Aufzeichnungen im Schatten des Corona-Virus
→ Erste Folge ab 28. März 2020

23. April: Der Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery hält die Maskenpflicht für „falsch“. Sie erzeuge ein trügerisches Sicherheitsgefühl und verleite dazu, den „allein entscheidenden Mindestabstand“ zu missachten.
Weil nicht ausreichend Schutzmasken verfügbar sind, könnten auch Schals und Tücher verwendet werden. Montgomery hält das für „lächerlich“ hält. Indem Behelfsmasken das Virus einfingen, könnten sie sogar die Gefahr der Infektion erhöhen.
Wozu dann das Ganze? Keine Antwort von der Politik, schon gar nicht in Niedersachsen, wo man bei der Entscheidung offenbar lediglich dem Herdentrieb der Bundesländer gefolgt ist und die Maßnahme noch dazu höchst populistisch in einer Talk-Show verkündet hat.
Woher ich bis Montag in Stade eine Maske bekommen soll, ist mir rätselhaft. Der Corona-Krisenstab des Landkreises, der höchst wichtig anscheinend täglich massenhaft zusammen tritt, wie sein Sonderparkplatz auf dem Sande anzuzeigen scheint, hat dazu nichts mitzuteilen.
Eine Maske selber nähen? Ich nähe nie, besitze kein Nähzeug und kenne kein Geschäft in der Stadt, in dem ich mich damit versehen könnte. Also werde ich mir für die paar Minuten, die ich beim Einkaufen im Supermarkt verbringe, einen Schal umbinden.
Das war bisher unnötig. Warum es nun wichtig sein soll, erschließt sich mir nur spekulativ: weil die Politik mehr Gedränge in den Läden will und davon ausgeht, dass der Mindestabstand nicht mehr eingehalten werden kann.
Dazu eine Meldung vom 8. April: „Airbus-Werk in Stade produziert Schutzmasken für Spanien“. Das nenne ich vorausschauende Wirtschaftspolitik.
Kinder würden sich nicht leicht anstecken, behauptet irgendein Schlaumeier im Radio und rechtfertigt damit die Öffnung der Schulen. Warum dann die Kitas weiterhin geschlossen bleiben, wird nicht nachgefragt. Allmählich entwickelt sich der Umgang mit Corona zum Narrenstadl. Doch zum Lachen ist da nichts, denn die Schwätzer spielen mit dem Leben.
■
Seit Montag sind die Geschäftsgassen der Stader Innenstadt eine Virenfalle mit mehr Gedränge als im Supermarkt während der vergangenen Wochen. Die wenigen Maskenträger fallen durch erhöhte Achtlosigkeit auf, als hätten sie einen eingebauten Sicherheitsabstand.
■
Freilich sind in Stade Touristen unterwegs, paarweise oder im Familienverband. Auf dem Fischmarkt, wo die Gastronomie brach liegt und sich sonst kaum jemand aufhält, fallen sie besonders auf, wenn sie die Aussicht bewundern und dabei überfordert sind, die wenigen sonstigen Passanten wahrzunehmen und mit ihnen kollidierten, würden diese nicht für sie mit Acht geben.
Alles wie sonst, ganz normal.
■
Die Fußballfunktionäre sind wild entschlossen, noch im Mai wieder Spiele auszutragen, und sie schwafeln von einem „medizinischen Konzept“, mit dem das ermöglicht werden soll. Mit Schutzmaske und Abstand? Wohl kaum.
Während die Bevölkerung auf Seuchengefahr eingeschworen ist, balgen sich die Ball-Millionäre auf dem Rasen, als sei nichts geschehen? Kein Wort von der Politik gegen diesen Leichtsinn, denn Leichtsinn gilt gegenwärtig als so schick, dass sich die Kanzlerin bemüßigt fühlt, dagegen zu wettern.
