Wilhelm Wulff als Zeuge der letzten Tage des Reichsführers-SS
Für die Ereignisse um Heinrich Himmlers Abgang stehen in der Historiografie vor allem zwei Gewährsleute ein, die sich freiwillig beim Bösen verdingt hatten.
Felix Kersten, geboren in Estland, aufgewachsen in Deutschland und für seinen Kriegsdienst mit der finnischen Staatsbürgerschaft belohnt, war seit 1939 Himmlers Masseur und übernahm die Aufgaben eines »Beichtvaters«. Hinterher heimste er Anerkennung ein für die von ihm Geretteten, rechnete aber nicht vor, wie hoch sein Beitrag zum Funktionieren der Mordmaschine war, indem er dafür sorgte, dass sein Patient sich wohl fühlte.

Walter Schellenberg leitete die Auslandsspionage im Reichssicherheitshauptamt RSHA und saß seit 1943 als Pudel auf dem Schoss seines Herren und gab den Mephisto. Er lobte sich selbst dafür, Himmler zum Giftmord an Hitler überredet zu haben. »Tausende verdanken ihr Leben seiner Klugheit«, wurde ihm nachgerufen. Mit seinen in dreifacher Ausfertigung vorgelegten Memoiren hat er die Basis für Legenden geschaffen, bevor ihn erstmals ein deutscher Wissenschaftler in Englisch porträtierte.
Er hat sich den Geheimdienst wie eine Spionagegeschichte vorgestellt und wurde als Star-Spion der SS ins Inventar des Genres übernommen. Er war »schneidig und gutaussehend, und er hatte Stil«, präsentiert ihn ein Thriller. Die Leichen, über die er ging, erscheinen nur als Steine in seinem spannenden Spiel.

Andere Hauptamtsleiter und bevorzugt Intellektuelle aus der ersten Reihe der Schwarzen Garde wurden von RSHA-Chef Reinhard Heydrich als Kommandeure von »Einsatzgruppen« und »Einsatzkommandos« vergattert, um im Sommer 1941 mit Massenerschießungen die »Endlösung der Judenfrage« zu beginnen. Der Jurist Schellenberg befehligte keine Exekutionen. Er leistete seinen Beitrag, indem er die Operationen der Todesschwadronen im Rücken der Front gegen die Sowjetunion mit der Wehrmacht koordinierte.
Rechnet man schon Leben auf, gehört auf sein Konto auch ein Anteil an den wenigstens 600.000 Menschen, vielleicht mehr als doppelt so vielen, die bis Ende 1942 gejagt, an Gruben gesammelt und erschossen wurden. Gegen die Ausrottung der Juden hatte er grundsätzlich nichts einzuwenden, aber »da aber nur ein Drittel in unserer Hand war, die übrigen aber außerhalb unseres Machtbereiches lebten, sei die Art der Behandlung der Juden schlimmer als ein Verbrechen, es sei eine Dummheit gewesen«.
Kersten und Schellenberg werden zwar mit Vorbehalt zitiert und sind umstritten; ein dritter Zeuge wurde gar nicht erst angehört. Von ihm stammt der Bericht über einen Verzweiflungsanfall Himmlers drei Wochen nach der Übergabe von Giftphiolen durch Prof. Dr. Karl Gebhardt Anfang April 1945 in der Klinik Hohenlychen.
Bei allem Misstrauen gegenüber dem Wortlaut kann die Szene nicht als Entschluss zum Suizid gelten. Himmlers langer Abschied stand noch aus. Ähnliche Begebenheiten sind belegt, und für diese gab es weitere Zeugen, die mehr Gründe hatten, nicht die volle Wahrheit zu sagen oder zu schweigen bis ins Grab als sein Astrologe.
Wilhelm Heinrich Theodor Wulff war der am weitesten außen stehende Zeuge für die letzten 16 Monate von Himmlers Dasein. Er hatte sich seine Anwesenheit nicht ausgesucht und war die meiste Zeit der einzige Mann ohne SS-Rang in Himmlers Umgebung. Unter den Mördern galt der bei Kripo und Gestapo registrierte Sterndeuter als Verbrecher.
