Verbrechen im Verblendungszusammenhang

„Ein Großteil der aktuellen Berichterstattung über den letzten Samstag betreibt und fördert einen Diskurs der Täter-Opfer-Umkehr“, heißt es in einer Stellungnahme der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Bund e. V.“ über die Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt in mehreren deutschen Städten am 6. Juni 2020. (→ isdonline) Weiter steht da: „Oft wurde unkommentiert die polizeiliche Darstellung reproduziert.“

Die Verblendung, der die Initiative offenbar unterliegt, teilt sie mit dem Gros der Medienkonsumenten, inklusive der Politik, die einschlägige Entscheidungen auf der Basis dessen fällt, was ihnen die journalistische Klasse offeriert. Nicht nur diesmal wurde lediglich kopiert und als Bericht verbreitet, was die Polizei für geboten hielt; so wird in den Redaktionen weder jetzt noch zu anderen Zeiten „oft“ oder selten vorgegangen, vielmehr ist es das Standardverfahren.

Die Schlussfolgerungen, die über das Verhalten der Polizei gezogen werden, stehen auf tönernen Füßen. Was immer die Mehrheit der Bevölkerung über Polizeiarbeit zu wissen meint, kann nur zu einem Bruchteil auf eine kritische Berichterstattung zurückgreifen. Gleichgültig, worüber debattiert wird, beruhen die Kenntnisse, mit denen argumentiert wird (sofern immerhin das geschieht und nicht nur Hetzbotschaften ausgetauscht werden), auf Mitteilungen der Polizei.

Ich betätige mich seit drei Jahrzehnten als Verbrechensversteher und habe sowohl historische Kriminalfälle untersucht (→ Pitavalgeschichten) wie als Polizei- und Gerichtsreporter gearbeitet (→ Kriminalgeschichten). Über die Abweichungen zwischen dem, was Publikationen zu entnehmen war, und dem, was ich nach gründlicher Prüfung für Tatsache hielt, klaffte stets ein Spalt, der sich oft zum Abgrund einer Legende öffnete (→ Himmlers Ende).

Ich habe mich häufiger über diese kognitive Dissonanz ausgelassen, als ich zählen kann, und verweise an dieser Stelle nur auf ein schlagendes Beispiel (→ Unter Betrügern). Sie besteht keineswegs nur im engeren Feld der Berichterstattung über Kriminalität. Vielmehr ist das bloße Abschreiben dessen, was eine interessierte Partei abgesondert hat, ebenso Usus in etlichen anderen Bereichen dessen, was von den professionellen Medien als berichtenswert angesehen wird.

Demonstrationen gehören zu den Ereignissen, bei denen die Polizei in Erscheinung tritt, die noch am besten von unabhängiger Seite belichtet werden. Freilich auch nicht immer; und wenn, dann finden die machbaren Beobachtungen keineswegs zwangsläufig Platz in den traditionellen Medien, wie über die längste Zeit und bis heute, wenn es zum Beispiel um Neonazismus geht. (→ Braune Bande)

Journalist*innen sind in der selben Lage wie die Mehrheit ihrer Leserschaft: mit der Polizei haben sie nur sehr ausnahmsweise zu tun. Sie wissen meist nicht, wovon sie reden, wenn sie sich fallweise über ein Ereignis auslassen, ob sie es nun mit eigenen Worten und Bildern tun oder sich ganz auf das verlassen, was die Polizei ihnen liefert. Soweit es die Erfahrungen anbelangt, die ich als Privatperson in sechs Jahrzehnten machen konnte, wäre ich nicht besser informiert als sie.

Lese ich von Polizeigewalt auf einer Demonstration könnte ich insofern allenfalls auf Begebenheiten der 1980er Jahre zurückgreifen, deren Zeuge ich wurde. Was ich heute darüber weiß, geht auf Erkenntnisse zurück, die ich als professioneller Unbeteiligter in Archiven, auf der Straße und im Gerichtssaal gewonnen habe.

Die Abhängigkeit der Medien von der Verlautbarungen der Polizei hat einen offenkundigen Pferdefuß, der die Verblendung über Verbrechen nicht nur illustriert, sondern darauf verweist, wie wenig demokratisch die Berichterstattung angelegt ist. Im Rechtsstaat wird das, was die Polizei ermittelt hat, nicht nur pro forma, sondern idealiter tatsächlich bis ins Detail von der Justiz überprüft, bevor diese zu einem Urteil über die in Rede stehenden Sachverhalte gelangt.

Das dauert bekanntlich allen zu lang, ob in den Medien oder in den Kommentarspalten der Sozialen Netzwerke. Und fast alle fällen ihr Urteil noch in derselben Minute, in der sie das erste Mal von dem betreffenden Geschehen gehört haben; erfahren haben durch die pure oder umformulierte Mitteilung dessen, was die Polizei zur gegebenen Stunde laut zu sagen für geboten hält.