■
Er trage nur aus Höflichkeit eine Maske, lässt sich Weltärztepräsident F. U. Montgomery zitieren. Ich hatte nicht vor, mich für ein paar Minuten Pseudo-Schutz beim Einkaufen im Supermarkt in Unkosten zu stürzen (12 Euro soll eine Maske kosten, wird kolportiert) und ein halbes Dutzend Geschäfte abzuklappern, um herauszufinden, wo diese Wunderdinger überhaupt vorrätig sind — da wurde mir eine geschenkt.
Damit kann ich nun auch der neuen deutschen Höflichkeit genügen. Früher lüfteten Männer zur Begrüßung den Hut — jetzt wird also stattdessen die Maske vorgebunden.
■
Es ist amtlich: in Bussen und Bahnen müssen Schüler in Niedersachsen ab dem 27. April Masken tragen, die sie in der Schule absetzen können, weil dort angeblich ein Sicherheitsabstand gewährleistet werden kann.
Hamburg hat einen „Hygieneplan“ für die Schulen vorgelegt; was in Niedersachsen vorgehen soll, scheint geheime Kommandosache zu sein. Für die Lokalpresse in Stade ist die Schulöffnung kein Thema, sie kümmert sich lieber wie sonst um die Interna von Sportvereinen und alles das, was sich durch Abschreiben vom Schreibtisch aus erledigen lässt.
Ich habe keine Kinder und muss mich nicht fürchten, ab Montag selbst einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt zu sein, weil die Politik die Schulpflicht als Heiligtum behandelt und meint, den Risiken mit einer Maskenpflicht begegnen zu können.
Social distancing haben die Erwachsenen in einem Monat kaum gelernt, wie sich in dieser Woche in den Geschäftsgassen der Stader Innenstadt beobachten lässt. Die Kinder, die allein oder im Familienverband unterwegs sind, benehmen sich, als hätten sie nie davon gehört.
Eine Rückkehr zur Normalität Politikern anzuvertrauen, die noch nie dem Gedrängel von Schülern an einer Bushaltestelle begegnet sind, kann nicht gut gehen.
Corona verändert einen Alltag, der den Entscheidern unbekannt ist. Entsprechend traumtänzerisch gestaltet sich, was ihnen dazu einfällt.
Der Sonderparkplatz für den Corona-Krisenstab auf dem Sande in Stade symbolisiert die Distanz. Nicht einmal den Weg vom Parkplatz zum Kreishaus müssen die Verantwortlichen zurück legen und dabei einen Eindruck zu erhalten, wie schwer es ist, Abstand zu halten, seitdem man wieder Bücher, Blumen und Kleider kaufen kann.
Allenfalls die Frauen der Herrschaften, die den Haushalt besorgen, könnten eine Ahnung haben, was abgeht. Ob ihre Gatten sie danach befragen, bevor sie im Hinterzimmer weltfremde Anordnungen beschließen?

■
Das kommt bei den Lockerungsmaßnahmen heraus: Altpapier im Briefkasten. Die nicht-systemrelevanten Geschäfte müssen wieder öffnen, damit sie in der Zeitung Anzeigen schalten können.
Die Werbung wird mit redaktionellen Beiträgen garniert, die die Leserschaft auf unterschiedliche Weise betrügen. Auf eine dieser Arten wurde ich gestoßen, als ich im Journal des Stader Tageblatt auf meine eigenen Zeilen unter dem Namen einer Rentnerin lesen konnte, die diese im Internet aufgeklaubt hatte und diese als ihre eigenen auszugeben können meinte. (Siehe die editorische Notiz in → Bahnmeester Dod.)
Dazu hätten die vergangenen Corona-Wochen führen können: zu bemerken, was man braucht und was nicht. Das Altpapier im Briefkasten belegt, dass dieser Erkenntnisprozess ausgeblieben ist.
■
„Es war der erste Sonnabend nach der Wiedereröffnung der Geschäfte im Zuge der Corona-Lockerungen. In der Stader Innenstadt waren am Vormittag viele Menschen unterwegs. Sie hielten Abstand zueinander, viele trugen bereits Masken. Für den Wochenmarkt gelten besondere Auflagen.“ So berichtet der Lokalanzeiger.