Keiner kam Himmler am Ende so nah und stand ihm zugleich so fern wie Wulff. Er hatte Muße, die Läufe der Menschen um das Zentralgestirn zu observieren, wenn er auf die Besprechung seiner Horoskope wartete. In der Entourage war er der Weltgewandteste und mit 52 der Älteste.
Seine sonderbare Stellung ließ ihn vieles schärfer sehen als andere Anwesende. Im Unterschied zu Kersten und Schellenberg hatte »Willi« Wulff kein zwingendes Motiv oder dringendes Bedürfnis, sich zu Wort zu melden. Er war 1945 verhört und 1949 interviewt worden, aber das Buch mit seinen Erinnerungen erschien erst zum 75. Geburtstag 1968.
Seinerzeit, zwischen Januar 1944 und dem 29. April 1945 war ihm sein Beitrag zur Weltgeschichte herzlich egal. Ihm war allein daran gelegen, seine Aufenthalte am »Hof« des Herrschers unbeschadet zu überstehen, den er wie ganz Deutschland seit der »Nacht der langen Messer« am 30. Juni 1934 mit Mord assoziierte, als seine SS die Führung der SA enthauptet hatte.
Zu Wulffs beruflicher Qualifikation gehörten Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen; er selbst nannte es eine »Mischung aus Detektivischem, Prognostischem und Therapeutischem«. Dass er von den Konsultationen seines heikelsten Kunden heil heimkehrte, bestätigt seine Begabung.
Bemerkenswert genug, dass Aufzeichnungen und Aussagen von SS-Männern und anderen Profiteuren des Regimes mehr Gehör geschenkt werden als einem, dessen Opferstatus schon nicht selbstverständlich erscheint. So viel über die Beziehung der Nationalsozialisten zu den »Geheimwissenschaften« geschrieben steht, wurde der tatsächliche Umgang der Nazis mit den Vertretern förmlich verfemter Anschauungen erst ansatzweise erkundet.
Er steckt in dem Nebel, den gerade solche Gläubigen verbreiten, von denen der Einzelgänger Wulff sich abzugrenzen versuchte, indem er »die Astrologie als Wissenschaft von den Zusammenhängern der himmlischen Konfigurationen mit dem irdischen Leben« definierte und sich auf Johannes Kepler berief, einen Stammvater der Astronomie.
In dröhnend einträchtigem Stillschweigen übergehen Historiker wie Verschwörer den Außenseiter, der am Ende des »Dritten Reichs« das Ohr desjenigen Machthabers hatte, der allein noch imstande war, am Schicksalsrad zu drehen. Den Autoren, die sich über esoterische Unterströme des Regimes auslassen, passt Wulff nicht ins Konzept, weil seine Worte weder zur Weißwäsche des Nationalsozialismus taugen noch als Werbung für Theosophie oder Anthroposophie.
Historiker blicken nur widerwillig von ihren Akten auf und nehmen zur Kenntnis, was außerhalb der bürokratischen Erfassung liegt. Den Platz des mythologischen Ratgebers besetzten sie bezeichnenderweise mit einem Kandidaten, der ihnen von seinen Gemütsgenossen angeboten wurde, dem »Urgeschichts- und Gotenforscher« Karl Maria Wiligut.
Allerdings hatte SS-Brigadeführer »Weisthor« seine angebliche Rolle als »Rasputin« bereits 1939 mit 72 Jahren abgegeben. Wulffs späterer Part wird ebenso im Dunkeln gelassen wie der eines zweiten Astrologen, dessen Himmler sich bedient haben soll.
Wulff war alles andere als unbefangen, unabhängig oder unbeteiligt. Seine Horoskope wurden gebraucht. Am Ende waren Himmler und einige seiner Getreuen geradezu süchtig danach, sich das Schicksal lesen zu lassen.
