Beziehungen von Jules Verne, Raymond Roussel und Heinrich Himmler

Mitunter werden Vergleiche kategorisch ausgeschlossen, als wären sie Gleichsetzungen. Ähnlich gern wird Verständnis als Einverständnis missverstanden. Indem ich zwei, drei oder mehr Gegenstände vergleiche, vergewissere ich mich der Übereinstimmungen wie der Unterschiede. Eine Beziehung muss bestehen, sonst käme kein Vergleich in Betracht. Das Entlegene kann mit der Mitte, das Entfernteste miteinander zusammenhängen.

Die Bücherliste

Bei meinen Meditationen über Heinrich Himmlers letzte Tage (→ HIMMELREICH HIRN) fällt ein Name in der Bücherliste auf, die der junge Student anlegte. Trotzdem ich mir einiges auf meine Belesenheit einbilde, kenne ich die meisten Titel nicht oder nur als solche, und die meisten Autoren werden heute nicht mehr gelesen. Die Einträge Nr. 12 bis 17 sowie 20 und 25 stechen mehrfach heraus: als Reihung desselben Autors, den heute noch jedes Kind kennt; auch ich habe sechs der 13 angezeigten Romane gelesen; unter den 270 Einträgen der Liste fallen die Nr. 15 und 17 auf, weil sie nicht eines, sondern mehrere Bücher verzeichnen; überhaupt ist Jules Verne der Autor mit den meisten Einträgen. Als 19-Jähriger las Himmler wie im Rausch dessen fantastische Reiseromane.

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Himmlers Bücherliste 1919–26

Auszug aus HIMMELREICH HIRN, Graphic Essay über Heinrich Himmlers letzte Tage

Der Automobilist

Wewelsburg (Zeichnung: urian

Die Wewelsburg bei Paderborn, die Himmler zu einem Camelot für seine Tafelrunde aus SS-Gruppenführern aus- und umbauen ließ, sollte zu seiner Pensionierung 1966 bezugsfertig sein. Solange war er zu unruhig, um dort oder anderswo heimisch zu werden. Er ließ sich mit keinem bekannten Haus oder Ort so eng ein, dass er mehr wäre als einer in der Liste von Wohn- und Dienstsitzen.

Er war bei sich angekommen, indem er in Fahrt blieb. Ein Automobilist ab ovo, seit 1922 Mitglied in einem Touring-Club. Zwei Jahre darauf verdiente er sich mit Umtriebigkeit seine Sporen als Funktionär der Hitler-Partei. Brauste mit dem Motorrad als Stellvertreter des Gauleiters durch die bayrischen Dörfer und trommelte für die völkische Sache.

Himmler im Auto (Zeichnung: urian

Wie ein Herrscher im Mittelalter, wie sein Vorbild, König Heinrich I., der Slawenbezwinger, festigte er seine Macht durch persönliches Erscheinen und regierte auf Rädern, Schienen und im Flugzeug. Immer und überall war mit seinem Auftauchen zu rechnen. Er versuchte, allgegenwärtig zu erscheinen. Saß nicht still im Netz, sondern raste auf den Fäden hin und her und spann neue Verbindungen. Im Krieg dehnte er seinen Radius aus und erhöhte das Tempo der Ortswechsel.

Himmler hielt sich gerade so lange auf wie erforderlich und nahm von den Orten das Immergleiche wahr: eine Kommandostelle hinter Stacheldrahtverhau oder ein Lager mit Zaun; die Aussicht stets beschnitten von Schirmmützen.

Das Wohnmobil

Als Himmler durchstartete, war ihm ein geistiger Gefährte voraus. Duce und Papst empfingen den Millionär und Schriftsteller Raymond Roussel (), der Automobil und Wohnung montierte und sein Schneckenhaus auf Räder setzte wie später Himmler mit dem Zug Steiermark.

„Paris – Rom und zurück über die Schweiz und den Mont Cenis, ohne einen einzigen Tag die eigene Behausung zu verlassen – diesen seltsamen Rekord hat soeben Monsieur Raymond Roussel in seinem Wohnauto aufgestellt.“ (Zeitungsbericht 13. 12. 1926)

Das Autocar Roussel war schwarz und schmal wie ein Sarg. Während der Fahrt waren die Vorhänge zu. Der Passagier las Jules Verne.

Die Erde umrundend löschte er den Raum aus und stellte im Schreiben die Zeit still. Zwischen zwei gleich oder ähnlich klingende Sätze von verschiedener Bedeutung spann er einen Faden aus Darstellung und Erzählung. „Das Verfahren des Reimens in einer außerordentlich weit entwickelten und wie zum Zerspringen gebrachten Form“ (Michel Butor).

Roussel war in Asien und Afrika, aber „aus all diesen Reisen habe ich nie etwas für meine Bücher geschöpft“. Eindrücke aus Afrika: ein Bericht aus dem Inneren der Sprache, vom einsamen Ort. Locus Solus zeigt einen Park mit Maschinen zur Ausschaltung der Zeit. „Wunschmaschinen“ der „ewigen Wiederkunft“. Durch Chemikalien wiederbelebte Leichen im Glaskasten, die den bedeutsamsten Moment ihres Lebens wiederholen.

