte, jeden zu vernichten, der ihm nicht passte. Mich verfolgt er als Asozialen. Als Fremd- und Sonderling. Dem Deutschland nicht heilig ist. Sein Geist verfolgt mich. Ich bin sein Erbe. »Ahnenerbe« hat er selbst es genannt. Sein Blut ist in mir.

Er lebt im Hass auf alle, die für anders erklärt werden, als man sich selbst den Anschein gibt. Er steht aus dem Grab auf, wenn Sauberkeit und Ordnung vergöttert werden. Wenn Eigennutz als Dienst am Gemeinwohl maskiert wird. Er ist mit denen, die wissen, was das Beste für andere ist und sie zu ihrem Glück zwingen.

Er spricht aus jenen, die sich als Deutsche für die Besten halten. Er souffliert bei Reden über Ehre, Treue und Anstand. Den Beschwörungen von Historikern, Politikern und Feuilletonisten zum Trotz ist sein Geist nie ausgetrieben worden. Viele, die ihm huldigen, wissen nicht einmal, dass sie es tun.

»Unter uns leben Tausende von Himmlers.« (Erich Fromm)

Er begegnete mir an seinem Ende in meiner Nachbarschaft und hält mich seither gefangen. Ihn zu beschreiben ist Selbsterkenntnis mit der Option auf Befreiung.

Unterwegs

Zerlumpt, dreckig und durstig stolperten sie durch das Unterholz. Dornengestrüpp peitschte die Gesichter. Von Westen wehte ständig ein gemeiner Wind über das flache Land. Die Sonne brütete heiß, wenn sie durch das Wolkengewölbe drang. Doch nachts war es kalt im Freien, und sie wussten die Mäntel zu schätzen, die sie tagsüber verfluchten. Die Stiefel, in denen sie sonst stolz und sicher ausgeschritten waren, hingen wie Blei an ihren Beinen. Unter wunden Füßen wurde der Boden zu Morast, in den sie Schritt für Schritt tiefer versanken, obwohl sie sich so leicht wie möglich gemacht hatten. In ihren Rucksäcken nur das Nötigste. Alles entbehrlich außer Essen und Trinken. Sie mussten nichts mehr außer Gehen und Schlafen. Angst im Nacken, Verfolger auf den Fersen. Todesgefahr begleitete sie bei jedem Schritt, der ihr letzter sein könnte. Im Untergang achteten sie auf nichts als den nächsten Tritt. Eine Streife des Feindes würde sie vielleicht einfach niederschießen. Unwichtig, was das Gewissen ihnen sagte und welche Schuld sie sich selbst eingestanden. Die Gnade, auf die sie hoffen konnten, hatten sie selbst kein Mal gewährt, wenn ein Feind in ihre Hand gefallen war. Ihre Aussichten verengten sich darauf, ein gewaltsames Ende zu vermeiden.

On the road

Sie jagten ihn. Einmal hatten sie seine Spur aufgenommen. Aber als sie den Hof in Dithmarschen stürmten, war er seit Tagen fort. Schließlich verfing er sich doch in ihrem Netz. Tauchte plötzlich in einem Lager diesseits der Elbe auf.

Lüneburg 23. Mai 1945. Storm Rice raste nicht gleich los, als er hörte: »There is a man who called himself Himmler«. War er echt, konnte er nicht mehr weglaufen. Zweieinhalb Stunden vergingen, bis sich der Geheimdienstoffizier auf den Weg machte. 35 Minuten Fahrt vom Intelligence Headquarter bis Camp Kolkhagen.

Major Rice hatte ein Foto dabei und eine Karte mit Körpermerkmalen. »In erster Linie prüfte ich seine Ohrenform: sie entsprach dem Foto voll und ganz.« Dann fragte er den Gefangenen über das ab, was der Geheimdienst vom echten Himmler wusste.

»Parteinummer?«

»Serie 14 000, laut Kartei 14 303. Meine Nummer bei der Schutzstaffel ist 169 oder so.«

»168 laut meiner Kartei.«

»Geboren wurde ich am 7. Oktober 1900 in München.«

»Meine Kartei sagt 7. November 1900.«

»Zeigen Sie mir mal das Foto. Das stammt aus der Vorkriegszeit. Seit dem 1. September 1939 habe ich keine schwarze Uniform mehr getragen. Hier der goldene Adler mit dem Hakenkreuz in den Fängen, das Eichenlaub, der Totenkopf. Von Uniformen verstehe ich etwas, das ist eine Wissenschaft für sich. Mit der Hauptabteilung Auszeichnungen und Orden in meinem Persönlichen Stab hatte ich viele schöne Stunden. Den Totenkopfring kennen Sie, nicht? Mit den Gravierungen darauf hat es eine eigene Bewandtnis, hören Sie zu.«*

Nach einer Viertelstunde war Rice überzeugt, dass er keinen Doppelgänger vor sich hatte, sondern den früheren Chef von SS und Polizei, Reichskommissar für die Festigung Deutschen Volkstums und Innenminister des Dritten Reichs.

Rice erstattete seinem Vorgesetzten Meldung. 40 Minuten bis der Colonel eintraf. Im Bericht, den er am nächsten Tag ablieferte, rechtfertigte Rice sich: »Ich glaubte nicht, dass ein Verhör zu meinen Dienstobliegenheiten gehöre.« Er sei nur zwecks Identifizierung mit dem Gefangenen ins Gespräch gekommen. »Es war nicht nötig, Himmler zum Sprechen zu zwingen.«

HIMMELREICH HIRN (Zeichnung: urian)HIMMELREICH HIRN (Zeichnung: urian)

»Die Alliierten seien in einem schweren Irrtum befangen, wenn sie glaubten, dass er, Himmler, blutrünstig und in Deutschland unpopulär gewesen sei. Im Gegenteil, man habe ihn auf seinen jüngsten Wanderungen wiederholt erkannt, aber nicht verraten. Die Bauern seien voll und ganz für das Regime.«

»In diesem Augenblick, ungefähr um 21.45 Uhr« traf der Vorgesetzte von Major Rice ein, um den Gefangenen zu seiner letzten Autofahrt abzuholen. Der Leiter des Geheimdienstes, Colonel Murphy, nahm das rohe Ei selbst in die Hand. Seinen Kopf hielt er hin, seit Rice die Identität des Häftlings bestätigt hatte.

Der Colonel am Steuer; neben ihm Rice und Major Osborn; hinten hatte sein Assistent Bernard Stapleton ein Auge auf den Gefangenen. Murphy lenkte äußerst vorsichtig. Panzer hatten die Straßen ruiniert – ein Schlagloch, und der Passagier könnte einen tödlichen Unfall erleiden, weil seine Zähne aufeinander schlugen.

Über die Fahrt brachte Stapleton ein »rather humourous incident« in Umlauf. Als Murphy an einer Abzweigung nicht weiter wusste, wandte er sich an seinen Assistenten im Fond. Antwort erhielt er vom Gefangenen, der bestätigte, auf dem richtigen Weg zu sein: »You are on the road to Lüneburg!«

Die Sicherheit seiner Auskunft verwunderte die Beifahrer nicht; dass er in seiner Lage die Straßenkreuzung erkannte. Sie fuhren mit dem Höllenfürsten durch die Landschaft des Todes. Er kannte sich aus, of course.

Die Legende vom Ende

Diese Geschichte habe ich gesucht und nicht gefunden, bis sie mir zugefallen ist. Geschichten aus der Geschichte der Region waren mein Metier. Nie hat sich etwas zugetragen, das über die Nachbarschaft ausstrahlte, dachte ich, hielt das Feld für abgegrast und lag fast richtig.

»Teufel in Menschengestalt, ein Monstrum, als Mensch verkleidet«, rief ihm ein Zeitgenosse nach. In den Medien ist er »der wohl grausamste Massenmörder der Weltgeschichte« und für Historiker »die prägende Kraft dessen, was den nationalsozialistischen Staat mit seinen Verbrechen aus der modernen Geschichte heraushebt«. Eine Figur wie aus dem Schauerroman, in dem ich erstmals vom Ende des Jahrtausendverbrechers vor meiner Haustür las.

Über Adolf Hitlers Untergang war ich wie alle Welt bestens im Bild. Wie der Führer und Heiland als Tattergreis an den Fäden seiner Hampelmänner zieht, bis er sich den Gnadenschuss gibt, ist ein beliebtes Abziehbild der Epoche. Vom Finale des mächtigsten Vasallen wusste ich nichts.

Mir war nichts entgangen. Nicht nur die Regionalchroniken sparen die Geschehnisse aus. Auch nichts in den Annalen der Kriminalität. »Das ist bestimmt genau erforscht.« Weit gefehlt. Nichts in der Literatur zum Nationalsozialismus. Himmlers Ende ist ein Rätsel, Geheimnis, Irrlauf, Mysterium.

Zwei Kilometer von der Kirche in Heeslingen, an der mich der Bus abgesetzt hat, bis zum weltgeschichtlichen Schauplatz. Ich störe die Fahrzeuglenker auf der Landstraße, die im letzten Moment ausweichen.

Auf dem niederdeutschen Land ist wie auf dem Meer der Horizont stets in Sicht. Ausnahmsweise bietet der Hügel hinter Heeslingen einen Überblick auf den Fluss Oste und die Brücke mit der Chaussee nach Zeven. Hoch oben die Bauernhöfe von Meinstedt.

Eine halbe Stunde lang wurde große Geschichte geschrieben. Kein Gedenkstein, aber ein Gedankenstrich wäre zu setzen, ein virtueller Gedenkstein mit einer Inschrift wie »Zugriff der irdischen Gerechtigkeit« oder »Schlussstrich unter die Shoah«. Eine Mahnung an den Moment, ab dem der Meister der Massenmörder keine Liquidierungsbefehle mehr erteilen konnte.

Ich bin nicht hier, um mit eigenen Füßen auratischen Boden zu berühren. In Büchern habe ich vergeblich nachgeschlagen, was es mit dem »britischen Kontrollpunkt« auf sich hat, von dem in den Dokumenten zu lesen ist, die den Standort als Meinstadt, Mainstedt, Moinstadt, Majnstedt, Mejstedt und wahrhaftig Lückenstadt verzeichnen.

Der Zugriff fand »500 Meter vom Dorf entfernt« oder am »Dorfrand« statt, bei einer Landstraße und einem »Gebüsch«, beziehungsweise an »Straße, Gebüsch und Wald«.

