Aspekte der gegenwärtigen Geschichte des Nationalsozialismus

Mordverschwörer spekulieren im Web über Gründe, die Winston Churchill gehabt haben könnte, Heinrich Himmler am 23. Mai 1945 zum Schweigen gebracht zu haben. Denkbare politische Motive haben nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Brisanz verloren. Die transzendenten Aspekte rücken in den Vordergrund: „Was wäre, wenn das Motiv nicht mit Diplomatie zu tun hätte, sondern mit Himmlers New-Age-Verbindungen“, mit Thule-Gesellschaft, Artamanen, Wewelsburg, Ahnenerbe und vor allem dem „wahren Zweck der Himalaya-Expedition 1938?“

Die Obskurantisten zählen richtig auf, was Himmler in seinen letzten Zügen umtrieb, und sie versehen Tatsachen mit Sinn, über die kein akademisches Geschichtsbuch aufklärt. Zum engsten Gefolge gehörte ein Astrologe (Himmlers Sterndeuter), und Himmler gab Befehle zur Wewelsburg und zum Ahnenerbe (Der letzte Mordbefehl). Freilich erzählen die Verschwörer nicht die ganze Geschichte und erwähnen weder Menschenversuche noch Vernichtung durch Zwangsarbeit.

Black Pain Stade (Zeichnung

Bevor ein Historiker sich den mystischen Anteilen des Nationalsozialismus zuwandte, hatten Esoteriker die spirituellen Wurzeln ausgegraben und den Rassenwahn zur metaphysischen Sendung verklärt. „Der Nationalsozialismus war meine Religion, Adolf Hitler mein Gott“, sagte ein Neonazi, nachdem er vom Glauben abgefallen und scheinbar geläutert war.

Am 18. März 1992 stritt der 53-jährige Frührentner Gustav Schneeclaus auf dem Busbahnhof von Buxtehude mit zwei Skinheads von 26 und 19 Jahren über deutsche Geschichte. Der Alte habe sie provoziert und behauptet, Hitler sei gar kein Deutscher, sondern Österreicher, erklärte der ältere Skin vor Gericht. „Hitler war der größte Verbrecher“, soll er gesagt haben. Die ultimative Schmähung, die Kränkung für jeden Deutschen für alle Zeiten. Die Skins schlugen mit einem Kantholz zu und traten mit Stiefeln auf Schneeclaus ein. Er starb drei Tage später im Krankenhaus.

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Ungestört hatte sich die Braune Bande in der Kleinstadt breit gemacht. Der Blutzoll, den das Gemeinwesen für seine Ignoranz entrichtete, war absehbar gewesen. Nachher deutete die Polizei den Toten zum Opfer eines „Bandenkriegs“ um, den etwelche „Linke“ ausgelöst hätten. Die Bürger ließen sich für ein Engagement loben, das sie nie gezeigt hatten. Verbreitet wurde, dass die Täter „in keiner rechtsextremistischen Szene eingebunden oder gar organisiert“ waren. Das sollte sich vor Gericht gezeigt haben. Dieses befasste sich vielmehr nicht damit und wäre sonst zu gegenteiligen Schlüssen gelangt. (Mehr hier.)

HIMMELREICH HIRN (Zeichnung: urian)

Von den sechs Jahren seiner Jugendstrafe für Totschlag verbüßte der jüngere Skin einen Teil und wurde für den Rest auf Bewährung freigelassen. Ab 1996 setzte er seine Laufbahn in Tostedt in der Nordheide fort. Als ihm 2011 wegen Landfriedensbruch der Prozess gemacht wurde, reklamierte der prominenteste Verbrecher der Region Religionsfreiheit für sich. Sein Verteidiger verglich das Verfahren mit der Hexenverfolgung. Sie war Himmlers Hauptvorwurf gegen die christliche Kirche. Auf Kleidung der Marke Thor Steinar, die der Angeklagte in seinem Geschäft für Kameradschaftsbedarf verkaufte, prangt „No inquisition“.

Von Nationalsozialismus war im Prozess keine Rede. Das Urteil wurde als fehlerhaft aufgehoben und keine Strafe verhängt. Drei Monate darauf war zu sehen, wie weit die Ignoranz gediehen war, als der Nationalsozialistische Untergrund NSU an die Oberfläche kam.

Stefan S. in Tostedt (Zeichnung: urian)

1996 hatte die Staatsanwaltschaft den dreifachen Mörder Thomas Lemke und seine Gehilfen von ihren vielfältigen Verbindungen zum Neonazismus freigesprochen. Sein Neuheidentum taten die Medien als „vorgeschoben“ ab, als „die Tarnung, die Maske, hinter der sich eine gescheiterte Kindheit und Jugend verbergen“.

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„Esoterische Dummheiten, nicht nur ‚völkische‘, sind heutzutage in ganz anderen Bevölkerungskreisen zu finden, wo sich die Leute massiv wehren würden, wenn man sie als nicht ‚ganz dicht‘ bezeichnen würde“, schrieb ein Prozessbeobachter. Während Lemke vor Gericht stand, wurde bewiesen, dass seine Hingabe an „Bäume, Quellen, an Asgard und an Odin“ mehr als die Ausrede eines einzelnen Psychopathen war. „Im Auftrag von Odin und Thor“ verübte Kay Diesner einen Mordanschlag und erschoss auf der Flucht einen Polizisten.

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Der Nationalsozialismus lebt politisch, kulturell und kriminell weiter. Betrachtet werden die Felder jedoch strikt getrennt. Für Politologen und Soziologen ist Neonazismus eine Jugendbewegung. Von Organisationsstrukturen und Drahtziehern wissen sie nichts. Lauter Lehrlinge, keine Gesellen und Meister.