Er „lebt in der Thermosflasche. Er stimmt mit nichts in der Außentemperatur überein“, sagte Jean Cocteau über Roussel.

Mittelpunkt der Erde

Roussels literarischer Gott, sein Vorbild bei der Schilderung von Fantasie-Maschinen war der Autor mit den meisten Einträgen in Himmlers Bücherliste, angefangen mit Nr. 12: Reise zum Mittelpunkt der Erde. Auf die Entzifferung einer Geheimschrift aus Runen in Hamburg an einem 21. Mai [dem Datum von Himmlers Untergang] folgt der Abstieg in einen Vulkan auf Island, das Neutempler und Thulisten für die Heimat der Arier halten, hinab in die urweltliche Unterwelt.

Das „Prinzip“, das den Romanen Jules Vernes zugrunde liegt, scheint für Roland Barthes (Mythen des Alltags) „die ständige Geste der Einschließung zu sein. Die Vorstellung der Reise entspricht bei Jules Verne einer Erforschung des Abgeschlossenseins, und das Einverständnis zwischen Verne und der Kindheit rührt nicht von der banalen Mystik des Abenteuers her, sondern im Gegenteil von einem gemeinsamen Glück des Eingegrenzten, das man in der kindlichen Leidenschaft für Hütten und Zelte wiederfindet. Sich einschließen und einrichten, das ist der existenzielle Traum der Kindheit und auch Jules Vernes. […] Der Nautilus ist die ideale Höhle.“

Ein General über Himmler: „Er lebte nicht auf diesem Planeten. Umso ausschweifender war seine Fantasie.“ Ein Wiedergänger von Kapitän Nemo in der künstlichen Atmosphäre des Unterseeboots auf Irrfahrt durch die Tiefsee.

Wie Roussel sich seiner Schreibmethode unterwarf, erfüllte Himmler seine Pflicht und ließ andere für seine Sätze in den Mordmaschinen bluten. So zwingend sie ihr Werk empfanden, hatten sie ihre Wahl getroffen. Sie spannten das engmaschige Netz ihrer Gewohnheiten um den Globus und rotierten in einer verspiegelten Kapsel auf Schneckenstraßen um sich selbst.

Der Apparat

Himmler kreiste um die Welt, ohne sein Gehäuse zu verlassen. Die Person war das Amt, der Dienst das Leben. Privates gab es nicht. Für ihn so wenig wie für die Menschen, die er kontrollierte. Seine Arbeitstage begannen um zehn Uhr morgens und endeten um ein oder zwei Uhr in der Nacht. Die Pflichterfüllung war alles andere als entfremdet.

Himmler schwor seine Mannen ein, „in einer unerhörten Einmütigkeit und Erkenntnis dafür zu sorgen, dass alle diese Zweige, die wir aufgebaut haben, sich immer nur als Teil des Ganzen fühlen.“ Er war das Ganze. Der SS-Apparat erweiterte seine Organe und Glieder.

Ordensbruderschaft, Verbrecherbande, Familie: Untergebene bedachte „Heini“ mit Kosenamen. Stabschef Karl Wolff war „Wölfchen“, Odilo Globocnik, der die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka aufbaute, „Globus“, Leibwächter Josef Kiermaier war „Sepp“ und Sekretär Rudolf Brandt „Rudi“.

„Aber Sie können sich keine Vorstellung davon machen, was ich alles dem Führer stillschweigend abnehmen muss, damit er, der Messias der nächsten 2000 Jahre , absolut sündenfrei bleibt“, klagte Himmler gern. „Es ist natürlich angenehmer, sich mit den Blumenbeeten statt mit den Kehrichthaufen und der Müllabfuhr eines Staates zu befassen, aber ohne diese Arbeit werden die Blumenbeete nicht gedeihen.“

Er bestimmte und erzeugte den „Kehrichthaufen“. War sowohl Totengräber wie Henker und Richter. Die Berufung hatte er sich erteilt, bevor Himmler ihn aufrief, den Beruf zu schaffen, den er daraus machte.

Seine Macht ruhte auf zwei Säulen: Hitlers Plazet und Personalpolitik. Ein Historiker: „[…] dass kein einziger Hauptamtschef wirklich gegen Himmler vorging, beruhte auf dem Respekt, den der Reichsführer-SS sich unter seinen Leuten seit Anbeginn bewahrt hatten“.

Keine Struktur hielt den gewaltigen Apparat zusammen, sondern ein Wille. Das Führerprinzip ist alternativlos. Diktaturen lassen sich zerstören, aber nicht umbauen. Kein Gehilfe hätte das Steuer dieses Staatsschiffs übernehmen können. Himmlers Absetzung hätte der SS das Genick gebrochen. Der SS-Staat war, was das ganze gleichgeschaltete Reich sein sollte: fugenloser Block, Monolith, der als Botschaft aus der Urzeit verstanden sein wollte.

Weitere Auszüge:

Himmlers Ende und Nachleben
Ein ehrenwerter SS-Mann
Kultfindlinge
Der letzte Mordbefehl
Himmlers Sterndeuter

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