Von Norden her war Meinstedt Dead End. Ringsum war das Gebiet dichter besiedelt und fest in Feindeshand. Unterhalb des Hügels verlief eine Hauptstraße der Besatzungsarmee, die Stützpunkte und Internierungslager mit dem Headquarter in Lüneburg verband.

Eine Geschichte überschreibt die andere. Für ein halbes Jahrhundert etablierte sich der Militärverkehr auf der Strecke. Die NATO richtete sich in der norddeutschen Tiefebene für den Fall ein, dass in der DDR stationierte sowjetische Panzer über die Zonengrenze anrollen würden. Als Wehrpflichtiger pendelte ich an den freien Wochenenden mit dem Rad zwischen der Kaserne in Rotenburg/Wümme, die den Namen eines Nazis trug, und dem Elternhaus. So vertraut mir die Durchfahrt von Heeslingen war, hatte ich von der Weltminute von Meinstedt nie gehört, bis ich 20 Jahre später einen britischen Horror-Roman las.

Vielleicht war ich nicht der erste, der auf dieser Spur durch den Ort streifte, aber sonderbarerweise der erste, der darüber schrieb.

Geht das noch wen an? Bevor der Bus mich fortbringt, kaufe ich die Lokalzeitung. Aufmacher sind die Dreharbeiten der British Broadcasting Company über das Lager in Westertimke für Kriegsgefangene aus 48 Nationen. 8000 wurden nach schwerem Gefecht am 27. April 1945 befreit. »Im Mittelpunkt des Filmbeitrags steht eine Begegnung zwischen einem ehemaligen britischen Kriegsgefangenen und einem seiner Wächter.« Für sie ist das Vergangene gegenwärtig und wird dank BBC überdauern. Nichts im Artikel zur Weiterverwendung des Lagers für deutsche POWs (Prisoners of War) und also nichts über den namhaftesten Insassen am Tag nach seiner Festnahme.

»Am 23. Mai wurde er in der Nähe von Fallingbostel bei Lüneburg von den Briten verhaftet und beging, nachdem er sich zu erkennen gegeben hatte, bei der Leibesvisitation mit der Zyankalikapsel Selbstmord.«

Alles klar – bis darauf, dass Bad Fallingbostel nur auf einer großen Karte bei Lüneburg liegt. Und bis zum nächsten Stolpersatz: »Heinrich Himmler, der nach dem 9. Mai unter falschem Namen in der Uniform eines Feldwebels unterzutauchen versuchte, hatte sich am 21. Mai nach seiner Festnahme durch die britische Armee mit Zyankali vergiftet.«

Wann wurde er also verhaftet? Am selbem Tag, als er starb? »Am Rande des Dorfes Barnstedt zwischen Bremervörde und Hamburg tauchte an diesem 22. Mai eine kleine Gruppe abgerissener Gestalten auf.«

Es geschah weder in Barnstedt noch bei Fallingbostel und an einem anderen Tag. Man geht über dünnes Eis. Ein Autor folgt dem anderen, der knapp und kategorisch vorangeschritten ist. Ein Satz genügt, um in eine Falle aus Irrtümern, gezielter Desinformation oder Fabulierlust zu tappen. Kein Historiker vertut sich beim Ende von Hitler oder Joseph Goebbels, bei Himmler kommt das ständig vor.

Er habe »in seiner Gefängniszelle in Lüneburg eine Kapsel Zyankali« geschluckt. Eine Zelle bezog er nicht mehr; er kam zur Vernehmung in das Hauptquartier des Geheimdienstes und hat das Gefängnis in der Straße Vor dem Bardowicker Tore, in dem high-ranking German prisoners einsaßen, nie betreten. Von wegen, er soll in einem »Lager« gestorben sein, für deren Einrichtung er selbst berüchtigt war und bei dem man an Blut, Kot und Leichen denkt.

Nach dem Einmarsch am 18. April schlugen die Briten ihre Zelte an einer noblen Adresse auf. Als Kasino für die Offiziere wurde das Kurhaus requiriert; sie wohnten im Hotel Heiderose. Der Garten von Himmlers Todeshaus grenzte an den Kurpark, der als Exerzierplatz genutzt wurde. Der Menschenfresser kam im Frühstücks- und Aufenthaltsraum einer Pension ums Leben.

Die Einstimmigkeit über die »capsule cyanide« täuscht. Zwar gab es unter den von der SS hergestellten und an die Führungskader des Regimes verteilten Giftbehältnissen Kapseln aus violettem Kunststoff und Wachspulverkapseln für den hohlen Zahn eines Spions. Der Ausweg, den Himmler und seine Entourage sechs Wochen lang griffbereit hielten, befand sich in fünf Zentimeter langen Ampullen aus Glas, die in mit Filz ausgelegten Messingpatronen steckten.

Das Englische differenziert nicht, und der deutsche Sprachgebrauch verwischt die chemischen Feinheiten: das Gift war nicht Zyankali sondern Blausäure. Den Unterschied macht das Tempo der Wirkung: die Todesqual.

Obwohl Historiker seinen Mangel an »Privatleben« feststellen, entlassen sie ihn am Ende aus unerklärten Gründen zu einem unbestimmten Zeitpunkt in den Status eines Privatiers. Letzter persönlicher Auftritt als Gast bei der Feier zum Führergeburtstag am 20. April. Einmal noch wirft er am 28. April einen Schatten in den Bunker unter der Reichskanzlei, in dem Meldungen über seine Fühlungnahme mit den Feinden eingehen.

Er zog er sich nicht zurück oder irrte einsam umher. Floh nicht in den Schoß der Familie oder mit Freunden. Er war noch zwei Wochen nach seinem Abschied von Hitler im Amt und fuhr fort, als Verbrecher in den gewohnten Maßstäben von tausenden Menschenleben zu handeln, als Gewaltherrscher, Mörder und Geiselnehmer, Erpresser und Betrüger. Und er ging mit Gefolgschaft in die Gefangenschaft.

Kommt es darauf an, wo er verhaftet wurde und wie er starb? Das Internet ist voll von Antworten, die Kolporteure, geschichtsrevisionistische Verschwörer und Neonazis anhand oder trotz der Tatsachen geben, die sie besser kennen als andere.

»Himmler was a good guy! one of the most kindest, warmest and most heroic characters in our white aryan history. just like Jesus he was sentenced to death. was loved by the whole white world.« (User-Profil von Weissmacht auf America Online)

Den Part des Pilatus spielt der Chef des Militärgeheimdienstes, Colonel Michael Murphy. Nach deutschem Recht blenden die Suchmaschinen als extremistisch, ausländerfeindlich oder antisemitisch eingestufte Sites aus. Die angebliche Ermordung »in der Lüneburger Folterzelle des britischen Oberst Murphy« findet sich auch im frei zugänglichen Sektor.

Wer den Verehrern widersprechen wollte, steht dumm da. Außerhalb des Webs spekulieren englischsprachige Bücher über Himmlers geheimnisvolles Untertauchen: Und wenn er nicht gestorben ist, war die Leiche in Lüneburg ein Doppelgänger. Der Verfasser des einzigen deutschsprachigen Buchs ist als »einer der verbohrtesten und intellektuell herausgefordertsten Holocaust-Leugner« bekannt.

Himmler auf der Flucht (Zeichnung: urian)

Der Verschluss der britischen Akten bis 2045 trägt zur Mystifikation bei. Wortführer der Mordverschwörer ist der von einem Gericht in Wien als Geschichtsfälscher, Antisemit und Rassist verurteilte David Irving. Als die Mordtheorie durch ein gefälschtes Schriftstück aus dem Londoner Nationalarchiv in ein ansonsten unverdächtiges Buch und bis in die deutschen Medien gelangte, sagte er dem Zentralorgan der deutschen Neonazis, nun werde es »für Realhistoriker schwieriger, die wirklichen Umstände von Himmlers Tod zu klären, denn an Mord wird kaum mehr jemand glauben wollen«, und dies sei vielleicht die Absicht der »Hintermänner«.

Geschichte ist nicht, was war, sondern was erzählt wird. Je kümmerlicher die Kenntnisse, desto üppiger wuchern traumhaft entstellte Versionen der Ereignisse. Himmlers Ende war ein gespenstischer Irrlauf, der ihn von einem ihm fremden Ort zum anderen brachte.

Gemunkelt wird von seinem Durchzug zwischen Mecklenburg und Lübeck, in Brunsbüttel und Delve, Eckernförde, Flensburg, Friedrichskoog und Hüholz, in Kiel, Kollerup, Marne, Nordermeldorf, Rendsburg und Schleswig sowie in einem Dutzend Gemeinden auf der anderen Seite der Elbe. Die Mythen äußern sich seltener in Schriften als durch Sagen. Unbeachtet und ungestört von der Wissenschaft ist eine Art Volksüberlieferung entstanden, ein Gespinst aus Fantasien vom Spuk des Schwarzen Mannes.

Kindergeschichten wie vom Führer der Hitler-Jugend von Heeslingen, der ihn in einem Flugzeug landen sah. Oder die Mär von den Männern »in neuen braunen Uniformen«, die in Anderlingen den Großvater zwingen wollten, sie in seinem Automobil zu fahren. Opa machte aus »seiner negativen Einstellung zu den Nazis keinen Hehl«, und nach einem »mächtigen Streit« zogen die Fremden wieder ab. Zu ihnen habe ein Mann mit Augenklappe gehört, von dem »noch heute angenommen« wird, wer es war.

Heinrich Dankers teilte die Beobachtungen, die er als Neunjähriger rund um eine schwarze Scheune an der Waldstraße in Bremervörde machte, 30 Jahre nachher einem britischen Autor mit – vielmehr seinem Dolmetscher, an dessen Seriosität Zweifel angebracht sind. Gedruckt und wiederholt abgeschrieben haben diese »Erinnerungen« den Anschein von Wahrheit erlangt.

HIMMELREICH HIRN (Zeichnung: urian)

Er war im Kraftwagen oder per Schiff unterwegs und hat allerhand verloren, verschenkt oder zurückgelassen. Reiche Auswahl für Devotionalienhändler. Ganz zu schweigen von dem Motorradbeiwagen, der als metallenes Behältnis für Papiere vergraben worden sein soll. Erstrangige Reliquien sind seine Augenklappe, zwei Totenmasken, ein Hautlappen der Achselhöhle mit Sigrunen-Tattoo und sein Gehirn. Weiter: ein Koffer mit Leselupe und Schirmmütze; Pistole Marke Walther; Uhr mit Gravur; Zigarettenetui; seidene Hemden, Socken und Handschuhe.