In Berichten über braunes Banditentum kommen die Begünstigung durch die Gesellschaft und die historischen Wurzeln der Netzwerke nicht vor. Für die Kultur der Szene stehen strafbare Songtexte und Symbole. Wenig mehr ist je untersucht worden. So geraten Überschneidungen mit anderen Kreisen gar nicht erst in den Blick.

In einem Lexikon-Eintrag zum „neugermanischen Heidentum“ steht nichts vom Dritten Reich und Himmler als Stifter. Allein im Absatz „Faschismus“ scheinen Verbindungen der Sphären auf:

„In den 1990er Jahren erleben parallel zum Neonazismus neugermanische und deutsch-völkische Glaubenskreise Zulauf, in denen alte Blut-und-Boden-Mytheme zu einer ‚Ariosophie‘ aufbereitet werden (z. B. Gylfiliten, Armanen, Goden).“

Ariosophie ist nichts Neues, sondern eine der Quellen für Himmlers Ideen. Neonazis und Neuheiden operierten nie „parallel“ und vor 1990 gemeinsam. Über die Gewalt, die unter Beteiligung von Gläubigen in den 1990ern aufkam, schweigt das Lexikon. In einem anderen deutschen Buch nimmt die Abgrenzung von Ursprüngen und nächster Verwandtschaft die Form einer Beschwörung an: Esoteriker seien menschenfreundlich und könnten deshalb keine Neonazis sein. Als hätte es Himmler nie gegeben.

Braune Bräuche kümmerten Hitler nicht, und er traf keine Vorsorge für geistige Erbschaft. Goebbels hatte die Nachwelt immer im Blick, doch die Inhalte seiner Reden gingen mit ihm unter. Himmler ist der NS-Tote mit dem nachhaltigsten Einfluss über das Grab hinaus. Hauptzutaten des Mythengebräus „Nazi-Germany“, des Reichs des Bösen und Phänotyps der Menschenfeindlichkeit, entstanden in seinem Kopf.

Esel-Aktion Geiß/Worch (Zeichnung: urian)

1979 sinnierte Susan Sontag über „ein spukhaftes Ingredienz der modernen Kultur, ein böses Prinzip von grenzenloser Wandlungsfähigkeit, das die Gegenwart durchtränkt und sie zur Reprise der Vergangenheit macht“, und nannte es „Hitlertum“. Genauer müsste es Himmlertum heißen.

Moralpredigten stören bis heute die Hochzeit von Schrecken und Schönheit nicht. Die „Schwarze Szene“ ist sich der Beziehungen oft kaum bewusst. Einschlägige Insignien werden beiläufig in Berichten vom Rock-Festival in Wacken erwähnt und im Foto gezeigt, ohne dass ein Redakteur gestutzt hätte. Niemand denkt bei einem Wikinger-Event an Böses.

Auf das Germanentum fällt nicht nur ein Schatten der in seinem Namen begangenen Verbrechen. Es wird vielfach durch einen NS-Filter wahrgenommen. Die kürzeste Abhandlung muss auf die braunen Quellen populärer Klischees verweisen, eine Darstellung germanischer Religion mit einem Kapitel über Neuheidentum schließen.

„Wir sind Gothic!“ machte das Lokalblatt am „Tag der Liebe“, dem 12. 12. 2012, mit dem Foto eines Paares auf, das in Schwarz heiratete. Der Bräutigam feixte, als ich ihn kurz darauf am Wahlkampfstand der NPD traf, für die er zum Landtag kandidierte. Soeben hatte der Bundesrat beschlossen, seine Partei verbieten zu lassen. Dafür waren auch die Zeitungsleute, die nichts gemerkt hatten. Zum Tattoo-Studio mitten in der Stadt assoziierten sie nicht „Schwarzer Schmerz“.

Der Betreiber war NPD-Kandidat. Früher hieß seine Bande „Gladiator Germania“ und gehörte zum Netzwerk des Totschlägers von Buxtehude. Seine neue Gang gab sich als „loyal bis in den Tod“ aus. (Siehe auch Spukhaus am Stadtrand)

Die „Deutschgläubigen“ sind ungezählt, ihre Überzeugungen und Rituale nicht untersucht. Acht Jahrzehnte haben sie bereits überstanden. Als Gipfel seiner persönlichen Verstiegenheit soll Himmlers Religion sich selbst disqualifizieren, meinen Akademiker. Als besage die fehlende Vernünftigkeit der Projekte von Joseph Smith oder L. Ron Hubbard etwas über ihren Erfolg. Auch für Mormonen und Scientologen gilt das „credo quia absurdum“ des Katholizismus, in dem Himmler erzogen wurde. So leicht sein Glaube lächerlich zu machen ist, versetzte er Leichenberge. Und bringt weiterhin den Tod.

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„Historiker interessieren sich für Strukturen, nicht für Menschen“, wurde ich im Stadtarchiv zu Lüneburg abgefertigt, als ich mich nach Himmler erkundigte. In diesem Zusammenhang ein fürchterlicher Satz. Auch Himmler scherten die Menschen nicht, die er seiner Vorstellung von großgermanischer Geschichte opferte.

Professoren unterliegen denselben Verdrängungsmechanismen wie alle anderen. Ihre „Strukturgeschichtsschreibung“ lieferte ihnen ein Alibi, sich der Zeitgeschichte, die ihre eigene war, nicht vollständig anzunehmen. Während die Zeitzeugen noch lebten, wurde an deutschen Universitäten gelehrt, ihre Aussagen seien ohne Belang. Die Wissenschaft hielt sich an die von den Verbrechern selbst angelegten Akten. Die Schicksale und Charaktere, Lebensläufe und Motive der Mitwirkenden an den Mordprogrammen waren kein Thema, bis sie nicht mehr am Leben waren und weder belangt noch befragt werden konnten. Es war Journalisten und Historikern aus Großbritannien, USA und Israel vorbehalten, dieses Ahnenerbe gelegentlich aufzuarbeiten.