Weshalb andere, die selbst nichts von Wulffs Kunst hielten, seine Prognosen als Instrument einsetzten, um Himmler zu beeinflussen. Die Machenschaften gingen den Handlanger nichts an. Nachträglich gab Wulff sich als Mitwisser von Plänen zum Sturz Hitlers aus.
Von den Tausenden Menschenleben, die von der Stimmung Himmlers abhingen, auf er günstig einwirken sollte, teilte Wulff lediglich mit, was er sich zusammenreimte aus dem wenigen, das bereits veröffentlicht war.
Im Übrigen konnte er erzählen, was er wollte, ohne auf Widerspruch gefasst sein zu müssen. Die Hauptbeteiligten waren tot, und kein deutscher Historiker kannte sich mit den geschilderten Vorgängen gut genug aus, um Einwände zu erheben.
Zu trauen ist ihm gerade bei dem, was nur er notiert hat. Wie er an einem »scharf nach allen Seiten« bewachten Gebäude vom Leibwächter in Empfang genommen wurde, »draußen auf dem Podest einer schmalen Treppe, die etliche Stufen hoch zu dem ersten Stockwerk eines kleinen Einzelhauses, das Himmler hier bewohnte, führte«.
Der Astrologe hat als einziger Himmlers Leibwächter schriftlich porträtiert und einiges über Personen und Vorgänge festgehalten, das andere Zeugen und die Historiker vernachlässigen.
Für den Astrologen war Josef Kiermaier der »großköpfige Holzbauerntyp», ein »elementarer Mensch, dem groben, brutalen Menschentyp angehörend, sein eckiger Oberkopf erzählte von seiner rücksichtslosen Entschlossenheit und dem Fanatismus seiner Ausdrucksmöglichkeiten«.
Dem Hamburger Wulff missfiel besonders seine »Seppl-Art«, die »noch durch einen urviechartigen und erzbayerischen Dialekt unterstrichen« wurde. »ein gänzlich unpolitischer Polizeikopf, fanatisch mit Himmler verbunden.«
Als »intimer Freund und treuer Wächter« seines Meisters »keuchte« der »Wachhund« mit dem »Katzenkiefer« bei Konferenzen vor der Tür. Bei aller Antipathie erkannte der Zeuge an: »Verborgen erschienen Eigenschaften von Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft und eine ehrliche treue Soldatenseele, die sich für Himmler totschlagen lassen würde.«
Nach Erstem Weltkrieg, Revolution und Wirtschaftskollaps hatten Astrologie, Hypnose, Spiritismus, Telepathie, das Rätsel der Cheopspyramide, Vegetarismus und Wunderheilungen Hochkonjunktur. Schließlich erhielt ein »Visionär« und »Messias«, ein »Schamane« und »Medizinmann«, der nationale »Erlösung« verhieß, die totale Macht.
Ein Begleiter Hitlers in der »Kampfzeit« vor 1933 schrieb: »Nacktkulturisten, Vegetarianer, Edengärtner, Impfgegner, Gottlose, Biosophen, Lebensreformer, die ihre Einfälle verabsolutieren und eine Religion aus ihrer Marotte zu machen versuchen, lassen heute ihre geheimen Wünsche in die vielen Gaszellen des Riesenluftballons der Partei einströmen […] Von seinen eigenen Leuten wird Hitler immer mehr zu dem großen Magier gesteigert, dessen Bedeutung die eines großen Staatsmannes weit übersteigt.«
Braunes und okkultes Milieu waren verstrickt durch gemeinsame Anschauungen wie verwandte Maschen des Betruges. Im April 1933 wurde die prominenteste Gestalt der metaphysischen Mode, der Hellseher Hanussen, entführt und in einem Wald bei Berlin erschossen. Der Polizeipräsident von der SA unterband Ermittlungen; er war Hauptnutznießer und vermutlicher Auftraggeber des Mordes.