Der Anfang vom Ende

»Sonderzug läuft. Heinrich, Ende!« Angestrengt beobachtete Josef Kiermaier die Umgebung. Wo noch ein Stein auf dem anderen stand, drohte dieser zu stürzen. Flammen loderten aus Ruinen, in der Luft hing ein Nebel aus Asche. Es stank nach Abfall, Kot und Leichen.

Die 45 Männer des Reichssicherheitsdienstes, die Kiermaier kommandierte, konnten der Staffel nicht mehr viel Schutz bieten. Bisher hatten sie Anschläge abwehren sollen, die ausgeblieben waren. An Stelle der absehbaren und unwahrscheinlichen traten unbekannte Risiken, die immer wahrscheinlicher wurden und gegen die Himmlers Leibgarde machtlos war: einstürzende Häuser, Beschuss aus der Luft oder Granateneinschläge.

Freitag, 20. April 1945. Den fünften Tag ging die Rote Armee gegen die Reichshauptstadt vor. Der Wind trug unregelmäßiges Hämmern heran: aus dem Spreewald feuerte feindliche Artillerie. Sirenen schrieen Panzer aus, die noch nicht da waren. Die Strecke, auf der die Kolonne des RFSS zuletzt vor einem Monat die Reichskanzlei erreicht hatte, war unbefahrbar.

Berlin verbrannte. Schicht um Schicht schälte die Feuersbrunst das Gesicht der Stadt und schnitt dem Tod Gesichter bis auf den blanken Knochen.

»Kein Durchkommen!« Franz Lucas, langgedienter Chauffeur des Chefs, hoffte, dass Willy Suchanek weiter wusste. Der Verbindungsoffizier zur Ordnungspolizei, der im vordersten Fahrzeug saß, war wie Lucas Einheimischer. Ihnen sollten Ausweichrouten einfallen für Straßen, aus denen Sackgassen vor geborstenen Gebäuden wurden.

Kiermaier spähte hinaus, ohne etwas zu erkennen. Der Bayer kannte das Regierungsviertel und den Flughafen Tempelhof, immer geradeaus über die Göring-Straße. Selten waren sie in der Dahlemer Villa. Wie in München, wo er eine Wohnung hatte, logierte der Chef bevorzugt im Hotel. Er war immer auf Achse.

Für 17 Uhr war eine Ordensverleihung anberaumt. Falls das Fahrtziel noch existierte. Wie die Stadt zum Labyrinth aus Ruinen war das Umland unwegsam geworden. Auf den Chausseen stauten sich zurückweichende Truppen und die Trecks von Flüchtlingen aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern.

Die Tour war ein Wagnis. Außerdem drängten Termine, warteten Abgesandte. Kiermaier war auf eine rasche Rückfahrt eingestellt. Das Zeremoniell zum Führergeburtstag und ein Konklave, dann in eines der drei aktuellen Quartiere.

Die Feldkommandostelle, der mobile Machtapparat des RFSS, war an überstürzte Aufbrüche gewohnt. Sie war unablässig auf der Rolle und wechselte oft täglich den Standort. Das bevorzugte Hauptquartier war selbst beweglich, rollendes Büro und Wohnung in einem. Ein Dutzend Wagen auf Schienen, im Funkverkehr »Steiermark« genannt. Bei der Heeresgruppe Weichsel war er Anfang 1945 für ebenso untauglich befunden worden wie Himmler als militärischer Befehlshaber.

Himmlers Zug Steiermark (Zeichnung: urian)

»Der Zug war ungewöhnlich scharf bewacht«, fiel einem Wehrmachtsoffizier zuerst auf. Kiermaier ließ nichts anbrennen. »Den Bedürfnissen Himmlers […] genügte dieser Sonderzug, der über eine kleine Funkstelle und eine Fernsprecheinrichtung verfügte, völlig. Aber für den Stab einer Heeresgruppe fehlte […] jede technische Arbeitsmöglichkeit.«

Vor den Bomben auf Berlin war die SS-Bürokratie nach »Birkenwald« bei Prenzlau geflohen. Ohne Schienen blieb »Steiermark« in Wustrau stecken. Der Persönliche Stab RFSS bezog das Schloss Ziethen.

»Steiermark« fuhr am 21. April nach Süden ab. Himmler wollte ihn in Berchtesgaden oder Bayrisch Zell wieder besteigen. An Bord waren Willy Suchanek und Hans Bender, der Oberste SS- und Polizeirichter, sowie Major Vollmar, Adjutant des Ersatzheeres. Von den Befehlen, mit denen Himmler sie versah, wird nie zu hören sein. Der Zug blieb in Pilsen liegen.

Noch war Himmler nicht auf der Flucht. Er hatte mehr Untergebene denn je. Eine Million SS-Angehörige und das »vermutlich größte Polizeiheer der Geschichte«, dazu zwei Millionen im Heimat-Ersatzheer und sechs Millionen im Volkssturm, dem allerletzten Aufgebot aus 16- bis 60-Jährigen, die in die verlorene Schlacht getrieben wurden.

Noch begleiteten ihn 600 Leute, das Gros Bürokraten, ein Drittel unter Waffen, in einer Fahrzeugkolonne mit Geschützen. Die einzige persönliche Streitmacht, über die einer der Reichsgrößen verfügte. Mit ihr war Himmler im Inneren abgedeckt. Sein Faustpfand gegenüber dem Ausland waren die Insassen der Lager in den noch unbesetzten Gebieten.

Die Wehrmacht war weit verstreut; im Reich wie in Berlin war Hitler auf Himmlers Truppen angewiesen. Die Verteidigung der Hauptstadt wurde dem Volkssturm übertragen; die einzigen erfahrenen 4000 Soldaten und die Leibgarde des Führers stellte die SS.

Seine letzte verzweifelte Offensive in den Ardennen im Dezember 1944 übertrug Hitler der Waffen-SS, weil er ihrem Todesmut mehr traute als dem der Wehrmacht. Dass der angeschlagene Drache sich wehrte, lag an den SS-Männern und ihren Motiven, sich nicht zu ergeben.

Das Begleitbataillon folgte als tatenloser Tross dem Großmeister. Für den gab es weiter Verpflichtungen, die er sich aufzuladen suchte. Je mehr sein Terminkalender ausdünnte, desto hektischer wurde er. Kam kaum zum Schlafen. Dringende diplomatische Missionen standen an; es musste noch Weltgeschichte geschrieben werden. Letzte Staatsverbrechen waren zu begehen, in die mehrere Länder und Regierungen verstrickt wurden. Noch unterhielt er den Nachrichtendienst unter Leitung von Otto Ohlendorf.

Himmler unterwegs (Zeichnung: urian)

Noch verfügte er über die »Seeschwalbe«, ein viermotoriges Flugzeug. Kiermaier schlug vor, einen Abschiedsbesuch bei ihren Familien in München und Gmund zu machen. Kommt nicht in Frage, entschied Himmler und beschwor Pflicht, Ehre und Vaterland; »in so schweren Zeiten darf niemand seinen persönlichen Wünschen folgen«.

Stattdessen flog Gottlob Berger zur »Alpenfestung« am Obersalzberg, wohin sich das Reichssicherheitshauptamt unter Ernst Kaltenbrunner abgesetzt hatte. Als Chef des SS-Hauptamts, Generalinspekteur für das Kriegsgefangenenwesen und Stabsführer des Volkssturms war Berger Himmlers Nummer Zwei. Kurz vor Toresschluss hatte er versichert: »So lange ich aber lebe, werde ich ihr getreuer Gefolgsmann sein, auf den Sie sich verlassen können, ganz gleichgültig, was Sie befehlen.«

Berger hielt nicht Wort und blieb nur treu, solange sein Meister lebte. Dann fand er an allen Aufträgen etwas auszusetzen, die er bis zuletzt ausgeführt hatte.

Die »Seeschwalbe« landete unweit der Scheune, in der Himmler eine Kiste vergraben hatte. Pistolen, Handgranaten und Scheine im Wert von einer Million US-Dollar und diverse andere Devisen.

Er trug immer für alles Vorsorge. Erledigte kleinste Aufgaben in seinem Amt selbst oder gab sich den Anschein, alles zur Kenntnis zu nehmen. Hatte Karteien für alles und jedes, für germanische Kultstätten und für die Toten der Lager. Er hob die Notizen auf, die er in der Schule über seine Klassenkameraden machte. »Man kann ja nie wissen.« Die Berchtesgadener Kiste enthielt auch palästinensische Pfund.

Wird ausnahmsweise ein Verbrechen seiner Endphase zur Sprache gebracht oder nachgefilmt, kommt Himmler als Akteur gar nicht oder am Rande vor und von seinen Gehilfen allenfalls der für die unmittelbare Begehung verantwortliche Sturmbann- oder Hauptsturmführer. Auf die Motive wird nicht näher eingegangen als in Phrasen über Gehorsam und Rassenwahn. Die Täter erscheinen als die entmündigten Befehlsempfänger, die sie selbst aus sich machten. Der Befehlshaber, auf den sie sich unausgesprochen berufen, bleibt im Dunkeln.

Nachdem Himmlers Beitrag aus der Rechnung gestrichen ist, können die Beziehungen zwischen Tat und Motiv ganz im Sinne seiner Gehilfen gedeutet werden. Zieht man ihre Beweggründe bei der Beurteilung ab, steht mancher als lobenswert da.

Einem Gewährsmann für die letzten Tage und Hauptstrippenzieher der vergessenen Verbrechen, Brigadeführer Walter Schellenberg, wurde nachgerufen: »Tausende verdanken ihr Leben seiner Klugheit.«

Das ihm gut geschriebene Unternehmen trieb ihn und seinen Herrn in dem Zeitraum um, den die Geschichtsbücher überspringen. In einem Film in der Dokumentations- und Gedenkstätte des Lagers Neuengamme, einem Tatort von Schellenbergs Machenschaften, wird es aus der Perspektive der Opfer als deren Errettung gezeigt. Was als Geiselhandel gedacht war mutet wie eine humanitäre Geste an. Rund 20.000 Gefangene wurden an den schwedischen Graf Folke Bernadotte überstellt und gelangten mit den Weißen Bussen des Roten Kreuzes in die Freiheit.