Ich machte eigenartige und wunderliche Erfahrungen. Bevor ich zur Sache kommen konnte bei meinen Erkundigungen nach Himmlers Ende musste ich Verdächtigungen ausräumen. Neonazis und Andenkenjäger waren längst dagewesen. In 30 Jahren bin ich bei keiner Recherche ähnlich abweisend behandelt worden und so oft im Zweifel geblieben, ob man nichts wusste oder nichts wissen wollte.

Die Rechtsabteilung im Lüneburger Rathaus verweigerte mir die Einsicht in eine am 21. August 1947 für Himmler ausgestellte Todesurkunde: aus Datenschutzgründen. Wessen Persönlichkeitsrechte betroffen sein sollten, wurde nicht verraten. Die von Gudrun „Püppi“ Burwitz, geborene Himmler, die mit der Stillen Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte bis 1994 von Rotenburg/Wümme aus Massenmörder vor der Justiz schützte und als ihre „Lebensaufgabe“ ansieht, ihren Vater „vor der Welt in ein anderes Licht zu stellen“?

Gudrun Burwitz (Zeichnung: urian)

Schließlich wurden mir amtlich ein paar Daten aus der verschlossenen Urkunde mitgeteilt. Todestag 24. Mai. Ob das komplette Dokument diese Abweichung von allen übrigen Quellen erklärt, soll ein Geheimnis bleiben.

Forschung über NS-Täter etablierte sich erst ab 2000 an deutschen Universitäten. Inzwischen hatten aus sicherer Distanz, nach dem Ableben der Erlebnisgenerationen, Schriftsteller und Träger prominenter Namen Abseiten entrümpelt, Tagebücher, Briefe, Fotoalben gesichtet und sich des schwarzen Erbes in „Familienromanen“ angenommen. Ein Buch seiner Großnichte erschien drei Jahre vor der ersten Wortmeldung der Wissenschaft (aus Großbritannien) zu Himmlers Biografie.

Zu seinem Ende begnügt man sich mit Zitaten der Übersetzungen britischer Aussagen, als wäre die Angelegenheit in fremde Hände übergegangen. Fast ausnahmslos ausländische Autoren nehmen sich der Causa an, als stünde sie außerhalb der deutschen Geschichte. Himmlers Untergang „zeigt blitzartig die Konturen seiner Persönlichkeit“, fand einer, der sich ausnahmsweise eingehend damit befasste. Der Psychoanalytiker Erich Fromm kam zum selben Ergebnis: „Himmlers Ende entsprach ebenso sehr seinem Charakter, wie sein Leben dies getan hatte“.

Für Historiker ist Himmlers Schlussstrich ein beliebiger Schnörkel und jedenfalls keine Signatur, sondern von fremder Hand hinzugefügt. Als wäre der letzte Lauf kein wesentlicher Teil des Lebenslaufs und sein Ende ihm so zugestoßen wie in der am weitesten verbreiteten Legende sein Tod. Bis auf die letzten 52 Stunden war seine Höllenfahrt ein selbst inszeniertes Drama, das unter Deutschen spielte.

In Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui zeichnete der Emigrant Bertolt Brecht die Nazis als Gangster. Sebastian Haffner beschrieb von Exil aus, wie die „Etablierung einer Bandenmoral“ in Deutschland vonstatten gegangen war. Später betonte er, Hitler sei zwar „eine Figur der politischen Weltgeschichte“, gehöre aber auch in die Kriminalchronik als Massenmörder in der „präzisen, kriminologischen“ Bedeutung des Wortes. Direkter als der Diktator setzte sein Haupthandlanger Himmler die Reihe ihrer Zeitgenossen fort, der Serienmörder der Zwischenkriegszeit, von denen Deutschland eine Anzahl weltweit namhafter aufzuweisen hat.

Die Verwandtschaft belegte der 1933 von Nationalsozialisten ermordete Philosoph Theodor Lessing. Am Fall Fritz Haarmann stellte er dar, wie ein „Werwolf“ auf die Billigung von Bevölkerung und Behörden vertrauen kann, solange er seine Opfer unter Auswärtigen und Ausgesonderten sucht. Lessings Bericht aus Hannover markierte die Bruchlinien, an denen die Zivilisation kein Jahrzehnt später zerbrach. Aus Verfolgung, Mord und Leichenverwertung, die Peter Kürten, Karl Denke oder Wilhelm Großmann als Handwerk ausübten, wurde im Dritten Reich eine Industrie.

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Himmlers Geschichte gehört nicht neben die von Staatsmännern, so wenig wie die von Göring oder Goebbels. Dennoch sind sie nie in die Kriminalchronik eingereiht worden. In einem beliebigen Verbrecherlexikon wird Himmler zwei Mal als Gesetzgeber erwähnt, Reinhard Heydrich als „Polizist“ und Attentatsopfer. Als Kriminelle namhaft gemacht werden niedere NS-Chargen, die zufällig vor Gericht gerieten.

Der Exilant Robert Kempner verglich als Ankläger in den Nürnberger Prozessen die NS-Granden mit den Halunken, die er im Kriminalgericht in Berlin-Moabit kennengelernt hatte, als die braune Bewegung begann. Das „wahre Geheimnis“ ihres Aufstiegs sei „Bluff! Bluff! Es steckte wirklich nichts dahinter als das große Maul, das dem Publikum imponierte“. Ohne Uniform und Machtapparat sah er sie als das, „was sie immer waren: Kleine Strolche mit großen Erfolgen“. Die Würden der Ämter hatten notdürftig dieselben Männer bekleidet, die zuerst als grölende Schläger der SA ins öffentliche Bewusstsein gestürmt waren. Als Reichsleiter und Reichsführer wurden aus den Banditen keine Staatslenker. Sie blieben Landsknechte und Piraten, Freibeuter der Freikorps, aus denen die ersten Parteisoldaten wie Himmler rekrutiert wurden.