Die eigene »Spökenkiekerei« führte Wulff auf Kindheitseindrücke zurück. Er irrte aber, dass die »okkulte Seite in der Welt meiner Heimat […] nie besonders aufdringlich in Erscheinung« trat. Als er 1893 in Hamburg geboren wurde, machte Heinrich Ast weltweit Schlagzeilen. Sonderzüge brachten Heilssuchende nach Radbruch in der Nordheide, wo der Schäfer mit der Lupe aus den Nackenhaaren Krankheiten las. Auf der Reeperbahn griff ein Theaterstück den Rummel auf: »Die Dummen werden nicht alle«. Von 1923 bis 1927 standen sie bei einem Haardiagnostiker in Hamburg Schlange.
Statt wie von seiner Familie geplant Kaufmann zu werden, wandte Wulff sich der Kunst zu. Sein Lehrer an der Kunstgewerbeschule, der Schweizer Johann Bossard, schuf bei Jesteburg in der Nordheide eine »Kunststätte« zur »inneren Einkehr« für Wanderer. Sein »Kunsttempel« huldigt einem Gekreuzigten, der Christus sein könnte oder der am Weltbaum gefesselte Odin. Der Entdecker der Runen war einäugig; Bossard trug ein Glasauge. Er machte Wulff mit germanischer Mythologie bekannt. »Am liebsten« hätte Wulff sich »in die Lüneburger Heide zurückgezogen«.

Als Bildhauer und Grafiker fand er kein Auskommen und machte sein Hobby, die Horoskope, zum Beruf. Mäzene ersparten ihm, in seiner Praxis an der Außenalster um Laufkundschaft zu buhlen. Als er 1923 im Auftrag eines späteren Gestapo-Mannes Hitlers Horoskop berechnete, lernte er Martin Bormann kennen.
»Geheimwissenschaften« waren nach 1933 verfemt, wurden aber nicht sonderlich verfolgt. Bis zum Juni 1941, als Vereinigungen verboten und Anhänger in Lager eingeliefert wurden. Am 10. Mai war Rudolf Heß auf eine »Versöhnungsmission« mit dem »Vetternvolk« geflogen und über Schottland mit dem Fallschirm abgesprungen. Eine Wahnsinnstat, aber ein Irrer durfte der »Stellvertreter des Führers« in der Partei nicht sein. Die Propaganda behauptete, der als Esoteriker bekannte Heß sei das Opfer einer Verschwörung von Okkultisten geworden.
Wilhelm Wulff wurde in »Santa Fu«, dem Gefängnis mit angeschlossenem KL in Hamburg-Fuhlsbüttel eingesperrt, aber bald »durch einflussreiche Klienten schon wieder losgeeist«. Im Sommer 1943 engagierte oder rekrutierte ihn Reichskriminaldirektor Arthur Nebe höchstselbst. Die genauen Umstände verschleierte Wulff.
Dass der oberste Kriminalist des Reichs einen Astrologen zu Rate zog, war weniger sonderbar als typisch. Der berühmteste deutsche Privatdetektiv Ernst Engelbrecht, der dieselbe Berliner Schule der Kriminalistik wie Nebe durchlaufen hatte, ging in einem Buch auf drei Ermittlungsmethoden näher ein: das Fingerabdruckverfahren – sowie Hellsehen und Hypnose. Wissenschaftler wollten Verbrecher an der Schädelform erkennen, und Polizisten glaubten, Kriminalität wäre erblich.
Arthur Nebe verkörperte die »bis dahin in diesem Ausmaß unbekannte Schizophrenie« der deutschen Polizei. Er hatte eine der vier »Einsatzgruppen« befehligt, die sich als Ordnungshüter auf Verbrecherjagd ausgaben und die besetzten Gebiete »sicherheitspolizeilich durcharbeiteten, überholten« und »säuberten«.
Himmler wies Nebe an, effizientere Mordmethoden zu entwickeln. Versuche mit Sprengstoff scheiterten. Einer aus dem international vorbildlichen kriminaltechnischen Institut der Berliner Kripo, der sich schon bei der »Aktion T4,« der »Euthanasie« von »Geisteskranken« hervorgetan hatte, »verbesserte« die LKW, in denen die Eingepferchten durch die Abgase der Motoren umgebracht wurden. Hernach kehrten Nebe und sein Gehilfe an ihre Arbeitsplätze am Alexanderplatz zurück und klärten wie gehabt die Tötungsdelikte anderer auf.