Mit den Geiseln, die Himmler sich abhandeln ließ, sicherte dessen Einflüsterer Schellenberg sein Fortkommen. Er rechnete Leben auf und hat das Entkommen der 20.000, das seinem Herrn wohl nicht, aber ihm nachgerühmt wird, mit dem Tod von Häftlingen erkauft, die nie gezählt wurden. Himmler und Schellenberg vernichteten bis zuletzt Tausende Leben, um das eigene zu retten.

On the road

»You are on the road to Lüneburg!« Für die Briten war ausgemacht, dass Himmler wie daheim war, wo sie seine größte Schandtat verorteten. Auf seine Art kannte er die Gegend allerdings besser als sonst ein Landsmann und fühlte sich ihr auf das Innigste verbunden.

Er beschloss sein Leben in seinem Urland, im Zentrum seiner geistigen Landkarte, wohin er die Brutstätte des Germanentums verlegte, den Ursprung des Ariertums. Niederdeutschland war in seinen Augen das urtümliche Deutschland. Wo für die Briten seine Verbrechen zum Himmel schrieen, wirkte für Himmler »eine unendlich weise Hoheit über uns: Waralda, das Uralte.«

Hier hatte er nach spirituellen Wurzeln in heiliger Erde, nach Zeichen aus der Zeit graben lassen; hier setzte er Denkmäler, zu denen gläubige Nachfahren pilgern.

Als die Nomaden sesshaft wurden, entstand mit der Landwirtschaft eine neue Weltanschauung. Das Totenhaus war dauerhafter als die Hütte zu Lebzeiten. Die Ruinen des 5600 Jahre alten Ahnenkults stehen noch. In der Region seines Untergangs fällt Himmlers Schatten zweifach auf eine beliebige Touristenkarte. Als einzige Sehenswürdigkeiten werden drei Dutzend Findlingsformationen ausgewiesen.

Ihre Hochachtung verdankt sich der Speerspitze der SS in Wissenschaft und Kultur, dem »Ahnenerbe« – wie die »Pyramiden der Unterelbe belegen, die auf keiner Karte verzeichnet sind. Der Übername stammt von denen, die verhinderten, dass sie um 1900 für den Straßenbau zertrümmert wurden. Erst 1936 geriet der Buchenhain mit den »Hünenbetten« wieder in den Focus durch einen vom Zeitgeist inspirierten Heimatkundler. In den 1980ern wurden die Wegweiser abmontiert, weil sie immerzu mit Hakenkreuzen versehen wurden. Die Verehrung der Steinsetzungen wird beschwiegen und ist so tief verdunkelt, dass sich nicht einmal im Internet Spuren finden, wofür sie herhalten, in Himmlers und anderer, in Dreiteufels Namen. Denen, die sich dort aufhalten, ist es Recht, Touristen fernzuhalten.

Anders in Verden an der Aller. 4500 Findlinge säumen einen zwei Kilometer langen Parcours um eine Bachsenke. Ein gigantisches Ahnengrab, glaubt der Reisende. So bewarb die »Pferdestadt« den »Sachsenhain« als Hauptattraktion neben Dom und Storchenstation. Erst nach der Jahrtausendwende vermerkten die »Tipps für den Gast«: »errichtet 1935«.

Sachsenhain Verden/Aller (Zeichnung: urian)

Seit 2004 weist eine Tafel am Wegesrand die Urheberschaft aus. Wer sie übersieht im Nebel, der von der »Blutbeeke« aufsteigt, bleibt unaufgeklärt. Verewigt wird eine Legende, die Hermann Löns in »Die rote Beeke« ausmalte: wie Karl der Große anno 782 aufständische Sachsen hinrichten ließ. 4500, 450, 17 oder vielleicht keinen; es könnte nur das Knie gebeugt statt der Kopf abgeschlagen worden sein. Löns verdichtete die nationalistischen Deutungen der Volkskunde: Karl als Franke und Franzose gegen Widukind als Germane und Deutscher, Christentum gegen Heidentum. Das Stadtmarketing deklarierte das Arrangement um die »Blutwiese« als »Mahnmal« für die Opfer des »Sachsenschlächters« – wie Himmler Karl den Großen nannte. Der »Sachsenhain« ist ein Produkt des »Ahnenerbe«. Mit diesem Steckenpferd und Stab pflanzte Himmler Lehren ein, die bis heute sprießen.

»Angenommen er lebt«: »er« wurde nicht 1935 beschworen und nicht von der »Artgemeinschaft«, die sich am »Stillen Freitag« vor Ostern, dem erfundenen Datum der Exekution, auf dem »Heidenfriedhof« zum Ahnengedenken versammelt. »Er« entstand bei einer Umwidmungsaktion der evangelischen Kirche, die in den für eine Schulungsstätte der SS vorgesehenen Gebäuden einen Jugend-Hof unterhält. Himmlers Hinterlassenschaften heißen bei ihr »Hinkelsteine«.

Die Deutschen lieben den Wald ebenso wie die die Stätte seiner Zerstörung, wo nach rücksichtslosen Rodungen nichts außer Heidekraut wächst. Die Einheimischen weihten die Lueneburg Heath spätestens 1910 dem Tod, als »Der Wehrwolf« von Hermann Löns ihr Kultbuch wurde. Bald darauf bewiesen sie, wie ernst sie das Sinnbild nahmen; der Verfasser fiel auf dem »Feld der Ehre«.

Den französischen Ministerpräsident schauderte es: »Diese Leute lieben den Tod. […] Der Deutsche begegnet ihm, wie wenn er seine liebste Freundin wäre.« Eigentlich sind die Deutschen ruhig auf ihre Scholle versessen. Wehe aber, man legt sich mit ihnen an. Bei Löns lernen plündernde Landsknechte des Dreißigjährigen Krieges die Eingeborenen kennen und wie Bauer Wulf zur Bestie werden kann, wenn seine Gelassenheit in wilde Wut umschlägt.

Mit dem Blutrausch, dem er sich im Ersten Weltkrieg hingab, wurde der Deutsche ab 1939 noch stärker identifiziert. Der »ordinary man«, der sich unter dem Vollmond verwandelt und um sich beißt, der »Werewolf«, den britische Landser aus dem Kino kannten, sprach mit deutschem Akzent. Der »Werwolf« sollte den »Endkampf« als Guerilla fortsetzen.

Himmler mochte an Löns gedacht haben, als er in Murphys Auto am Gebiet des heutigen »Naturpark Nordheide« vorbeifuhr, an Hermannsburg, Munster und Winsen/Luhe. Seine Bewacher assoziierten mit der Landschaft ein Lager. Ihr Passagier war für sie die längste Zeit der »Gestapo Chief« gewesen, ein Terrorist im Inland.

Erst seit der Befreiung von Bergen-Belsen bei Celle am 15. April verbanden sie ihn mit dem Äußersten, wozu der Mensch als Wolf fähig war. Die Besatzungssoldaten erlebten das metaphorische Mondland der Heide als realen Höllenpfuhl. In Oświęcim hatte die Rote Armee am 27. Januar ein geräumtes Lager befreit. Gaskammern und Krematorien waren gesprengt worden, die sachlichen Beweismittel für die Verbrechen waren indirekt – wie rund acht Tonnen Haar von 140.000 Frauen. Zunächst war Bergen-Belsen das Synonym für die Gräuel des Nationalsozialismus, bis es von Auschwitz überlagert wurde.

Unter der Regie der Wehrmacht waren tausende Sowjetsoldaten umgekommen, bevor die SS das Lager übernahm. Sie sperrte zunächst »privilegierte« Juden ein, die gegen im Ausland inhaftierte Deutsche eingetauscht werden sollten; später kamen »Arbeitsunfähige« aus anderen Lagern hinzu. Zwei Jahre lang schacherte Himmler mit Häftlingen.

Ein Tausch von »1200 Juden gegen harte Devisen« aus Theresienstadt kam Hitler zu Ohren. Er hatte den Freikauf Einzelner gestattet, nicht den von Massen. Himmler empfing einen Anschiss – und machte weiter, operierte in größeren Dimensionen und feilschte um Zehntausende. Er verknüpfte den Häftlingsschacher enger mit den Friedensfühlern, die er zu den Westalliierten ausstreckte. Statt »Blut für Ware« bot er Geiseln gegen politische Zugeständnisse, gegen sein Überleben an.

Als könne er die Gewichte verschieben auf der Waage des »Karma, das für ihn nicht ein unerbittliches Schicksal ist, sondern mit dem er fertig werden und es wenden kann«, wie er seinem Masseur und Intimus Felix Kersten erklärte, den er als Vermittler einsetzte. Himmler gehorchte Hitler und ließ die Lager räumen und zerstören – bis auf den Turm in seinem diplomatischen Schach, bis auf Bergen-Belsen.

Womit seine britischen Bewacher ihn verbanden, berührte ihn nicht. »Was kann ich für die Exzesse meiner Untergebenen?« Der Kommandant von Camp Kolkhagen hatte ihm Fotos vorgehalten, während sie auf das Eintreffen von Major Rice warteten.

Auschwitz, wo möglichst sauber und ordentlich eliminiert wurde, inspizierte Himmler mehrfach; Bergen-Belsen, wo die Eingepferchten in Blut und Kot verreckten, betrat er nie. Erst mit einem Monat Verzögerung und über Umwege erfuhr er im März vom Ausbruch einer Typhusepidemie, der täglich Hunderte zum Opfer fielen. Er reagierte mit frommen Wünschen und Weisungen. »Wir können in Deutschland keine Seuchen aufkommen lassen. Die Gefangenen stehen unter meinem besonderen Schutz.«

Abgeschottet gegen die Auswirkungen seiner Anordnungen unterlag er einem grausigen Irrtum, als er meinte, die Übergabe des Lagers würde seinen Kredit bei den Alliierten erhöhen. Er handelte noch mit den Gefangenen, nachdem sie krepiert waren.

Sechs Tage nach der Befreiung von Bergen-Belsen, rühmte er sich, er habe es »verabredungsgemäß übergeben lassen, ebenso wie Buchenwald«. Er beklagte den Undank der Feinde: In Bergen-Belsen sei ein Wachposten gefesselt und mit gerade gestorbenen Häftlingen fotografiert worden! Und das Bild ging um die Welt! Genauso in Buchenwald!