Es waren so viele Menschen unterwegs wie seit Wochen nicht. Was den Zeitungsschreibern entgangen sein muss, da sie in dieser Zeit brav im Home Office saßen und die Wirklichkeit so wenig beachteten wie vorher.
Wer einer Ansteckungsgefahr entgehen wollte, mied Holzstraße, Pferdemarkt und Hökerstraße, wo die wenigsten auf Abstand achteten, und wenn sie es getan hätten, ihn nicht hätten einhalten können.
Welche besonderen Auflagen für den Wochenmarkt gelten mögen: sie waren wirkungslos. Die bisher Zuhause-Gebliebenen bewegten sich in und zwischen den Geschäften, als sei ihnen die Abstandsregel unbekannt. Sie setzten eine Maske auf und vertrauten darauf, dass andere aufpassten, nicht mit ihnen zusammen zu stoßen.
Der Lokalanzeiger, der noch inbrünstiger nachplappert, was ihm aufgetragen wird, als vor Corona, versagt vollständig, wenn er sich ausnahmsweise der Realität stellt.
Mit der Maskenpflicht wird das Gedränge zunehmen. Obwohl klar ist, wie wenig Schutz sie bieten, wird allenthalben über Masken palavert, als gelte die Abstandsregel schon nicht mehr. Die Autofahrer, die zu Hause mit der Familie zusammenhocken, haben das Abstandhalten kaum geübt und schon gar nicht verinnerlicht.
Einen der beiden Supermärkte in der Innenstadt habe ich gemieden, weil mir dort zu viele Achtlose unterwegs waren, und den anderen benutzt, der weniger frequentiert wird, und in dem sich daher auch vor denen der Abstand wahren lässt, die wie ehedem durch die Gegend hasten.
Am Samstag, 25. April war es für ein paar Stunden in der Stader Innenstadt, als gäbe es keine Virengefahr mehr. Der Tag war ein Warnsignal, das beim Lokalanzeiger entweder nicht gehört worden ist oder mit Bedacht unterdrückt wird.
Heraus kommt jedenfalls Schönfärberei. Mag jede(r) sich selbst fragen, wem das nutzen soll.

■
Registrierte Corona-Fälle im Landkreis Stade
23. April: 182
22. April: 178
21. April: 177
20. April: 177
19. April: 177
18. April: 175
17. April: 175
16. April: 175
15. April: 174
14. April: 173
13. April: 172
12. April: 170
11. April: 170
10. April: 165
9. April: 162
8. April: 160
7. April: 152
6. April: 152
5. April: 151
4. April: 141
3. April: 135
2. April: 127
1. April: 119
31. März: 117
30. März: 110
29. März: 109
28. März: 104
27. März: 99
26. März: 92
25. März: 80
24. März: 73
23. März: 66
22. März: 58
21. März: 53
20. März: 46
19. März: 35
18. März: 29
17. März: 29
16. März: 22
15. März: 17
14. März: 17
13. März: 17
12. März: 14
11. März: 13
10. März: 11
09. März: 7
08. März: 1
07. März: 1
06. März: 1
05. März: 1
■
„Wo Hamburg sich mit Masken eindeckt“ titelt das Stader Tageblatt. In der Tat: der Lokalanzeiger berichtet nicht darüber, wie sich in seinem Verbreitungsgebiet auf die Maskenpflicht vorbereitet wird, sondern schwätzt feuilletonistisch unverbindlich über die Lage in der Großstadt, die mit der in den Gemeinden und Städten im Landkreis so wenig zu tun hat, dass es sich nur um Wirklichkeitsverweigerung handeln kann.
In ernsten Zeiten ist eine Zeitung, die sich die Leugnung der Realität auf die Fahnen geschrieben hat, verantwortungslos und gefährlich.