Unschuldsvermutung? Scheiß drauf! Ermittlungstaktische Gründe? Faule Ausrede! Das Gericht, das nach soundsoviel Verhandlungstagen ein Urteil fällt, wird angefeindet, wenn die Strafe nicht so ausfällt, wie sich nach der ersten Medienmeldung gewünscht wurde. Dass die Richter*innen alles das berücksichtigt haben, wovon außerhalb des Saales nie jemand erfahren wird, liefert Vorwände für weitergehende Vorurteile über den Rechtsstaat, dessen Funktion kaum begriffen worden ist, und mit der nur, wie gesagt, zufällige Erfahrungen gemacht wurden.

Wie willkürlich ist, was über Polizeiarbeit aus vorgeblich berufenem Munde in die Welt gesetzt wird, zeigt sich aktuell. Während „die Polizei“ für ihr Verhalten bei einer Demonstration in Hamburg am Pranger steht, wird „die Polizei“ in Nordrhein-Westfalen für ihre Arbeit an der Aufdeckung eines mutmaßlichen Kinderschänderrings gelobt und nicht nur nicht angefeindet, sondern bemitleidet.

Es soll nicht den Respekt vor den Ermittler*innen mindern, wenn ich darauf verweise, auf welcher dürftigen Kenntnis der wirklichen Verhältnisse die Äußerungen beruhen. Was gemeinhin über Kindesmissbrauch gewusst wird, geht auf Filmbilder oder Romane zurück, auf Erfindungen, bei denen kaum jemand (außer Betroffenen, Polizisten und Juristen) den Wahrheitsgehalt einschätzen kann. An einem anderen Beispiel habe ich unlängst auf die Falle hingewiesen, die sich dabei öffnet (→ Dengler: Fake und Fiktion).

Wenn bei den paar spektakulären Fällen von Kindesmissbrauch, die es in die überregionalen Medien schaffen, darauf hingewiesen wird, wie bedeutend die Aufmerksamkeit des Umfelds für die Entdeckung und Verhinderung von Taten sein kann, geht die Ermahnung ins Leere. Solange über diese Form des Verbrechens vor allem Fiktionen im Umlauf sind, kann sich Achtsamkeit schwerlich an den richtigen Stellen bilden. Die gelegentliche mediale Aufregung über solche Kriminalfälle hat in den 20 Jahren, die ich dabei aus der Nähe überblicke, nichts zum Schutz der Opfer beigetragen. Wenn nicht gar das Gegenteil eingetreten ist. (→ Die Weide des Bürgermeisters / → Kindesmissbrauch vor Gericht)

Die Spekulationen über Polizeigewalt werden soeben angeheizt durch einen Videoclip, der nicht einmal aktuell ist. Er besagt nichts, und ich habe ihn mir nur deshalb zwei Mal angeschaut, weil ich bemerkte, dass ich einst unweit des Tatorts, einer Straßenecke in Hamburg-Horn, gewohnt habe.

„Der Clip besagt nichts“, heißt in diesem Augenblick keineswegs, dass er nicht das besagen könnte, wozu er als Beispiel herangezogen wird. Sich dazu jedoch jetzt ohne weitere verlässliche Informationen zu äußern ist fahrlässig.

Ich stelle nicht in Abrede, dass es übertriebene Gewaltanwendung durch Polizist*innen gibt; aber die Anwendung unmittelbaren Zwangs ist nicht nur zulässig, sondern kann das einzige Mittel sein, um Ruhe und Ordnung herzustellen. (Über ein ähnliches Video wurde unlängst erst, viele Monate nach dem Ereignis, vor Gericht befunden. → Das Prügel-Video von Stade)

Muss es gesagt werden? Am Rande einer Großdemonstration in Hamburg kam es also zu einer Situation, in der sich die Polizei womöglich nicht korrekt verhalten hat. Das bricht nicht den Stab über die gesamte Polizeiarbeit an jenem Tag.

Dass und wie der Vorfall bekannt wurde, relativiert außerdem den Vorwurf an die Medien, es werde „unkommentiert die polizeiliche Darstellung reproduziert“. Die Zeiten sind vorbei, in denen Medienschelte das einzige Mittel war, sich zu äußern, etwa in Leserbriefen an eine Zeitung. Das Geschehen wurde von einer Augenzeugin, die noch dazu prominent ist, zuerst über twitter kommuniziert.

Außer bei Demonstrationen besteht weiterhin ein Monopol der Medien darüber, was die Bevölkerung von Polizeiarbeit erfährt und als verbrecherisch ansieht. Die Komplizenschaft von Presse und Polizei steht der demokratischen Gewaltenteilung entgegen. Freilich ist auch nicht zu erwarten, dass die Medien sich selbst die Maske herunter reißen. Schon gar nicht, wenn sich wie im eingangs zitierten Statement beim Diskurs über die wirklichen Verhältnisse zwischen dritter und vierter Gewalt getäuscht wird.

Siehe auch → Die Bande des Opfers