Nach der Entlassung von 2700 jüdischen Männern, Frauen und Kindern in die Schweiz im März, schrieb er für Kersten, der daran mitgewirkt hatte, eine Art Bescheinigung: »Es ist dies praktisch die Fortsetzung des Weges gewesen, den meine Mitarbeiter und ich lange Jahre hindurch konsequent verfolgten, bis der Krieg und die mit ihm einsetzende Unvernunft in der Welt seine Durchführung unmöglich machten.« Zwischen 1936 und 1940 habe er sich »zusammen mit jüdischen amerikanischen Vereinigungen« um eine Auswanderungslösung bemüht, was sich »sehr segensreich« ausgewirkt habe. »Ich habe die Überzeugung, dass unter Ausschaltung von Demagogie und Äußerlichkeiten über alle Gegensätze hinweg und ungeachtet blutigster Wunden auf allen Seiten Weisheit und Logik ebenso sehr zur Herrschaft kommen müssen wie gleichzeitig damit das menschliche Herz und das Wollen zum Helfen.«

Verhaftungen vornehmen zu können war die Basis von Himmlers Macht, Menschenhandel eines seiner Hauptgeschäfte. Es weitete sich aus, je enger sich der Strick um seinen Hals legte. Zentrum des Häftlingsschachers war das »Aufenthaltslager« in Bergen-Belsen. Dessen Zustand bei der Befreiung – zwischen tausenden verwesender Leichen 50.000 lebende Leichname, von denen noch 14.000 starben – war kein Nebenprodukt des staatlichen Kollaps oder das Werk der »Bestie von Belsen«, des Lagerleiters Josef Kramer, sondern das Erzeugnis der »Klugheit« Walter Schellenbergs, der mit Freilassungen um seinen Kopf pokerte. Indem die »Verhandlungsmasse« verschoben wurde, per Bahn oder zu Fuß, heim ins Reich und nach Norddeutschland, von wo sie weiter verladen werden sollte, sorgte Schellenberg für die Überfüllung von Lagern, für Seuchen, Hunger und Massensterben.

Der Anfang vom Ende

Neue Operationen waren angelaufen, die Zeit drängte. Kiermaier würde Lucas Gas geben lassen bei der Rückfahrt. Kiermaier war ein stummer Zeuge der Machenschaften. An den Unterredungen war er nicht beteiligt, hatte aber immer mit ihnen zu tun. Sollte es sehr geheim zugehen, ließ sich außer ihm keiner blicken, der nicht dabei sein musste. Er war eingeweiht in vieles, das nicht mit ihm erörtert wurde. Erklärt wurde ihm nur, was ihn anging. Er wurde instruiert, wohin der Chef fuhr; was er dort wollte, musste ihn nicht kümmern.

Kiermaier schnappte Satzfetzen auf, sah Gesten und Bewegungen, merkte aber nur auf, wenn Gefahr im Verzug sein könnte. Sein Blickwinkel ähnelt dem des Nachfahren, der dem Weg von SS-1 zu folgen und sich aus den verstreuten Bruchstücken der Überlieferung ein Bild zu machen versucht: sieht huschende Schatten und hört Stimmen stammeln.

Der Leibwächter folgte Himmler viereinhalb Jahre auf Schritt und Tritt. Fotos zeigen ihn halb verdeckt, eine Armlänge entfernt und argwöhnisch. Der Mann im Schlagschatten des Schwarzen Mannes, der in Geschichtsbüchern nicht vorkommt.

»Wer bereit ist, Gewalt und Mord als normale Instrumente der Politik zu gebrauchen, wird nie von der Furcht freikommen, das andere dieselben Instrumente auch gegen ihn wenden können.« (Norbert Elias)

Kiermaier war drei Jahre älter als sein Schützling, vor 47 Jahren in Erding außerehelich geboren. »Ein bisschen dick geben wir es in unserem klerikalen Oberbayern mit den unehelichen Kindern: wir haben einen höheren Prozentsatz als das übrige Mitteleuropa. Vital sind wir, da fehlt sich nichts. Auch die Zahl der Roheitsverbrechen ist nach der letzten Statistik südlich der Donau immer noch höher als irgendwo sonst im Reich. Wir können uns sehen lassen mit unserer Kriminalität: das sind Ziffern, die sich gewaschen haben.« So Lion Feuchtwanger 1930. Die Bibliothek, die er nicht ins Exil mitnehmen konnte, eignete Himmler sich an.

Himmlers Okkultismus (Zeichnung: urian)

Himmler hing der römisch-katholischen Kirche bis ins Mannesalter an. An die Macht gelangt bekriegte er das Christentum als Konkurrenz und unterwies seine Gefolgschaft im Neugermanischen Heidentum. Mit zwei unehelichen Kindern wahrte er die Tradition. Auch Kiermaiers Tochter wurde geboren, bevor er ihre Mutter heiratete. Himmler propagierte die »Doppelehe«. Kinder zu zeugen war für ihn Ahnenverehrung in vollendeter Logik: »Ein Volk, das die Ahnen wahrt, wird immer Kinder haben; kinderlos sind nur die Völker, die keine Ahnen haben.«

Geburtenpolitik stand hoch oben auf seiner weltanschaulichen Agenda. Etwa der gern als Zuchtanstalt missverstandene »Lebensborn«. Ihm widmete er einen seiner letzten bekannten 15 Sätze, die Major Rice in Camp Kolkhagen protokollierte: »er habe persönlich viele Häuser für Mütter mit unehelichen Kindern eingerichtet.«

An drei Jahre in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs erinnerte den Sattler Kiermaier die Narbe eines Durchschusses am rechten Arm. Im wirtschaftlichen Zusammenbruch nach Niederlage und Revolution hatten die wenigsten Arbeit nach Wahl. Zur Not kam die Neigung, die Kiermaier zur Polizei umsatteln ließen. Als »Märzgefallene« verachteten die »Alten Kämpfer« solche wie ihn, die erst nach der Machtübergabe 1933 auf den NS-Zug sprangen. Der Spott erinnerte an die aufständischen Arbeiter und Bürger, die der König 1848 in Berlin hatte niederkartätschen lassen. Millionen hängten ihr Fähnchen in den aufbrausenden Wind wie Kiermaier, der zunächst in München die Ordnung hütete, dann in Gmund, wo Ehefrau und Tochter seines späteren Herrn wohnten.

Beim Eintritt in die SS war Kiermaier etwas schneller als andere. Er wurde aufgenommen vier Monate, bevor Himmler 1936 als Chef der Deutschen Polizei den bald 40-jährigen Kriminalinspektor ohnehin in sein »Staatsschutzkorps« eingegliedert hätte. Er gehörte der Propagandakompanie einer nach Kurt Eggers benannten Standarte an. Der Schriftsteller und Rundfunkleiter widmete sich im Rasse- und Siedlungshauptamt der Gestaltung von Ritualen. Was Kiermaier bis dahin nicht von der Nationalreligion gewusst hatte, erfuhr er in der Einheit und praktizierte es.

In seinem zweiten Weltkrieg räumte Kiermaier zunächst in der Etappe auf, als Kommissar der Geheimen Feldpolizei, der Gestapo in der Wehrmacht. Er war nicht wie ein Feldjäger auf Deserteure angesetzt, sondern spionierte die Stimmung der Soldaten aus und erstickte »Zersetzung« im Keim.

War er in Gmund Himmler auf Heimatbesuch begegnet? Oder empfahl ihn Josef Tiefenbacher für den Persönlichen Stab RFSS? Seit ihrer gemeinsamen Zeit in München verballhornte der Kommandeur der Feldkommandostelle den anderen Josef als »Mierkeier Seppi«.

Ein einziges Mal ist Kiermaier schriftlich porträtiert worden. Für den Astrologen Wilhelm Wulff war er der »großköpfige Holzbauerntyp«, ein »elementarer Mensch, dem groben, brutalen Menschentyp angehörend, sein eckiger Oberkopf erzählte von seiner rücksichtslosen Entschlossenheit und dem Fanatismus seiner Ausdrucksmöglichkeiten«.

Dem Hamburger Wulff missfiel besonders seine »Seppl-Art«, die »noch durch einen urviechartigen und erzbayerischen Dialekt unterstrichen« wurde; »ein gänzlich unpolitischer Polizeikopf, fanatisch mit Himmler verbunden«.

Als »intimer Freund und treuer Wächter« seines Meisters »keuchte« der »Wachhund« mit dem »Katzenkiefer« bei Konferenzen vor der Tür. Bei aller Antipathie erkannte der Zeuge an: »Verborgen erschienen Eigenschaften von Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft und eine ehrliche treue Soldatenseele, die sich für Himmler totschlagen lassen würde.«

Kiermaier war getreu bis zum Ende. Wulff begegnete Herr und Gescherr zuletzt am 29. April 1945. Sie blieben noch einen Monat beisammen – bis Himmler den Freund und Wächter auf eine Erkundung schickte, weil er sicher war, dass Kiermaier zurückkehren würde und ihn nicht im Stich ließe, falls er könnte.

Zum Geburtstagsempfang kam SS-1 aus einem bewährten Rückzugsort, der Klinik in Hohenlychen. Die Stabsstelle des Reichssicherheitschefs befand sich stets in der Nähe Hitlers, der seit Kriegsbeginn seltener in der Hauptstadt war. Er schlug sein Lager im Berghof über Berchtesgaden auf oder in wechselnden Feldquartieren, die längste Zeit in der »Wolfsschanze« bei Rastenburg in Ostpreußen; Himmlers Bastion »Hochwald« war eine halbe Autostunde entfernt.

Zum Schlussakt kehrte Hitler nach Berlin zurück. So hochgerüstet und betoniert die »Wolfsschanze« war, hätte sie einem Ansturm der Roten Armee nicht lange widerstanden. Nun musste sich der Feind durch die ganze Stadt zu ihm durchkämpfen. Statt der Kiefernwälder um das Feldquartier nahm er Berlin und seine Bewohner mit in den Abgrund. Ganz Deutschland hatte er nicht zur verbrannten Erde machen können; in der Hauptstadt kam er am weitesten damit. Sobald er in der Reichskanzlei eingetroffen war, wurden so viele Bomben abgeworfen wie nie. Nach Treffern auf den Amtssitz verkroch Hitler sich am 3. Februar in den baufrischen Bunker unter der Erde.