■
27. April: Die Maskenpflicht in Bussen, Bahnen und Geschäften hat in den einschlägigen Gassen der Inneren Stadt von Stade zu erhöhter Achtlosigkeit geführt. Wer nicht alle paar Schritte in jemand hinein laufen will, muss selbst Acht geben und Slalom laufen. An manchen Stellen, wenn sie vor Geschäften Schlangen bilden, ist überhaupt kein Durchkommen ohne Gedrängel möglich. Für Verkehre mit Mindestabstand ist das Areal ungeeignet, und die Infektionsrate wird es belegen.
■
Befinden sich am einen Ende der Skala die Achtlosen, stehen am anderen Ende die Angsthasen. Das sind jene, die eine Maske tragen, auch wenn kein Mensch in der Nähe ist. Für sie scheint die Maske ein Fetisch ihrer Sorgen zu sein. Von ihren Viren geht weniger Gefahr aus als von ihrem Denken.
■
„Trotz der negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft warnte [der Forscher der Berliner Charité und Berater der Bundesregierung Christian] Drosten vor einer Abkehr vom ‚Lockdown‘ und einer Lockerung der Kontaktsperre. Es gebe bereits Hinweise auf ein Wiederansteigen der Infektionszahlen, womöglich im Zusammenhang mit dem Osterwochenende, ‚wo vielleicht einige Leute die Kontaktsperre nicht mehr ganz so ernst genommen haben‘, so Drosten. ‚Wir müssen jetzt leider mit einer Zunahme der Infektionszahlen rechnen.'“

■
Ich empfand es immer schon als unheimlich, wenn Leute mir ihre Gesichter dicht vor die Nase gehalten haben. Sehe ich jetzt in alten Filmen (also vom vorigen Jahr), wie die Schauspieler einander anspucken, schaudert es mich doppelt. Was mir sowieso als unhöflich aufdringlich vorkommt, ist inzwischen objektiv gefährlich.
Und wie eng die Leute in den alten Filmen beieinander stehen! Ein paar Wochen haben nicht gereicht, aber in ein paar Monaten wird es sich ganz anders anfühlen, wenn sich Menschentrauben bilden.
Die Masse Mensch ist auch abseits ihrer viralen Qualitäten ein ungeheures Wesen. (Schlage nach bei Le Bon, Freud, Canetti.)
■
Die AfD will alle Corona-Schutzmaßnahmen abschaffen und ein grüner Spitzenpolitiker die über 80-Jährigen ihrem wohlverdienten Tod überliefern. Wer hätte gedacht, dass die Seuche keinen Menschen besser macht.

■
Ein Gutes hat Corona: die erste Absage eines Schützenfestes wurde bekannt gegeben.
■
Wie solide sind eigentlich Wirtschaftsbetriebe, die nach einem Monat Einschränkungen bereits zusammenbrechen?
■
Und schon ist sie in vollem Gange, die Maskenmode. Zwei junge Damen, die nicht im selben Haushalt leben, spazieren eng nebeneinander und zeigen vor, was angesagt wird in den Sozialen Netzwerken. Die Maske wie längst das Hemd als Werbeträger: die Kassiererin im Supermarkt macht es vor und bedeckt die Atemwege mit dem Logo des Konzerns.
■
Coronas wegen ist der Wochenmarkt in Winsen/Luhe verlegt worden, wie das → Wochenblatt berichtet. In Stade hat man nur einen halbherzigen Versuch unternommen, diese Virenfalle zu entschärfen. Der Markt war vor etlichen Jahren schon einmal auf den leeren Platz Am Sande verlegt worden — aber den Kunden fehlte das Gedränge und den Strandbetreibern ging die Laufkundschaft ab. Wieso zwei Mal in der Woche ein Abstandsausnahmezustand zugelassen wird, versteht wohl niemand, der bei Verstand ist.