HIMMELREICH HIRN (Zeichnung: urian)

Der britische Historiker Hugh Trevor-Roper, der sie wie Kempner aus der Nähe erlebte, erkannte „die Elite des Tausendjährigen Reichs als eine Bande aufgeblasener Clowns“. „Like a cheap little gangster“, wie ein billiger Ganove gebärdete sich Himmler am Ende, meinte sein erster Biograf, der österreichische Exilant Willi Frischauer.

Emigranten sahen notgedrungen schärfer, was die Mehrheit der Landsleute und deren Nachfahren nicht wahrhaben wollen. „Das Ungeheuerliche wird von sehr durchschnittlichen, schwachen, unbedeutenden Männern begangen“, notierte Haffner bereits 1940, bevor noch die Verbrechen verübt wurden, die das Image der „Nazi-Bestie“ prägten. Im selben Jahr strich der Exilant Konrad Heiden, der Umgang mit der Führerschaft gehabt hatte, deren „Mittelmäßigkeit“ heraus. Darauf ließ sich die deutsche Geschichtswissenschaft erst unter Protest ein, nachdem sie in den 1990ern von Kollegen aus den USA aufmerksam gemacht worden war.

Golem und Maus (Zeichnung: urian)

Der „Verbrecherstaat“ (Karl Jaspers) war kein Staatsgebilde, sondern ein Gemeinwesen, das unter die Räuber gefallen war. Der Krieg legte es lediglich rascher in Trümmer, als es auf zivilem Weg – wirtschaftlich, sozial, kulturell – geschehen wäre. Kriminologisch sind die Nationalsozialisten Nachfahren der Räuber, die im kollektiven Gedächtnis verharmlosend als Hotzenplotz und „Schinderhannes“ überdauert haben.

„Im letzten Jahrzehnt des 18. und im ersten des 19. Jahrhunderts […] spannt sich das Räuberunwesen wie ein einheitliches engmaschiges Netz über große Teile Deutschlands und arbeitet mit allen Mitteln des Terrorismus.“ Diese „Schreckensherrschaft“ übernahm Gustav Radbruch zufolge Methoden des „système, régime de la terreur“ im Paris der Revolution zwischen 1792 und 1794. „Von den Revolutionären mochten die Einbrecher neuen Stils auch gelernt haben, wie eine tatkräftige Minderheit eine passive Mehrheit vergewaltigen kann“, hieß es 1949 bei Radbruch, und er fuhr fort: „Von der eingeschüchterten Nachbarschaft kommt niemand den Opfern zu Hilfe, besonders dann nicht, wenn sie Juden sind.“

Radbruch unterschied die Räuberbanden vom „gewerbsmäßigen Gauner- und Verbrechertum“. Wenn der „Räuber wie er im Buche steht“, Johannes „durch den Wald“ Bückler, sich „als ein Feind der Franzosen, der Juden und der Reichen“ ausgab, wirkte Überzeugung an der Bandenbildung mit. Außer der Gier nach Geld und Gütern verband die Räuber ein Geist. Sie waren Vorläufer von SA und SS und Ahnherren des Terrorismus, der mit Anschlägen und Attentaten Übermacht zu erlangen sucht. Ihren Erfolg verdankten die Nationalsozialisten der Gewalt ebenso wie dem „Bluff“ der Überzeugungen.

Nazis sind Wesen von einem anderen Stern und Verbrecher überhaupt immer das absolut Fremde, wird sich gern vorgemacht. Dagegen schrieb schon Friedrich Schiller an: „Wir sehen den Unglücklichen, der doch in eben der Stunde, wo er die Tat beging, so wie in der, wo er dafür büßet, Mensch war wie wir, für ein Geschöpf fremder Gattung an, dessen Blut anders umläuft als das unsrige, dessen Wille andern Regeln gehorcht als das unsrige; seine Schicksale rühren uns wenig, denn Rührung gründet sich ja nur auf ein dunkles Bewusstsein ähnlicher Gefahr, und wir sind weit entfernt, eine solche Ähnlichkeit auch nur zu träumen.“

Schiller nahm sich keinen vor, in dem leicht eine Ähnlichkeit zu erkennen wäre, sondern einen wie Himmler, den bereits zu Lebzeiten legendären Hauptmann einer Räuberbande.

Die grauenhaftesten Geschehnisse der Geschichte wurzeln in ganz gewöhnlichen Gedanken und Gefühlen. So unvergleichlich die Taten der Nationalsozialisten als Kollektiv, wuchsen sie als Individuen nicht über sich oder das menschliche Maß hinaus. Die schwarze Uniform verlieh keine Superkräfte des Bösen.

Heinrich Himmler (Zeichnung: urian)

Bis dato werden die „Herrenmenschen“ bevorzugt in ihren Lieblingsposen vorgestellt: in Uniform und auf Paraden, sofern Fotos und Filme vorliegen; als Amtmänner am Schreibtisch anhand der von ihnen hinterlassenen Akten. Inzwischen werden Himmlers Gehilfen zwar auch als „ganz normale Männer“ betrachtet. Sie waren es jedoch nur bis zum ersten Mord. Danach unterschieden sie sich von denen, die keine oder eine andere Wahl trafen und ordinary men blieben.

Den tödlichen Befehlsnotstand, den die Mörder zur Entlastung vorschützten, gab es nicht. Verweigerer mussten nicht einmal mit Nachteilen rechnen. Solange es genug Willige gab, wurden die Zaudernden in Ruhe gelassen. Auf die Normalität der Täter abzuheben bekräftigt ihre Ausrede, andere hätten an ihrer Stelle ebenso gehandelt.