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Als Himmlers Erben zwischen 1991 und 1993 durchschnittlich vier Mal am Tag in Ost wie West zuschlugen, Männer und Frauen, Junge und Alte, Deutsche wie Ausländer überfielen und drei auf einmal in Mölln und vier in Solingen töteten, vermerkte Bodo Morshäuser, wodurch Erörterungen bis heute behindert und Verdrängungen in Gang gesetzt werden: »Nur wenige verstehen hier unter politischer Kultur, deutsche Vergangenheit als persönliche, sich selbst als jemanden aus deutscher Vergangenheit anzunehmen.«

Zu der Zeit betrieb ich Ahnenforschung. An einem der Wochenenden, an denen ich meinen 60-jährigen Vater über seine Kindheit befragte, begleitete Gebrüll die Krawalle um die Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende im »Sonnenblumenhaus« in Rostock-Lichtenhagen: »Wir sind das Volk!«

Beim Umwälzen von Familiendokumenten stieß ich auf ein Büchlein. Seite eins: »Dieses Buch gehört« und mein Name in der Handschrift meines Vaters. »Zum Geleit: Es gab eine Zeit, liebes Kind, in der jeder einzelne ohne Glauben an Deutschland nur seinem Erfolg nachjagte. […] In diesem hoffnungslosen Elend stand ein Mann auf, der den Glauben an die Kraft des deutschen Blutes wie eine Fackel vor sich hertrug. […] Unsere herzlichen Wünsche begleiten Dich in eine arbeitsfrohe Zukunft im Dienste unseres geliebten Vaterlandes. Heil Hitler.« Darunter ein Stempel der Spar- und Darlehenskasse Harsefeld und zwei Unterschriften. Bei meiner Geburt war das Dritte Reich angeblich seit 13 Jahren Geschichte.

