Marx im Visier von Bilderstürmern

Mit der Statue eines Sklavenhändlers in Bristol fing es an (→ Das Erbe der Sklavenhändler), jetzt laufen die als Guthmenschen maskierten Maulhelden auf twitter Amok und überbieten sich gegenseitig mit Vorschlägen, welches Denkmal als nächstes dran sein soll. Aktuelles Ziel der Bilderstürmer ist Karl Marx.

Ich habe kein grundsätzliches Problem damit, durch Sachbeschädigung eine Ansicht kund zu tun (→ Der Klotz steht noch), sehr wohl aber damit, dass Erwachsene (oder die sich dafür halten), sich wie Kinder benehmen und verbale Ausfälle als politisches Verhalten ausgeben. „Haut den Marx (oder wen auch immer) weg“ zu twittern, offenbart ledigich die mörderische Dummheit derer, die sich zu Wort melden.

Marx wird von den Zwitscherern für den Kommunismus Lenins und Stalins in Haftung genommen, oder der konvertierte Jude wird für antisemitische Äußerungen gegeißelt, als bedeute Geschichte gar nichts. Diktatorische Regimes verfahren so: sie schreiben die Geschichte in ihrem Sinne um, tilgen alle realen Widersprüche und geben vor, ihre Weltanschauung sei die einzig wahre und schon immer gültig gewesen.

So operierten die Nationalsozialisten. Doch dadurch, dass die Alliierten nach 1945 fast alles abräumten, was ein Hakenkreuz trug, ist die Geschichtsklitterung des NS-Staates durch Denkmale und Statuen in Vergessenheit geraten. Das Beispiel zeigt hinlänglich, wie fruchtlos Bilderstürmerei ist: der Nationalsozialismus hat als Gesinnung überlebt, und das Hakenkreuz ist weiterhin in der Welt.

Eben erst wurde an einer Stelle das strafbare Symbol nicht entfernt, aber abgedeckt, um nach der Devise verfahren zu können, der auch die Möchtegern-Statuenkiller folgen: aus den Augen, aus dem Sinn. (→ Welttheater im Wald) Man darf froh sein, dass die twitter-Schreihälse die Kunststätte Bossard bei Jesteburg nicht kennen, sonst kämen sie auf die Idee, sie abzureißen, weil es dort ein Hakenkreuz gibt, und ihnen ein Indiz genügt, um ihr Urteil zu fällen.

Verderblicher als Denkmäler und Statuen, die als nicht mehr zeitgemäß empfunden werden, ist die Geschichtslosigkeit derer, die Sachverhalte nach aktueller Schlagzeilenlage einschätzen und jede Gelegenheit ergreifen, einen Mob zu bilden. Freilich rotten sie sich nur virtuell zusammen, und noch muss man sich keine Sorgen um diese oder jene Marx-Statue machen, weil ein paar Zeilen zu twittern ziemlich mühelos vonstatten geht, jedoch erheblich mehr Überzeugung und Entschlusskraft erforderlich ist, um buchstäblich tätig zu werden.

Den Anti-Marx-Statuen-Thread, den ich verfolge, hat ein Redakteur der BILD losgetreten, eines Blatts, das seit je seine Auflage dadurch zu steigern versucht, indem es die Leute aufhetzt. Im Antikommunismus ist BILD konsequent; auf anderen Gebieten geht die Hetze an sich vor, und ein beliebtes Spiel der Redaktion besteht darin, eine Person aufzubauen, um sie bei passender Gelegenheit zu demontieren. Ein ehemaliger Bundespräsident könnte davon ein Lied singen, und zahllose andere Prominente haben erfahren, wie es ist, zunächst gehätschelt und dann getreten zu werden.

Die Geschichtsvergessenheit derer, die nun gegen Marx twittern, beginnt in der Gegenwart. Die Statue in Bristol fiel, weil der Mord an George Floyd eine weltweite Debatte über Rassismus ausgelöst hat. Nun soll Marx daran glauben, weil einer vom Leitmedium des deutschen Rassismus die Vorlage dafür liefert.

Da ich kein Christ bin, muss ich denen, die nicht wissen, was sie tun, nicht vergeben. Vielmehr ist eine dringende Warnung angebracht vor allen, die sich am Bildersturm beteiligen. Nicht nur dort, wo Bücher verbrannt werden, sterben irgendwann Menschen. Sie sind auch in Gefahr, wenn Hirntote, angeregt durch twitter-Stichworte eines professionellen Hetzers, wahllos gegen Denkmäler und Statuen vorgehen zu können meinen.

Ich bin kein Marxist und habe keine sonderliche Sympathie für Statuen an sich. Aber gegen den twitter-Mob würde ich eine Marx-Statue verteidigen, weil sie selbst weitaus weniger schädlich ist als die Gesinnung derer, die sich anheischig machen, sie stürzen zu wollen.