HIMMELREICH HIRN (Zeichnung: urian)

Eine so beliebte wie absurde Fiktion ist der bekenntnisfreudige Bösewicht. Nur im Schlussakt eines Thrillers legt der Mörder ungefragt und stolz ein Geständnis inklusive Selbstanalyse mit Phrasen aus dem Psycho-Baukasten ab. Von einem Gewaltverbrecher sind bündige Begriffe für seine Motive so wenig zu erwarten wie eine geschliffene Schilderung des Tatverlaufs. In ausgedehnten Befragungen durch Polizisten und Psychiater und in einem wochenlangen Prozess ist über die Minute, auf die es ankommt, selten ein vernünftiges Wort zu erfahren. Das Böse erkennt und erklärt sich selbst nicht. Statt des in Psychologie promovierten Menschenfressers Hannibal Lecter begegnet man dem stammelnden Mann von nebenan.

Was Himmlers Gehilfen zu sagen gehabt hätten, hat außer Neonazis kaum jemand zu hören bekommen. Einer der letzten Überlebenden redete 2015 von sich wie Historiker über seinesgleichen: „Dieser uns anerzogene Gehorsam verhinderte, die täglichen Ungeheuerlichkeiten als solche zu registrieren und dagegen zu rebellieren. Es ist nach heutigen Maßstäben nicht zu fassen.“

„Unfassbar“, „ungeheuerlich“, „unbegreiflich“ sind Vokabeln, die gern verwendet werden, um das Geschehen im Dritten Reich zu beschreiben. Was daran wahr ist, hat den Tätern seit je auch zur Entschuldigung gedient.

Das Landgericht Lüneburg verurteilte Oskar Gröning, 94 Jahre, für die Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen, die er als „Buchhalter von Auschwitz“ leistete.

Andere Maßstäbe, andere Zeitläufte – andere Menschen? Ein Zeitungsredakteur der Urenkelgeneration sprang Gröning bei und hielt die gerichtliche Feststellung einer persönlichen Schuld für überflüssig – wie auch ein namhafter Historiker im Rundfunk.

„Was hatte Gröning für eine Wahl?“, fragte die Kreiszeitung ihre Leser. „Hätte er sich gegen das Hitler-Regime stellen sollen? Dann wäre er sofort erschossen worden.“ Aus einem von Himmlers Auserwählten, der sich zur Elite der „Herrenmenschen“, der SS, gemeldet hatte, wurde ganz nebenbei ein verhinderter Widerstandskämpfer.

HIMMELREICH HIRN (Zeichnung: urian)