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Anmerkungen

* Die Anführungszeichen wegzulassen wäre korrekt, aber so irritierend wie der Asterix. Diese Passage enthält, was Rice in indirekter Rede notierte, ergänzt durch den Ansatz eines Sermons, den Himmler (= HH) daran angeschlossen haben könnte und, wie ich das Protokoll verstehe, auch getan hat. Kurz gesagt: er hat geschwätzt. Die Quelle (B. Chavkin / A. M. Kalganov [Hg.], Die letzten Tage von HH, Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 4/2000) ist im Web überprüfbar, aber bei diesem Sujet kann es nicht schaden, die kleinsten künstlerischen Freiheiten zu markieren, um leichtfertiger Weiterverwendung und Verdächtigungen vorzubeugen. Bei den Zeichnungen ist die Freiheit meiner Handhabung offenkundig, so dass der Hinweis angebracht scheint, dass ich mich wo immer möglich um eigene Anschauung bemüht und an authentische Vorlagen gehalten habe. Wo immer möglich: von Josef Kiermaier etwa kenne ich ein Dutzend Aufnahmen, Fotos wie Filme; mein Bildnis von Major Rice ist notgedrungen fiktiv. Ich habe ihm Züge verliehen wie sie mir typisch erschienen, nachdem ich zahllose Bilder britischer Besatzungssoldaten gesehen hatte, und mich am Gesicht eines anderen an HHs Ende beteiligten Offiziers orientiert.
● Die amtliche Erfassung des Wetters wurde am 2.5.45 eingestellt. Verfügbare Daten zeigen Temperaturen bis 30 Grad im Wechsel mit kühlen Tagen. Sicher ist, dass HH und seine letzten beiden Begleiter Mäntel trugen; die Quellen differieren bei Art und Farbe.
Camp Kolkhagen: Das CIC 031 (Civil Internment Camp oder Civilian Interrogation Camp) wird auch verortet im nicht existenten Barfeld (P. Padfield, Himmler. Reichsführer-SS, London 1990, 609), in Westertimke (J. J. Heydecker / J. Leeb, Der Nürnberger Prozess, Frankfurt/M. o. J. [1958], 57) oder Kolkhagen bei Nienburg (R. Klöfkorn in Bremervörder Zeitung 11.5.85/20.5.95). In »Kolkhagen near Barnstedt« lag das Lager bei einem, der dort Dienst tat (P. Witte / S. Tyas, Himmler’s Diary 1945, o. O. 2014, 214). W. G. Ramsey (After the Battle 17/1977), der mit Veteranen vor Ort war, lokalisiert es »on the western side of the village of Barnstedt«. U. Schneider, Niedersachsen 1945/46, Hannover 1984, 32, nennt als Internierungslager in Niedersachsen neben Westertimke bei Zeven und Oerbke bei Fallingbostel »Kolkhagen bei Lüneburg«. Dem Archäologen und Autor D. Alsdorf verdanke ich eine Karte mit dem Eintrag »Lager Kolkhagen« nordwestlich von Barnstedt bei Neukolkhagen.
Schauerroman: J. Herbert, Blutwaffe [The spear], München 1990. Die Übersetzung der drei Seiten des Prologs sind bis heute die umfangreichste deutschsprachige Darstellung der Sterbeszene, die nicht von einem Verschwörer stammt. Sie basiert vermutlich auf W. G. Ramsey in After the Battle 14/1976, 17/1977; die Originalausgabe des Romans erschien 1978.
● In regionalen Veröffentlichungen ist Bremervörde der Ort der Festnahme: Stader Tageblatt 22.5.85; R. Klöfkorn in Bremervörder Zeitung 11.5.85/20.5.95; H. Lamschus / C. Lamschus [Hg.], Lüneburg ‘45, Salzmuseum Lüneburg 1995; B. Hillmann / V. Kluge / E. Kramer, Lw. 2/XI – Muna Lübberstedt, Bremen 1996, 157. Meinstedt wird genannt im Report of interrogations of W. Grothmann 16.6.45: Records of the Army Staff, Record Group 319, Entry 134B (Himmler, XE 00 06 32) in National Archives and Record Administration, Washington D. C.; B. Chavkin / A. M. Kalganov (Hg.), Die letzten Tage von HH, Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 4/2000, 269 f., 273; G. Reitlinger, Die SS, München-Wien-Basel 1956, 436; Heydecker / Leeb, Der Nürnberger Prozess, Frankfurt/M. o. J., 56; H. C. Pless in Lüneburger Landeszeitung 3./4.10.64 u. Lüneburg 45, 4. Aufl. Lüneburg 1982, 136; U. R. in Hamburger Abendblatt 22.9.99 u. Tod im Erkerzimmer, Stader Jahrbuch 2001/2002, 316 f. Als Historiker die Verhaftung noch in Bremervörde ansiedelten, wussten Okkultisten es bereits besser: »Meinstedt bei Bremervörde« (L. Pauwels/J. Bergier, Aufbruch ins dritte Jahrtausend, Bern 1967, 627). Die Dokumentation von P. Witte / S. Tyas, Himmler’s Diary 1945, o. O. 2014, weist den Schauplatz der Verhaftung richtig aus (211, 224), aber in der Einleitung (14) heißt es, die Flüchtlinge seien vom Elbufer zu Fuß »forty miles south to Bremervörde« marschiert und wurden »arrested by two Russians soldiers attached to a British security control unit in the town«. Zwischen dem »town« Bremervörde und dem »village« Meinstedt liegen 12 Meilen Luftlinie. Als einziger regionaler Autor gibt Pless Meinstedt an, war aber nie dort, wie er mir im Aug. 1999 mitteilte.
● Am Forschungsstand zum Kriegsende in der Region hat sich nichts geändert, seit ich meine Recherche aufnahm. Zu der Untersuchung des Journalisten H. Schwarzwälder (Bremen und Nordwestdeutschland am Kriegsende 1945, Bremen 1974) und der apologetischen Sammlung des Bundeswehroffiziers U. Saft (Krieg in der Heimat, 2. Aufl. Walsrode 1988) sind ungeprüfte Wiedergaben der Aussagen von Zeitzeugen hinzugekommen. In den Augen der damaligen Kinder waren es die Besatzer, die Gewehre hatten und Gewalt ausübten. Eine Kindergeschichte zum Zerrbild der Deutschen als Opfer wurde in Buxtehude amtlich und schlug um in Verehrung für jene, die zum Endkampf rüsteten; vgl. U. R. in blick nach rechts 20/03, Neues Deutschland 22.1.04, Ossietzky 8/04 (→ Mission Friedensplatz)
Stolpersätze: K. Himmler, Die Brüder Himmler, Frankfurt/M. 2005, 264; G. R. Ueberschär / R.-D. Müller: 1945 –Das Ende des Krieges, Darmstadt 2005, 114; G. Knopp, Hitlers Helfer, 4. Aufl. München 1996, 202.
Zelle: I. Kershaw, Hitler 1936–1945, 2. Aufl. Stuttgart 2000, 1075; richtiger ist, dass er »in der Untersuchungshaft eine Giftkapsel schluckte« (I. Kershaw, Das Ende, München 2011, 491). — Lager: Hamburger Abendblatt 18.1.02; W. Benz, Geschichte des Dritten Reiches, München 2003, 223: »beging er in einem britischen Kriegsgefangenenlager bei Lüneburg am 23. Mai Selbstmord«. — Blausäure-Ampullen: A. Joachimsthaler, Hitlers Ende, München/Berlin 1993, 255 ff.; E. G. Schenck, Patient Hitler, Düsseldorf 1989, 444 f. — Weitere Stolpersätze: »Himmler starb am 23. Mai 1945 in englischer Gefangenschaft durch Selbstmord.« (K. Hüser, Wewelsburg 1933–1945, 2. überarb. Aufl. Paderborn 1987, 273) Zur Armee des Vereinigten Königreichs gehörten auch Schotten, Waliser und Nordiren. — »Nach seiner vorläufigen Festnahme durch die englische Armee bei Bremervörde am 20. Mai wurde Himmler nach Lüneburg verbracht.« (H. Piening, Westküste 1945, Heide 2000, 105) Die Verhaftung fand am 21. Mai statt, nach Lüneburg kam er am 23. Mai. — »Eine sowjetische Patrouille setzte die drei Männer fest, übergab sie jedoch wenig später an die Briten. Die Sowjets hatten ihren Fang nicht erkannt, und Himmler war es sicher lieber, in die Obhut eines ›germanischen Brudervolks‹ zu geraten.« (G. Knopp, Die SS, München 2002, 135) Sowjets und Briten agierten gemeinsam und erkannten beide nicht, wen sie ergriffen. Die Übergabe HHs an die Briten erfolgte nicht »jedoch«, sondern war das vorgesehene Verfahren; siehe S. 161. — »Himmler, der von britischen Soldaten in der Uniform eines Feldwebels der deutschen Wehrmacht nahe Lüneburg aufgegriffen wird, begeht nach seiner Identifizierung Selbstmord.« (23.5.45 in K. W. Tofahrn, Chronologie des Dritten Reiches, Darmstadt 2003, 121). Das lässt sich missverstehen, als hätten Verhaftung und Tod am selben Tag stattgefunden; »nahe Lüneburg« bezieht sich auf eine große Karte und bedeutet nicht »in der realen Nachbarschaft«; der Zusammenhang zwischen Identifizierung und Suizid ist nicht so eng wie der Satz suggeriert: HHs Identität wurde erst nach seiner Selbstenttarnung überprüft; er trug keine Feldwebel-Uniform, sondern Uniformteile und Zivilkleidung. — »An einer britischen Kontrollstelle zwischen Hamburg und Bremerförde [!] angehalten, gab er sich zu erkennen und beging kurz darauf mit Hilfe einer Zyankali-Ampulle, die er in der Mundhöhle verborgen hatte, Selbstmord.« (H. Glaser, 1945, Frankfurt/M. 2005, 47) HH entlarvte sich nicht kurz nach der Festnahme, sondern am zweiten Tag in Haft. — »An einer Brücke bei Bremervörde wurde er am 23. Mai von einem britischen Kontrollposten festgenommen.« (T. Sommer, 1945, Reinbek 2005, 80). Weder Ort noch Tag stimmen. Die Brücke von Bremervörde wird allerdings in vielen Büchern genannt und war um 2000 noch die vorwiegende Angabe im Internet. — »Ende Mai stellt er sich« wird der Inhalt einer TV-Dokumentation wiedergegeben (H. Heer, »Hitler war’s«, Berlin 2005, 162). Der Film (Buchfassung G. Knopp, Hitlers Helfer, 4. Aufl. München 1996) zeigt jedoch richtig, dass er seine Flucht keineswegs freiwillig beendete. — Dass sich »Hitler, Himmler und Goebbels der Gefangennahme durch Suizid entzogen« (A. Weinke, Die Nürnberger Prozesse, München 2006, 27) trifft für HH nicht zu, der in der Haft umkam. — »Die britische 2. Armee zog weiter nach Osten in Richtung Hamburg und schließlich nach Schleswig-Holstein (wo Himmler gestellt wurde) und Lübeck.« (N. Davies, Die große Katastrophe, München 2009, 214). Die Festnahme fand im heutigen Niedersachsen statt.
Folterzelle: dullophob.com/Kalendertage/2013-05/13-05-23%20Himmler.html. Neonazistische Websites werden zwar von google.de nicht angezeigt, dadurch aber keineswegs ihre Inhalte unterdrückt. Es genügt, die Begriffe zu vermeiden, die von den Robots gefiltert werden, um die in Deutschland geltenden »Rechtsgründe« zu umgehen. Inzwischen kann der User nicht mehr google.com zum Vergleich heranziehen, um zu erkunden, woher ein legitim angebotener Inhalt ursprünglich stammt. — Doppelgänger: H. Thomas, SS-1, 2001, bzw. The Strange Death of HH, 2002; D. Isherwood, Himmler’s Double, 2004. Für die meisten Täuschungen, die den Briten von Mord-Verschwörern unterstellt werden, bestand 1945 kein Grund. Niemand außer SS-Leuten hätte sie anklagen wollen: »Ihr habt ihn umgebracht!« — Bei meiner ersten Suche im sich entwickelnden deutschsprachigen Web fand ich 1999 nur eine Handvoll Einträge zu HHs Ende, in denen es knapp hieß: »he committed suicide«; allerdings auch eine »Flucht in Frauenkleidern«. Heute lassen sich die von Mordtheoretikern erstellten Sites nicht mehr zählen. Die verlässlichste zur Flucht ist deathcamps.org/reinhard/Himmlercap_de.html. Sie wird von Revisionisten in ihre Sammlungen übernommen, um Seriosität vorzutäuschen. Eine der dort genannten Quellen, Das Grab im Wald, ist ein toter Link. Mit mehr Mühe, als ein User gemeinhin aufbringt, lässt sich herausfinden, dass sich es sich um eine Publikation des Informationsdienst gegen Rechtsextremismus von 2004 handelt. Die Betreiberin war eine der von Neonazis am heftigsten geschmähten und bedrohten Personen; sie ging offline, um sich in Sicherheit zu bringen. Ein gleichnamiger Text von 2005 ist unter archive.is/MjYWW abgelegt. Unklar, ob er von der durch die Redaktion des IDGR durchgesehenen Fassung abweicht; offenbar handelt es sich um eine Kopie ohne die ursprünglichen Illustrationen aus einem längst abgeschalteten Online-Archiv. Mit Anmerkungen versehen mutet der Text wissenschaftlich an; online sind die meisten Quellen nicht verfügbar oder recherchierbar. Wer für die neuere Fassung verantwortlich war, ist nicht ohne Weiteres zu ermitteln. Der Autor ist laut wikipedia eine reale Person. Zufällig weiß ich genau, dass er zu deathcamps.org Literaturstellen und Fotos von Personen und Dokumenten beigetragen hat. Das Archiv, das für die Kopie von 2005 angezapft wurde, hat er als Webmaster der Ursprungssite in HTML selbst geschrieben. Selbst erstellt hat er auch den Eintrag auf wikipedia; für einige Angaben steht dort nur sein Wort. Das Grab im Wald ist eine aktualisierte und gekürzte Bearbeitung von U. R., Tod im Erkerzimmer, Stader Jahrbuch 2001/2002. — Holocaust-Leugner: A. Kolthoff (redok.de) über J. Bellinger, Autor von Himmlers Tod (2005), dessen Aufsatz in den Vierteljahresheften für freie Geschichtsforschung (2000) die am weitesten verbreitete einschlägige Internet-Publikation ist.
Fälschung in M. Allen, Himmler’s Secret War, London 2005; vgl. Telegraph 2.7.05; Die Welt 5.7.05. — D. Irving in Deutsche National-Zeitung 29/05.