■
Sonderlich belebt war der Pferdemarkt zu Stade an einem Mittwoch um 22 Uhr nie. Muss schon eine Seuche ausbrechen, dass kein Taxi dort steht und niemand an diesem milden Frühlingsabend auf den Stufen vor dem Zeughaus sitzt. Würde nicht gerade ein Bus um die Ecke biegen, hätte ich meinen können, eine Neutronenbombe sei gefallen und hätte mich verschont.
Was google earth zur Zeit anzeigt:
■
Ein Heiligtum der Deutschen ist die Sicherheit. Sie sind gegen alles und jeden versichert und hätten gern, dass es so, wie es ist, ewig weitergeht.
Corona wirft das wohl geordnete Leben über den Haufen. Von Chaos kann keine Rede sein; die Verstörung ist relativ und weniger drastisch als anderswo in Europa.
Für die Deutschen genügt es bereits, um in Panik zu verfallen. Nicht der Todesgefahr wegen, sondern weil einige Aspekte des Alltags sich verändert haben.
In der Krise hechelt die Politik den sich stetig variierenden Erkenntnissen der Wissenschaft hinterher. Improvisation ist angesagt, aber die Deutschen wollen klare Ansagen bis zum Sanktnimmerleinstag. Mit dieser Haltung ist die Krise nicht zu bewältigen.
■
Dass sich, wenn ich die verschleiernde Berichterstattung richtig verstanden habe, fünf der bisherigen sechs Corona-Todesfälle im Landkreis in einem einzigen Alten- und Pflegeheim in Stade ereignet haben, wäre weiterer Aufklärung bedürftig, die selbstverständlich unterbleibt.
Zufällig hatte ich vor etlichen Jahren Gelegenheit, die Verhältnisse in der Einrichtung genauer kennen zu lernen. Dass sie nun auffällig geworden ist, hat mich so wenig verwundert wie das anhaltende Schweigen der Stellen, die in einer funktionierenden Demokratie Öffentlichkeit herstellen sollten.
Der Lockdown, der eigentlich keiner ist, erleichtert den Herren der Geheimkabinette, ihre Kamarilla-Politik noch unverschämter zu betreiben als sonst.
■
Die Auto- und Passantenverkehre in Stade sind an diesem Samstag, 2. Mai fast wieder auf Vor-Corona-Niveau, und ich komme mir überängstlich vor, wenn mir die sich allenthalben bildenden Ansammlungen von Virenschleudern unheimlich anmuten. Besonders angetan haben es mir jene, die zwar im Laden auf Maske und Abstand achten, aber auf der Gasse Tuchfühlung suchen.
Auf dem Wochenmarkt herrscht Maskenpflicht. Da er sich über mehrere Gassen erstreckt, dürften Passanten ohne Maske diese eigentlich nicht betreten.
■
„wie schaut es mit deiner [!] interesse für DEINE grundrechte aus? am samstag am pferdemarkt von 15:30-17.30 Uhr! oder hast auch DU KEINE zeit/interesse an DEINEN grundrechten?“
Mehr als diese Ankündigung aus dem Web erzählt, war am Samstag vor Ort nicht zu erfahren. Wofür, wogegen oder warum die etwas weniger als die angemeldeten 50 Personen auftraten, wurde den Passanten auch vor Ort nicht mitgeteilt. Man darf Corona-Leugner und sonstige Verschwörungstheoretiker vermuten, die zwei Stunden lang in Abstand wahrenden Fahrradreifen stumm herum standen.
■
Nachdem das unsinnige Daheimbleiben als Motto ausgedient hat, dessen Wirkung in der Vereinzelung und Verfamiliarisierung bestand, wird wie gehabt ausgeflogen. An diesem Sonntag, 3. Mai, herrscht in der Inneren Stadt ein Betrieb wie vor Corona. Paare und Familienverbände schlendern so achtlos umher wie gehabt und überlassen anderen, auf Abstand zu achten. Ein paar Lockerungen mehr, und die ganze bisherige Mühe war umsonst.