Nach seinem Beitritt zur NSDAP wurde Nebe von einem Journalisten gefragt: »Wie verträgt sich das mit Ihren bisherigen Überzeugungen?« – »Es gibt keine Überzeugungen, es gibt nur Umstände!«
In der Geringschätzung der Überzeugungen klingen zwei bevorzugte Ausflüchte an: man habe die Ideen der Machthaber eigentlich nicht geteilt; und es kam ohnehin nicht darauf an, weil die Umstände dem Einzelnen keine Wahl ließen. 1949 wurde Nebes Sentenz in einem Bericht über »Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei« zitiert, als Himmler ihr Dienstherr war und Polizisten massenhaft Verbrechen verübten.
Die Äußerung sei ein Zitat aus einem Roman von Honoré de Balzac, der damit »Joseph Fouché Gerechtigkeit widerfahren« lasse. Der Opportunist Fouché diente der Französischen Revolution wie dem nachfolgenden Napoleonischen Kaiserreich. Nebe wusste es besser und wurde auch damit zitiert: Vorbild der Romanfigur war ein »Sträfling«, der »später Kriminalchef von Paris wurde«.
Nebe spielte nicht auf die Gewissenlosigkeit Fouchés an, sondern auf die List von Eugène-François Vidocq. Vidocq ging davon aus, dass »das Verbrechen nur durch Verbrecher bekämpft werden« könne. Das Kapital des konvertierten Kriminellen war sein Talent, maskiert aufzutreten. Vidocq war kein Massenmörder wie Fouché, sondern ein Meister der Täuschung.
Jedenfalls waren in Fouché und Vidocq Polizist und Verbrecher so untrennbar verschmolzen wie in der Polizei unter Himmler. Der Ausrede Nebes bedienen sich Straftäter bis heute. Er schiebe seine Schuld »fast gänzlich auf andere oder die äußeren Umstände«, stellte 2015 ein Psychiater über einen berüchtigten Geiselnehmer fest.
»Auf Himmlers Befehl«, eröffnete Nebe Wulff, sollte er Benito Mussolini aufspüren, der nach seiner Entmachtung gefangen gehalten wurde. Wulffs Verbindungsmann war Willy Suchanek, Orpo-Adjutant des RFSS. Auf dem Tisch lagen »eine Maschinenpistole, ein präparierter« Totenkopf und ein Buch über die Folter im Florenz der Renaissance, als er Wulff angefahren haben soll:
»Der Reichsführer lässt Ihnen sagen, dass Sie schneller arbeiten und sich mehr Mühe geben sollen, sonst könnte es Ihnen so ergehen wie dem Goldmacher Tausend, der im KZ sitzt und so lange sitzen wird, bis er Gold machen kann.«
Ob Himmler einen Alchemisten beschäftigte, ist fraglich. Allerdings ließ er Gold suchen, in den heimatlichen bayrischen Flüssen Inn und Salzach. Wo es 100 Jahre zuvor Goldwäscher gegeben haben sollte, wollte auch er fündig werden. Geschichte war für ihn die ewige Wiederkehr des Immergleichen. Mit seinem Handeln glaubte er, ein historisch geprägtes Muster zu verwirklichen. Mystische Methoden sollten enthüllen, was Himmler aus okkulten Gründen finden wollte.
Trotz Suchaneks Drohung war Himmler mit Wulff zufrieden. Im Januar 1944 machte er seinen Antrittsbesuch. Ab März 1945 gesellte er sich mehrmals zum Gefolge. Josef Kiermaier hatte ihn nun besonders scharf im Auge. Die Empfehlung durch Nebe war anrüchig geworden. Anfang des Monats war der Kripo-Chef als Mitverschwörer des Attentats auf Hitler in der Wolfsschanze gehenkt worden.