Anmerkungen

Dank der Oberflächlichkeit der User und ihrem Vertrauen auf das online Verfügbare fällt den Obskurantisten das Lügen leicht. Etwa werden seriösen Autoren Aussagen untergeschoben, die nicht in den zitierten Büchern stehen. Oder Heinrich Himmler (= HH) wird eine »Jugendbeziehung zu einem Theosophen namens Dr. Friedrich Wichtl« zugeschrieben. Mit dem österreichischen Nationalratsabgeordneten hatte er so viel zu tun wie mit anderen Autoren in dem Verzeichnis der Bücher, die er von 1919 bis 1926 las, von 1. Kügelgen, Wilhelm V., Jugenderinnerungen eines alten Mannes, Leipzig 1919, bis 270. Casanova, Giovanni Jacomo, Memoiren (B. F. Smith, Heinrich Himmler 1900–1926, München 1979, 231-39). Wichtls Pamphlet gegen Weltfreimaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik ist Nr. 23. HHs esoterische Beziehungen sind weniger unmittelbar, als die Fälschung weismacht. Diese mythologisierende Verkürzung verfehlt sie ebenso wie Historiker, die HHs Gedankengänge als »Marotten« abhaken. Von der Ignoranz profitiert die apologetische Übertreibung. So leicht es im Fall Wichtl ist, die Täuschung zu entlarven, weil Historiker sich mit dem betreffenden Lebensabschnitt befasst haben, sind die Verschwörer anderweitig oft die einzigen, die sich äußern, denen mit keinem gesicherten Kenntnisstand der Wissenschaft zu widersprechen wäre. Komplexere Täuschungen erkennen ohnedies nur jene, denen die Sachverhalte vergleichbar geläufig sind wie den Obskurantisten. Wie ein gemeiner Internet-User geht auch der durchschnittliche deutsche Geschichtsstudent in die meisten Fallen.
HH, Reichsbauernführer R. W. Darré und Auschwitz-Kommandant R. Höß gehörten zum 1926 gegründeten »Bund Artam«, später »Bund der Artamanen«. Ein Ableger der ökologisch-kommunistischen Sekte existiert weiter in Mecklenburg: A. Röpke/A. Speit, Mädelsache!, 3. Aufl. Berlin 2011, 205 ff.
Die Himalaya-Expedition dauerte von April 1938 bis Aug. 1939. Sie wurde vom Werberat der Deutschen Wirtschaft und Sponsoren finanziert, deren einer HH war. Seiner Absicht nach hätte sie herausfinden sollen, dass die Bewohner von Atlantis von ihrem versinkenden Kontinent auf das tibetanische Hochland geflohen seien, um eine Kultur zu gründen, von der Europa aus kolonialisiert wurde. HH scheiterte damit, die Reise in seine Regie zu nehmen, und sie verfolgte schließlich andere Ziele. Geleitet wurde sie vom Ahnenerbe-Mann Ernst Schäfer (1910–92), der seine Karriere nach 1945 als Kustos des Niedersächsischen Landesmuseums in Hannover fortsetzte.
Esoterische Sendung: 1962 erschien Le Matin des Magiciens von L. Pauwels/J. Bergier (Aufbruch ins dritte Jahrtausend, Bern 1967), das die Richtung vorgab. Als erster befasste sich 1974 der kanadische Wissenschaftler M. H. Kater mit der »Geisteswissenschaft« der SS (Das »Ahnenerbe« der SS 1935–1945, Stuttgart); sein Buch ist bis heute singulär.
Totschlag Busbahnhof: Presseberichte über den Prozess sind zweifelhaft. Wie erwartet und am 20.9.12 von der Staatsanwaltschaft Stade bestätigt, ist das einzige amtliche Zeugnis, die schriftliche Urteilsbegründung, nicht einsehbar. Einer, der dienstlich befugt ist, sie zu lesen, erteilte mir Auskünfte, ebenso wie im Nov. 2012 der damalige Anklagevertreter, Oberstaatsanwalt i. R. V. D., Stade. → Die Braunen Banditen von Buxtehude und → Das Nest in der Nordheide
Aussteiger zit. n. B. Rommelspacher, »Der Hass hat uns geeint«, Frankfurt/M. 2006, 30.
Keine Szene-Bindung: Im Buch des Buxtehuder Politologen W. Gessenharter, Kippt die Republik?, München 1994, 177, dient der Fall Schneeclaus als Beispiel, dass »bei vielen Gewalttaten keine direkten Verbindungen in die neonazistische Szene nachweisbar« seien. Die Polizei ermittelte zunächst Richtung Raubüberfall, der Staatsschutz war nicht eingeschaltet. Das heutige Ressort der Staatsanwaltschaft für »extremistische, ausländerfeindliche und antisemitische« Strafsachen war noch nicht eingerichtet. Das Gericht untersuchte keine Bandenbildung; die war nicht angeklagt, danach wurde nicht gefragt. »Mindestens einer der Täter ist der organisierten Neonazi-Szene zuzurechnen«, machte die Antifa bei einer Demonstration am ersten Jahrestag der Tat bekannt. Die Gruppe stand in Verbindung mit der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei FAP und zu ihr gehörte die Tochter eines NPD-Funktionärs, die später selbst Aufgaben in der Partei übernahm.
Landfriedensbruch: Berufungsverfahren 5.8.11 Landgericht Stade.
Lemke: Der Spiegel 13/97; Hertener Aktionsbündnis gegen Neofaschismus (Hg.), Thomas Lemke. Ein »irrer Einzeltäter«?, 1996, 19; vgl. Hertener Aktionsbündnis (Hg.), Neonazistrukturen im Kreis Recklinghausen, 1996 u. Der Prozess am Landgericht Essen gegen Thomas Lemke, 1997/2002; unter Pseudonym in S. Harbort, Mörderisches Profil, München 2004, 337–369. → Der Serienmörder, der kein Neonazi sein sollte