Nachdem zunächst nur Virologen in den Medien zu Wort kamen, wird inzwischen wieder in den gewohnten Bahnen politisiert. Neu ist allerdings, dass das Menschenverachtende mancher Positionen sich nicht nur indirekt und analytisch über lange Sicht wird aufzeigen lassen, sondern in wenigen Wochen schon in Kranken und Toten manifestiert.
■
Wie Schulöffnung in meinem Infektionsgebiet bewältigt wurde, erfahre ich aus den Medien nicht. In der Frankfurter Allgemeinen finde ich einen Artikel, der mir eine Ahnung verschafft, und in dem ich zwischen den Zeilen stets „Risiko“ lese.
■
„Ist Corona schon vorbei?“, fragt sich laut ein Passant, als er die Holzstraße betritt. Er selbst ist mit jemand, der nicht zu seinem Haushalt gehört, Schulter an Schulter unterwegs. Ohne vereinzelte Maskenträger sähe alles aus wie vorher. Wer einer Infektion entgehen will, muss die Geschäftsgassen von Stade meiden. Auf dem Pferdemarkt ist die Krise scheinbar schon vorbei.

■
5. Mai in der Stader Innenstadt: die Corona-Krise ist vorbei. Autos umkreisen wie sonst die Muschel, und Leute spazieren durch die Fußgängerzone, die sich dort nicht blicken ließen, solange es nichts zu kaufen gab.
Die Abstands-Aufmerksamkeit geht gegen Null. Und wer in der Hökerstraße zum Plaudern verweilt und sich dabei nicht zu nahe kommt, versperrt den Weg. Aber das macht fast nichts, denn die meisten Passanten haben kein Problem damit, in den Dunstkreis der anderen zu geraten. Wenn ich das Parfüm einer Frau riechen kann, die sich an mir vorbei drängt— bin ich dann auch ihren Viren ausgesetzt?
Jetzt müssen nur noch die Gaststätten am Fischmarkt öffnen, und alles ist wie früher. War Corona ein Fake, wie von Tag zu Tag mehr Menschen glauben?
Eben fährt die Polizei mit einem Streifenwagen über die Hafenpromenade, wo Autos eigentlich nichts zu suchen haben. Das gab es früher nicht. Der einzige Sinn solcher Patrouillen ist, dass sie ein schlechtes Beispiel geben.
Ein Nachhall der Krise besteht darin, dass immer mehr Autofahrer sich wie die Polizei angewöhnt haben, durch die leeren Gassen zu fahren. Das behalten sie ungeachtet der wieder zurückgekehrten Passanten bei und erzeugen an mehreren Stellen mehr Gedränge als vor Corona.

■
Markt am Mittwoch: Ich ziehe mich rasch aus dem Gewimmel in den Geschäftsgassen auf den Fischmarkt zurück, wo die „Neue Normalität“ noch nicht eingekehrt ist.
Abgesehen davon, dass ein Viertel der Passanten Maske trägt, wird gehetzt, geschlendert, gedrängelt wie ehedem. Abstand einzuhalten ist unmöglich. Die Verteilung der Marktstände auf mehr Plätze hat lediglich die Anzahl der Engstellen vermehrt. Wer diese Maßnahme erdacht hat, ist mit den Passantenverkehren in der Inneren Stadt nicht vertraut.
■
Alten- und Pflegeheime als Corona-Hotspots sind an diesem 6. Mai Thema des → NDR. Dass fast alle Corona-Todesfälle im Landkreis Stade im Stader Johannisheim verzeichnet wurden, wird lokal nicht näher erörtert. Warum nicht? Dumme Frage.
■
Die hauptsächliche Kontrolle über die Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche liegt seit dem 7. Mai förmlich wie tatsächlich beim Landrat im Kreishaus zu Stade. Er hat sein Amt durch kein Wählermandat erhalten und unterliegt praktisch keiner demokratischen Kontrolle. Mit seinen bisherigen Verlautbarungen zu Corona hat er deutlich gemacht, dass er meint, seine Arbeit nicht vor den Bürgern rechtfertigen zu müssen.