»Armut und Sorgen in sehr dürftigen Verhältnissen […] Wahrscheinlich wird der Geborene am Lebensende von Ort zu Ort wandern.« Hatte Wulff geweissagt. Wahrhaftig versteckte sich Nebe monatelang vor seinen Ex-Gehilfen. Keine finstere Prognose von Wulff für Himmler, obwohl auch er »von Ort zu Ort wandern« würde.
Sternzeichen Waage. Schwankende Schalen suchen Ausgleich. Zwei Seelen in der Brust: Philosoph und Pfennigfuchser.
Am Ende unternahm Himmler nichts Wesentliches, ohne den Stand der Sterne zu befragen. Welchen Wert er Wulffs Deutungen beimaß, geht aus einer Bemerkung von Felix Kersten hervor. Er lasse »sich hie und da von mindestens zwei Astrologen beraten, um deren Aussagen abzuwägen, wenn er dabei auch von einer gewissen Skepsis erfüllt ist«. Wulffs Konkurrent ist in Geheimnis gehüllt.
Wilhelm Heinrich Theodor Wulff * 27.3.1893 Hamburg – † 8.6.1984 Hamburg. Vater Kaufmann. Kunstgewerbeschule Hamburg. Juni 1941 Gestapo-Haft Hamburg-Fuhlsbüttel. Sommer 1943 Kontakte zur Kripo. Jan. 1944 erste Begegnung mit Himmler.
Literatur
R. Augstein u. a.: Das Spiel ist aus – Arthur Nebe, Der Spiegel 40/1949–16/1950 | F. Bernadotte: Das Ende, Zürich 1945; An Stelle von Waffen, Freiburg i. Br. o. J. [1950] | A. Besgen: Der stille Befehl, München 1960 | N. Elias: Studien über die Deutschen, Frankfurt/M. 1992 | E. Engelbrecht: In den Spuren des Verbrechertums, Berlin o. J. [1929] | F. Kersten: Totenkopf und Treue, Hamburg o. J. [1952] | R. R. Doerries: Hitler’s Last Chief of Intelligence, London 2003 | H. Heer/K. Naumann (Hg.): Vernichtungskrieg, Hamburg 1995 | M. H. Kater: Das »Ahnenerbe« der SS 1935–1945, Stuttgart 1974 | I. Kershaw: Hitler 1936–1945, 2. Aufl. Stuttgart 2000 | H.-D. König (Hg.): Sozialpsychologie des Rechtsextremismus, Frankfurt/M. 1998 | H.-J. Lange: Karl Maria Wiligut, Engerda 1998 | P. Longerich: Politik der Vernichtung, München/Zürich 1998; Heinrich Himmler, München 2008 | R. J. Mund: Der Rasputin Himmlers, Wien 1982 | U. R.: Tod im Erkerzimmer, Stader Jahrbuch 2001/2002; Letzte Schritte eines Massenmörders, Kreiszeitung Syke 24.10.2009 | W. Schellenberg: Aufzeichnungen, Wiesbaden/München 1979 | A. Speer: Erinnerungen, 2. Aufl. Frankfurt a. M./Berlin 1969 | H. Strohm: Die Gnosis und der Nationalsozialismus, Frankfurt/M., 1997 | J. Thorwald: Die Stunde der Detektive, Zürich 1966 | H. R. Trevor-Roper: Hitlers letzte Tage, 2. Aufl. Frankfurt a. M./Wien/Berlin 1995 | P. Witte/S. Tyas: Himmler’s Diary 1945, o. O. [London] 2014 | W. H. T. Wulff: Tierkreis und Hakenkreuz, Gütersloh 1968
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Auszug aus HIMMELREICH HIRN, Graphic Essay über Heinrich Himmlers letzte Tage. Siehe mehr unten auf diesem Blog.
Weitere Auszüge:
Himmlers Ende (1) ● Himmlers Ende (2) ● Himmlers Ende (3) ● Himmlers Ende (4) ● Kultfindlinge ● Reise im inneren Reich ● Ein ehrenwerter SS-Mann ● Himmlers Ende und Nachleben ● Der letzte Mordbefehl ● Tod im Erkerzimmer
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