Der von Kommunisten bevorzugte Terminus Faschismus für den Nationalsozialismus täuscht über die Unterschiede der Herrschaftskonzepte und die eigene Verwandtschaft. »Zweifellos«, bemerkt C. Townshend, Terrorismus, Stuttgart 2005, 61 f., »waren der Wille zu morden und die Ausführung dieser Absicht sowohl im nationalsozialistischen Deutschland als auch in der UdSSR Stalins, viel, ja fast unermesslich viel ausgeprägter als in Italien.« Inwiefern Hitler Stalin näher stand als Mussolini, begründete S. Haffner, Anmerkungen zu Hitler, Frankfurt/M. 1997, 47 ff., 71: »Faschismus ist Oberklassenherrschaft, abgestützt durch künstlich erzeugte Massenbegeisterung. Hitler hat wohl Massen begeistert, aber nie, um dadurch eine Oberklasse abzustützen. Er war kein Klassenpolitiker, und sein Nationalsozialismus war alles andere als ein Faschismus.« Wie die nationalistischen wollen die marxistischen Sozialisten einen »neuen Menschen« nach ideologischen Maßstab schaffen und darauf ihren Staat bauen. »Klassenlose Gesellschaft« ist ein Synonym für »Volksgemeinschaft«. Der Hauptwiderspruch besteht nicht zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern zwischen Individualismus und Kollektivismus. Sowohl NS-Staat wie DDR organisierten die Menschen von der Wiege bis zur Bahre in Partei-Kollektiven. Haffner 1978: »Selbstverständlich, die Lieder, die gesungen, und die Reden, die gehalten werden, waren damals im Dritten Reich andere als heute in der DDR. Aber die Beschäftigungen – das Wandern, Marschieren und Kampieren, das Singen und Feiern, das Basteln, Turnen und Schießen – waren nicht zu unterscheiden, ebenso wenig die unleugbaren Geborgenheits-, Kameradschafts- und Glücksgefühle, die in solchen Gemeinschaften gedeihen. Hitler war darin unzweifelhaft Sozialist – ein sehr leistungsstarker Sozialist sogar –, dass er die Menschen zu diesem Glück zwang.« Das revolutionäre Subjekt der marxistischen Doktrin, die Arbeiterklasse, stand nicht im Widerstand gegen Hitler, sie wurde nicht von ihm überwältigt, sondern jubelte ihm ebenso zu wie Kleinbürger und Großkapitalisten, die von der Theorie für den »Faschismus« verantwortlich gemacht werden. Heute wird der Widerstand gegen das NS-Regime vor allem mit Angehörigen der Adelskaste identifiziert, an der sich Mussolini orientierte. Nach 1989 traten die Ähnlichkeiten zwischen dem real existierenden Sozialismus und dem Nationalsozialismus schärfer hervor. In Ostdeutschland punkten Neonazis sowohl damit, sich von der real existierenden Demokratie abzugrenzen und eine »Volksherrschaft« der weißen Rasse zu fordern, während sie zugleich die »Ostalgiker« mit dem Sozialismus-Bezug zu ködern hoffen. Als anti-kapitalistisch gaben sie sich bereits vor 1989 aus. »Wir lehnen die kapitalistisch-kommunistische Ideologie des Einheitsmenschen ab«, schrieb ein NPD-Funktionär (A. Dammann an Stern 7.2.84 [siehe Braune Eminenz]). Die Formulierung ist keineswegs paradox. Haffner: »Auch ein sozialistischer Staat muss Kapital akkumulieren, erneuern und erweitern; die Arbeits- und Denkweise eines Managers oder Ingenieurs ist im Kapitalismus und im Sozialismus genau die gleiche, und Fabrikarbeit ist auch in einem sozialistischen Staat unvermeidlich entfremdete Arbeit«. Der »Bolschewismus« galt der NSDAP als »jüdisch«, und hinter dem Kapitalismus versteckt sich in Neonazi-Sicht »das internationale Judentum« in Gestalt der Finanzmakler der New Yorker Wall Street, der »Ostküste«.
Trennung der Sphären: Frühj. 2012 erschien eine Studie, wonach Judenhass nicht nur bei den üblichen Verdächtigen, den Ungebildeten und sozial Deklassierten, den Blöden und Armen, im Schwange sei, sondern »tief in der Gesellschaft verankert«; für 20 Prozent der Bevölkerung wurde ein »latenter Antisemitismus« veranschlagt. Erstaunt wie erschreckt verbreiteten Medien die »neue Erkenntnis«, »Jude« sei als Schimpfwort im Gebrauch. Darauf war wenigstens durch das Buch eines Berliner Journalisten lange hingewiesen worden: P. Gessler, Der neue Antisemitismus, Freiburg i. Br. 2004. Im Deutschlandfunk-Interview erzählte der für die Studie verantwortliche Historiker P. Longerich von einer antisemitischen Alltagsbegebenheit in Berlin wie von einem Damaskus-Erlebnis. Er lebt und lehrt in Großbritannien. Ein Historiker muss sich nicht um die Gegenwart kümmern. Äußert er sich aber dazu, sollte er wissen, wovon er redet. Longerichs Unkenntnis des Neonazismus, die er mit deutschen Akademikern teilt, führt in seiner HH-Biografie zu Fehlschlüssen. Als Beleg dafür, dass »Himmlers Versuch, mit Hilfe von heiligen Orten, besonderen Ritualen und symbolträchtigen Gaben die SS-eigene Weltanschauung zu zelebrieren […] über Ansätze nicht hinaus« gekommen sei, nennt Longerich (Heinrich Himmler, München 2008, 308) als Beispiele ausgerechnet den Sachsenhain in Verden/Aller, die Wewelsburg bei Paderborn und die Externsteine im Teutoburger Wald. Alle drei sind Wallfahrtsorte für Neuheiden und Neonazis. Dass die Burg inzwischen dem Andenken der im angeschlossenen Konzentrationslager Gepeinigten und Ermordeten geweiht ist, schreckt Verehrer von keiner Pilgerfahrt ab. (M. Weisfeld, Die schwarze Sonne, Radio Bremen/Deutschlandfunk 1998; aus »rechter« Sicht in Junge Freiheit 40/97; von »links« in jungle world 9.9.04) Den Kult um die 13 Externsteine als vorchristliche Weihestätte hat HH nicht erfunden, sondern einen seit Ende des 19. Jahrhunderts in völkischen Kreisen geschaffenen Nimbus aufgegriffen und verstärkt. Er wies sie als Schutzgebiet aus, um dass er sich eingehend besorgte: »Dauernd beobachtet werden müssen alle Kleinigkeiten wie Tafeln, Wegzeichen, Körbe für Papier und Abfälle, die geschmackvoll sein und unauffällig angebracht werden müssen«. Germanys Pendant zu Stonehenge zieht Mondsüchtige aus aller Welt an, Deutschgläubige wie Muttergottheitsanbeter und Gothics. (R. Sünner, Schwarze Sonne, Film 1998; ders., Schwarze Sonne, Freiburg/Br. 1999; T. Brock, Alles Mythos, Darmstadt 2014, 187 ff.) In Literatur über Kultstätten (W. F. Schoeller, Deutschland vor Ort, München/Wien 2005; H. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009) kommt diese Erbschaft nicht vor. (→ Kultfindlinge) Als verfügten die Redakteure weder über Gedächtnis noch Archive wurde in den Medien im Aug. 2015 das Schimpfwort »Jude« wiederum als Neuigkeit verbreitet. Ein Beleg für die Einschätzung, dass über das Fortleben des Nationalsozialismus in den Köpfen »entweder hysterisch oder gar nicht geredet« wird (T. Staud, Moderne Nazis, Köln 2005).
Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen, Freiburg/Br. 2005, 367, vgl. 495 ff., 871 ff.
Anderes Buch: G. Willms, Die wunderbare Welt der Sekten, Göttingen 2012, 136 ff.
»Ich Esel glaube noch, dass in deutschen KZs Juden vergast wurden«. Die von Edgar Geiss (1929–92) angeleitete Demonstration, an der Michael Kühnen (1955-91) und Christian Worch (Jg. 1956) teilnahmen, imitierte die NSDAP, die unter dem Motto »Nur ein Esel kommt ins Konzentrationslager« mit einem leibhaftigen Tier »Werbung« gemacht hatte. Die Aktion von 1978 wurde vielfach kopiert, so 2004 in Hamburg zur Ausstellung Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht; 2005 bei der Verteilung von »Schulhof-CDs« in Berlin; 2012 bei Wahlkämpfen der NPD: »Ich Esel glaube, dass der Euro uns Deutschen nutzt«. Worch operiert seit den 1990ern als »Bewegungsunternehmer« (A. Klärner/M. Kohlstruck (Hg.), Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, Hamburg 2006, 151), zuletzt mit der 2012 rücksichtlich eines Verbotsverfahrens gegen die NPD gegründeten Partei Die Rechte. Braune Biografien
S. Sontag, Im Zeichen des Saturn, München/Wien 1981, 161.
NS-Germanentum: H. Döbler, Die Germanen, Berlin/München/Wien 1975; H. Wolfram, Die Germanen, 7. Aufl. München 2002; B. Maier, Die Religion der Germanen, München 2003.
Das Ahnenerbe selbst ist legendär: J. Sparschuh, Der Schneemensch, Köln 1993, schreibt ihm eine Himalaya-Expedition zu, die nie stattgefunden hat; T. Greanias, Die Atlantis-Prophezeiung, München 2009, erfindet einen fiktiven Nachfahren des Geschäftsführers Wolfram Sievers; S. Berry, Antarctica, München 2011, erdichtet einen Direktor. In B. Aaronovitch, Der böse Ort, München 2014, wird aus dem Werwolf ein schwarzmagisches Einsatzkommando.
Lokalblatt: Stader Tageblatt 12.12.12.
»Mittlerweile ist die Gothic-Szene in einer so genannten Schwarzen Szene aufgegangen, für die nicht klar ist, ob oder inwieweit sie jenseits einer schwarzen Ästhetik überhaupt Gemeinsamkeiten hat«, heißt es in einem Buch, das alle NS-Verbindungen unterschlägt: G. Willms, Die wunderbare Welt der Sekten, Göttingen 2012, 265.
Todesurkunde »Registernummer 1841/47«: H. C. Pless in Lüneburger Landeszeitung 3./4.10.64 u. Lüneburg 45, 4. Aufl. Lüneburg 1982 (nach persönlicher Einsichtnahme, wie P. mir sagte); Schreiben Stadt Lüneburg 10.9.99; U. R. in blick nach rechts 17/00. Die Ausstellung könnte mit dem Rechtsstreit um das Anwesen in Gmund zu tun haben: HHs Nachlass wurde vom Staat eingezogen, das Haus jedoch 1948 seiner Witwe zuerkannt. (Der Spiegel 49/48)
G. Burwitz zit. n. Süddeutsche Zeitung Magazin 35/00; vgl. Berliner Morgenpost 19.4.98, blick nach rechts 8/98; O. Schröm/A. Röpke, Stille Hilfe für braune Kameraden, Berlin 2001; Mail Online 17.6.11, Express 19.6.11. BILD berichtete im Juni 2018 den Tod der 88-Jährigen – und dass sie für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet hat.
E. Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1980
D. Sinn, Das große Verbrecherlexikon, Herrsching 1984.
R. M. W. Kempner, Ankläger einer Epoche, Frankfurt a. M./Berlin 1986.
H. R. Trevor-Roper, Hitlers letzte Tage, 2. Aufl. Frankfurt a. M./Wien/Berlin 1995.
W. Frischauer, Himmler. The Evil Genius of The Third Reich, London 1953.
S. Haffner, Germany: Jekyll & Hyde [1940], München 1998, 80, 88; ders., Anmerkungen zu Hitler, 14. Aufl. München 1978, 155.
Räuber: G. Radbruch/H. Gwiner, Geschichte des Verbrechens, Stuttgart 1951, 280 ff.
Schiller, F., Der Verbrecher aus verlorener Ehre, Stuttgart 1964, 5. Bei T. Snyder, Black Earth, München 2015, 345 f.. lese ich eben: »Unsere Vergesslichkeit lässt uns glauben, wir seien anders als die Nazis, denn sie verschleiert, worin wir uns gleichen.«
Erzählungen der Gehilfen: Über Opa und Uropa als Nazi wissen Neonazis am Besten Bescheid. Gemeinhin können die Deutschen kaum angeben, wo sich ihre Ahnen im Krieg aufgehalten haben; Neonazis kennen Truppenteile und Gefechtsberichte. Sie haben besondere Gründe, sich auf die »Blutlinie« zu berufen und blieben lange unter sich damit, eine andere Erbfolge anzunehmen als nur die ethisch abstrakte, die dem deutschstämmigen Individuum als »Kollektivscham« (Th. Heuss) zukommt. Bis in die 1980er wurden Neonazis von Altnazis angeleitet. Untersuchungen darüber gibt es nicht. Sozialpsychologische Studien stützen sich fast ausnahmslos auf die Aussagen von »Aussteigern« und fragen nicht nach der Familiengeschichte. Von einzelnen ist der Einfluss von Altvorderen bekannt. Mentor des Gladbecker Serienmörders Thomas Lemke (Jg. 1968) war ein ehemaliger französischer Waffen-SS-Mann. Der »Anti-Antifa«-Aktivist Andreas »Hacki« H., dessen erste 23 Lebensjahre im Standardwerk über Skinheads (K. Farin/E. Seidel, Skinheads, 5. Aufl. München 2002, 59 ff.) beispielhaft für den Weg in den organisierten Neonazismus geschildert werden, beruft sich neben Landser-Heften auf den Großvater, von dem er erfuhr, wie die Juden damals die Deutschen »beschissen haben«. (→ Braune Biografien) Der Großvater war auch die Hauptquelle des Weltbildes von Zog Sux (Jg. 1977, siehe → Schatten aus der Zeit u. Zog Sux und das Rowdytum).
Gröning: Neue Stader 13.6., 4.7., 18.7.15. (Ehrenmänner)

© Uwe Ruprecht

Auszug aus HIMMELREICH HIRN, Graphic Essay über Heinrich Himmlers letzte Tage. Siehe unten auf diesem Blog.

Weitere Auszüge:

Himmlers Ende (1)
Himmlers Ende (2)
Himmlers Ende (3)
Himmlers Ende (4)
Himmlers Sterndeuter
Der letzte Mordbefehl

Siehe auch

Himmlers Höllenfahrt
Tod im Erkerzimmer
Das Grab im Wald