■
Abstandhalten ist out. Man bindet sich gelegentlich eine Maske um, hält sich für immun und geht mit anderen wie gehabt auf Tuchfühlung.
Ich ersuchte um einen Termin in einer Einrichtung und fragte am Telefon nach, wie man es mit Masken halte. Abstand würde genügen, hieß es.
Das Wartezimmer war auf die Straße verlegt worden, wo die Klientel durcheinander wuselte. Im Büro saß ich zunächst einige Meter entfernt, doch dann wechselte meine Gesprächspartnerin den Platz und kam mir auf Spuckweite nah.
Wäre ich zurückgewichen, wäre das die Neue Unhöflichkeit in der Neuen Normalität nach Corona. „Nach“ ist natürlich falsch; aber erzählen Sie das mal den anderen.
■
Bei aller Kritik: laut einer Grafik des → Wochenblatt liegen die Infektionswerte im Landkreis Stade (blau) unter dem Bundes- (grau) und Landesdurchschnitt (gelb) sowie des LK Harburg (orange).
■
Eine gewisse Kreativität darf man der AfD durchaus zusprechen. Mit Bollerwagen und als Sandwichmen zieht der Kreisverband an diesem Samstag, 9. Mai an dem das Gedränge wieder so ist wie ehedem, durch die Geschäftsgassen von Stade zwischen Holzstraße und Fischmarkt. Wofür oder wogegen die Neonazis protestieren oder demonstrieren muss hier nicht ausgeführt werden. Nur so viel: auf einem Schild wird ein Vergleich/ein Zusammenhang/eine Beziehung hergestellt zwischen Corona und → Contergan. (Mehr über den „Corona-Widerstand“ → hier)
■
Montag, 11. Mai: Die Cafés sind wieder geöffnet. Bei der Bestellung mit Maske muss ich mich in eine Liste eintragen, auch wenn ich mich draußen hin setze und niemand infizieren kann.
■
Auf → facebook wird mir gezeigt, wie katastrophal in Bayern mit Schulbussen verfahren wird. Das ist weit weg? Über die gesamte Lage nach Schulöffnung im Landkreis Stade erfahre ich, außer durch Gespräche, nichts. Weil es nichts zu berichten gibt, oder weil niemand sich zur unabhängigen Berichterstattung berufen fühlt und dafür bezahlt wird?
■
Wie einsam und verloren sich die Mehrheit in den vergangenen Wochen gefühlt haben mag, macht sie deutlich, indem sie allenhalben Gruppen bildet und in der Fußgängerzone auf Tuchfühlung geht. Endlich darf ich als Passant wieder die Parfümwolken von Damen einatmen, die es mir überlassen, Abstand zu wahren, und denen ich nicht ausweichen kann, wenn sie wie gehabt höchsteilig mit den Handy am Ohr und den Blick nach innen gerichtet durch die Gassen hetzen.
■
Ein Fundstück aus dem Netz: das Video einer Staderin zum Projekt „Inside Corona“ der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften mit → Videotagebüchern.
■
Die Lässigkeit, mit der in den Geschäftsgassen der Inneren Stadt von Stade auf die Seuche reagiert, tangiert mich nicht mehr; ich bin fort. Ich habe erstmals mit Maske die Bahn benutzt. Überflüssigerweise. Niemand in der Nähe.
Dann setzt sich gegenüber ein Jüngling hin, der seine Maske an der Unterlippe hängen lässt, um dann und wann einen Schluck aus seiner Energy-Dose zu nehmen. Ich überlege, mir einen anderen der vielen freien Plätze zu suchen und frage mich, warum der Bursche mir auf die Pelle gerückt ist. Herdeninstinkt vermutlich. Kann nicht allein sein.
■
Vorbei mit der Vernunft. Am 24. Mai gerät die Seuchenabwehr ganz unter die Räder der Politik. Der thüringische Ministerpräsident, ein Linker, geht auf seinen Hauptkonkurrenten Höcke und die Corona-Leugner zu und verkündet das Ende aller Vorsicht. Maske ab und Hand in Hand in die Kneipe.