● Zu meiner Sammlung von Sagen haben verschiedene Gewährsleute beigetragen von denen ich hier nur zwei ohne Rücksprache nennen kann: Helmut C. Pless†, ehem. Chefredakteur Landeszeitung Lüneburg, und Joachim H. Slawig†, Stade. — Anderlingen: Bremervörder Zeitung 24.8.02. — Waldstraße: W. G. Ramsey in After the Battle 14/1976, 29. Übersetzer und Location-Scout J. H. kam als britischer Besatzungssoldat nach Niederdeutschland und heiratete ein; er handelte mit Militaria und stand weiteren Forschern zur Seite. P. Witte / S. Tyas: Himmler’s Diary 1945, o. O. 2014, 210, schreiben die Episode fälschlich »historian Marlies [recte Marlis] G. Steinert« zu, in deren Buch HHs Flucht nicht vorkommt; in der Fußnote wird korrekt Ramsey genannt. Auf einem Foto bei Ramsey zeigt Zeuge Dankers nach links – laut Bildunterschrift der Weg, den HH nahm, um die Brücke über die Oste zu erreichen; dorthin geht es rechts lang. Auf dem Bild zu sehen ist auch die Leiterin des Bremervörder Heimatmuseums, Elfriede Bachmann, die auf meine Nachfrage im Aug. 1999 nicht für die Wahrheit der Geschichte eintrat. — Einige Devotionalien sind wahrscheinlich Fälschungen, denen auf Verschwörer-Websites Beglaubigungen ausgestellt werden, um ihren Marktwert zu erhöhen; manche Objekte existieren womöglich nur als Abbildungen. Brille bzw. Kneifer sollen von mehreren britischen Soldaten an sich genommen worden sein. Zum Verbleib der Pistole sind mir drei Varianten zugetragen worden. Die Augenklappe im Frihedsmuseet in Kopenhagen (natmus.dk) soll durch den »chief of Danish intelligence to thank his service« dorthin gelangt sein (P. Padfield: Himmler, London 1990, 612). Die Leselupe, die ein gewisser Carl May dem Bremervörder Museum übergab (W. G. Ramsey in After the Battle 14/1976, 31; R. Klöfkorn in Bremervörder Zeitung 11.5.85/20.5.95), hielt dessen Leiterin nicht für authentisch. May habe ihrem Vater, dem Museumsgründer, allerhand angeboten, das dieser ihm aus Gefälligkeit abnahm, erklärte sie mir. Zum Beiwagen, von dem ich glaubwürdige Gerüchte gehört hatte (Stader Jahrbuch 2001/2002, 312 f.), liegt inzwischen ein Dokument vom April 1946 vor (P. Witte / S. Tyas: Himmler’s Diary 1945, o. O. 2014, 192).
You are on the road: In welcher Sprache er das Verhör führte, hat Storm Rice nicht eigens vermerkt; aller Wahrscheinlichkeit nach in der Sprache des Gefangenen. Wie gut genau HHs Englischkenntnisse waren, ist nicht überliefert. Mehr als acht Jahre her, dass er in der in seinem Herrschaftsbereich unbrauchbaren Sprache Unterricht genommen hatte. Allerdings hatte seine Zweitfrau als Fremdsprachenkorrespondentin eine Weile auf der britischen Insel gelebt; mit ihr hätte HH auch sein Französisch aus Jugendtagen üben können. Sein Spanisch reichte ihm beim Treffen 1940 in Madrid mit Militärdiktator Franco und dessen Polizeichef; die Gehilfen schickte er in den Prado und zum Stierkampf (Report of interrogations of W. Grothmann). Mit italienischen Polizisten war er eng genug befreundet, um ihnen seine Familie zur Flucht anzuvertrauen. Mit 19 hatte er Russisch gelernt.
Kiermaier heißt bei H. Fraenkel / R. Manvell, Himmler. Kleinbürger und Massenmörder, Berlin-Frankfurt/M.-Wien 1965, die ihn als Informanten nennen, »Kiermayer« u. »Kiermeier«, bei W. T. H. Wulff, Tierkreis und Hakenkreuz, Gütersloh 1968, »Kirrmaier«. Ich beziehe meine Angaben aus der Personalakte BDC SSO im Bundesarchiv Berlin. — Für die Fahrt zum Geburtstagsempfang hatte Kiermaier das große Geschirr angespannt. Autos mit dem SS-1 parken allerorten zwischen Maas und Memel, Etsch und Belt – beim Allerhöchsten aber fuhren sie in breitester Spur vor, im Maybach. Der »Nobeltyp jener Zeit« wird erwähnt vom einzigen Autor, der nicht nur einen, der stets im Chefwagen saß, befragt, sondern auf dergleichen Einzelheiten geachtet und sie vermerkt hat: J. v. Lang, Der Adjutant. Karl Wolff, Frankfurt/M.-Berlin 1989, 200. Einem Augenzeugen nach erschien HH 12 Tage später in einem »schwarzen« und »schweren« Wagen (L. Degrelle, Die verlorene Legion, Stuttgart o. J. [1952], 484); das soll ein Mercedes gewesen sein (Fraenkel / Manvell, Himmler, 222). Was für Historiker und in meinen Text keine Rolle spielen musste, ließ sich in der Zeichnung nicht vertuschen. Ich kann nicht mit letzter Sicherheit behaupten, in welchem Fahrzeug HH wann genau unterwegs war, aber dass es sich, bis er Flensburg erreichte, um das komfortabelste handelte, das ihm zur Verfügung stand, eine schwarze Limousine.
Sonderzug wird in der Literatur unterschiedlich verstanden. Ich halte mich an E. Kinder, Der Persönliche Stab Reichsführer-SS, in H. Boberach/ H. Booms (Hg.), Aus der Arbeit des Bundesarchivs, Boppard a. Rh. 1977, 392, wonach »Steiermark« der Sonderzug auf Schienen, »Sonderzug Heinrich« der Codename der Autokolonne war. (»Zug« heißt im Militärjargon auch eine Einheit und hat nichts mit dem Fahrzeug zu tun.) W. T. H. Wulff, Tierkreis und Hakenkreuz, Gütersloh 1968, zählte 16 Wagen des Zuges; 14 sind es bei M. Flügge, Rettung ohne Retter, München 2004. Er wurde intensiver genutzt und war wohl deshalb länger als Hitlers »Amerika« mit 11 Wagen (I. Kershaw, Hitler 1989–1936, Stuttgart 1998, 674). — Wehrmachtsoffizier zit. n. P. Gosztony, (Hg.), Der Kampf um Berlin 1945 in Augenzeugenberichten, 2. Aufl. München 1985.
● 794.941 SS-Angehörige, davon 594.443 Waffen-SS nach letzter Erfassung Juni 44 (E. Kinder, Der Persönliche Stab Reichsführer-SS, 379). — Polizeiheer: F. Arnau, Das Auge des Gesetzes, München 1965, 52. — 600 ist die meistgenannte Zahl für das Begleitbataillon, etwa bei H. R. Trevor-Roper, Hitlers letzte Tage, 2. Aufl. Frankfurt/M.-Wien-Berlin 1995, 136, oder G. Williamson, Die SS, Klagenfurt 2000, 199.
Pyramiden: T. Thorborg in Buxtehuder Heimatbücher, Buxtehude 1936
Sachsenhain: A. Voß in Heimatkalender für den Landkreis Verden 1996; U. R. in Neues Deutschland 11.5.00, blick nach rechts 12/00; A. Röpke, »Wir erobern die Städte vom Land aus!«, Braunschweig 2005, 112 f.; S. Kuhlmann, Der Streit um Karl den Großen, Widukind und den »Tag von Verden«, Stade 2010. — Das Märchen vom Massaker, an das der Massenmörder mahnte, wird vielfach wiederholt, so in T. Fiedler/M. Goergen, Die Geschichte der Deutschen, Hörbuch, München 2008. In einer Abhandlung, die aus den Deutschen ein »rebellisches Volk« machen will und einen Bogen von der Erhebung der »Germanen« unter Arminius zum Fall der Berliner Mauer schlägt, heißt es zum »Blutgericht von Verden«: »Auch wenn von der neueren Forschung die Zahl von 4500 Opfern angezweifelt wird, scheint sicher, dass dieser Akt fränkischen Staatsterrors tatsächlich stattfand.« (A. Felkel, Aufstand, Bergisch Gladbach 2009, 85) Selbst »Volkskundler«, die von einer Hinrichtung ausgehen, veranschlagen erheblich weniger Tote. Die 4500 sind eine Erfindung des bei Felkel nicht genannten Löns. Alfred Rosenbergs und HHs Inszenierungen zum »Andenken an das historische Blutbad von Verden« (94) hätten Hitler an die »Nacht der langen Messer« 1934 erinnert (die anderen beiden nicht?) und seien deshalb untersagt worden. Etwa aus Scham, weil er »Aufständische«, die keine waren, hatte massakrieren lassen? Insofern die Motive der Nationalsozialisten gemeinhin kein Thema sind, ist umso bemerkenswerter, welche ihnen gelegentlich untergeschoben werden. — Ausgerechnet Wilhelm Hübotter, der den Sachsenhain entwarf, erhielt 1946 den Auftrag für eine Gedenkstätte in Bergen-Belsen und ließ sofort Zäune, Wachtürme und das Krematorium abreißen. »Statt zu erinnern, schuf er ein Idyll. ›Hier ruhen 5000 Tote‹ steht auf einem Stein neben einem Massengrab, so als seien KZ-Häftlinge nicht ermordet worden, sondern sanft entschlafen.« (T. Maron in Frankfurter Rundschau 10.7.02) — Als Beleg dafür, dass »Himmlers Versuch, mit Hilfe von heiligen Orten, besonderen Ritualen und symbolträchtigen Gaben die SS-eigene Weltanschauung zu zelebrieren […] über Ansätze nicht hinaus« gekommen sei, nennt P. Longerich, HH, München 2008, 308, als Beispiele ausgerechnet Sachsenhain, Wewelsburg und die Externsteine im Teutoburger Wald. Alle drei sind Wallfahrtsorte für Neuheiden und Neonazis. Dass die Burg inzwischen dem Andenken der im angeschlossenen Konzentrationslager Gepeinigten und Ermordeten geweiht ist, schreckt Verehrer von keiner Pilgerfahrt ab. (M. Weisfeld, Die schwarze Sonne, Radio Bremen / Deutschlandfunk 1998; aus »rechter« Sicht in Junge Freiheit 40/97; von »links« in jungle world 9.9.04) Den Kult um die 13 Externsteine als vorchristliche Weihestätte hat HH nicht erfunden, sondern einen seit Ende des 19. Jahrhunderts in völkischen Kreisen geschaffenen Nimbus aufgegriffen und verstärkt. Er wies sie als Schutzgebiet aus, um dass er sich eingehend besorgte: »Dauernd beobachtet werden müssen alle Kleinigkeiten wie Tafeln, Wegzeichen, Körbe für Papier und Abfälle, die geschmackvoll sein und unauffällig angebracht werden müssen«. Germanys Pendant zu Stonehenge zieht Mondsüchtige aus aller Welt an, Deutschgläubige wie Muttergottheitsanbeter und Gothics. (R. Sünner, Schwarze Sonne, Film 1998; ders., Schwarze Sonne, Freiburg/Br. 1999; T. Brock, Alles Mythos, Darmstadt 2014, 187 ff.) In Literatur über Kultstätten (W. F. Schoeller, Deutschland vor Ort, München-Wien 2005; H. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009) kommt diese Erbschaft nicht vor. — Die »Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft wesengemäßer Lebensgestaltung« entstand 1965 aus der Fusion der »Nordischen Glaubensgemeinschaft« von 1927 und der 1961 gegründeten Göttinger »Artgemeinschaft«. Zu ihrer Sichtweise vgl. J. Rieger, Sachsenmord und Sachsenhain, Nordische Zeitung 2001.
● G. Clemenceau zit. n. C. Graf v. Krockow, Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890–1990, Reinbek, 99. — Der Werwolf galt Historikern lange als Chimäre. »Kein Widerstand gegen die Besatzung, kein Partisanenkampf, keine ›Werwölfe‹ weit und breit«, schreibt z. B. Krockow (369). Eine Feme-Aktion vom 25.3.45 wurde bereits vier Jahre später vor dem Landgericht Aachen verhandelt. Auf persönlichen Befehl HHs hatten ein SS-Mann, zwei Hitler-Jungen und ein Deutsches Mädel den Oberbürgermeister der Stadt der Kaiserkrönungen, die von der US-Armee als erste im Stammreich eingenommen worden war, erschossen (M. H. Kater, Hitler-Jugend, Darmstadt 2005, 194; Die Welt 25.3.15). Inzwischen werden 3000 bis 5000 Opfer von Anschlägen auf »Kollaborateure« und Besatzungssoldaten gezählt (I. Kershaw, Das Ende, München 2011, 390).
● Die angeblich auf einem Schlachtfeld entdeckten Gebeine von Hermann Löns wurden mit Pomp und einer Botschaft Hitlers 1934 bestattet. Dazu schwieg eine neuere Apologie: »In den 30er Jahren überführte man seine sterblichen Überreste nach Niedersachsen.« (Dichter, Denker, Eigenbrötler, Leer 2003, 217 f.) Zu seinem 100. Geburtstag 2014 wurde Löns als »Deutschlands erster Umwelt-Aktivist« gewürdigt und seine völkisch-rassistische Vorbildfunktion in eine »Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten« umgedeutet (Neue Stader 1.10.14). Zum 150. Todestag 2016 war wiederum nicht von Vorläuferschaft, sondern »Missbrauch« die Rede.
● L. Feuchtwanger, Erfolg, 2. Aufl. Berlin 2003, 81.
● Für den Namen des Hauses in Gmund »Lindenfycht« habe ich leider keine Erklärung gefunden und die Nachforschungen eingestellt. Haben sich die Autoren, die ihn nennen, nicht gefragt, ob er etwas bedeutet, oder ebenfalls nichts finden können? Gab es für die, die etwas wussten, Gründe darüber zu schweigen? Ähnlich haben sich in Lücken, die bedeutender sind und sich schließen lassen, Legenden eingenistet.
● 1991 bis 1993 wurden 3600 »rechte« Gewaltakte gezählt. (S. Kailitz, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004, 106) — B. Morshäuser, Hauptsache Deutsch, Frankfurt/M. 1992, 13.

Literaturverzeichnis

Die Recherchen wurden mit einem Literarischen Arbeitsstipendium des Landes Niedersachsen gefördert.

Fortsetzungen auf diesem Blog

Himmlers Ende (2)
Himmlers Ende (3)
Himmlers Ende (4)

Weitere Auszüge

Himmlers Höllenfahrt
Himmlers Ende und Nachleben
Reise im inneren Reich
Himmlers Sterndeuter
Der letzte Mordbefehl
Tod im Erkerzimmer