Schluss mit allem Abstand und den „unglaublich harten Maßnahmen“, über die die AfD stöhnt. „Von staatlichem Zwang hin zu selbstverantwortetem Maßhalten“ beschreibt der MP sein Vorhaben zur Belebung der Gastwirtschaften. Lieber diesen Zwang als das Virus, sagt meine Selbstverantwortung.
Gerade wollte man die politische Klasse für ihre überwiegende Vernunft loben, da tritt dieses Exemplar hervor und gehorcht den Verantwortungslosesten unter den Bürgern. Höcke und Hildmann, der völkische Lehrer und der Steuerzahler, der meint, die Polizisten zu entlohnen, die ihn schließlich doch vorläufig festnehmen, sagen MP Ramelow, wo es lang geht. Beim gnadenlosen Populismus bildeten die Roten und die Braunen freilich immer schon eine Querfront. Und auf ein paar Tote mehr oder weniger kam es ihnen nie an.
■
Bis auf den Gang durch den Supermarkt muss mich die Seuche nicht kümmern. Passantenverkehr gibt es nicht. Außer Radfahrern kommt mir niemand zu nahe. Meine → Aussonderung erweist sich als Vorteil. Wer in der Gesellschaft nichts zu beschicken hat, ist prädestiniert für social distancing.
■
Corona ist aus den Medien so gut wie verschwunden. Parallel dazu wird sich auf twitter ausgiebig über Leute beschwert, die im ÖPNV keine Masken tragen, vor allem in Berlin.
Auf Fotos von den Anti-Rassismus-Demos am 6. Juni sehe ich kaum Masken, und die Leute stehen dicht gedrängt, als sei das Abstandhalten nur im Alltag geboten. Das verantwortungslose Verhalten, das Corona-Leugnern bei ihren Kundgebungen vorgeworfen wird, praktiziert man selbst anstandslos.
Heuchelei, wohin man sieht. Aber so war und ist die Masse immer, nachzulesen bei LeBon und Freud. Von Massen, egal wofür sie antreten, ist keine Vernunft zu erwarten.
■
Das Verbot von Massenveranstaltungen, so ist zu lesen, habe bereits vor Einführung der Kontaktsperre die Verbreitung des Virus verhindert und dazu beigetragen, dass Deutschland weniger Covid-19-Tote zu verzeichnen hat als andere Länder. Ist die Seuche also inzwischen ausgestanden? Oder wieso haben sich Zehntausende versammeln können? Ist die Seuche also tatsächlich eine Verarschung wie die Corona-Leugner behaupten?
Ich verspüre nicht das geringste Bedürfnis, gegen Rassismus auf die Straße zu gehen. Die Rassisten im personam tangieren Demos so wenig sie den strukturellen Rassismus vermindern. Auf den Anschein von Solidarität, der damit medial erzeugt wird, pfeife ich, denn vom Konsens derer, die sich auf der Straße selbst feiern, bin ich als alter weißer Mann ohnehin ausgeschlossen.
Gewiss gibt es hierzulande Polizeigewalt und sie ist fallweise auch rassistisch motiviert. Sie jedoch mit den US-Verhältnissen zu identifizieren ist demagogisch.
Am Tag danach sind facebook und twitter wie gewohnt voll von Hetze. Carl Schmitt hätte seine Freude daran, wie alle Seiten ihre Feindbilder pflegen.
Und jetzt halte ich besser den Mund, bevor mich ein/e fanatische/r Rechtgläubige/r zum Schweigen zu bringen versucht, weil er/sie nichts mehr hasst als Differenzierung.
■
Die Seuche schien verschwunden. Als ich am 18. Juni nach einem Monat erstmals wieder in Lüneburg eine Fußgängerzone betrete, ist mir mulmig vor den vielen Menschen. Ich zähle zwei Leute mit Masken und halte mich zurück, eine aufzusetzen, sondern suche die weniger frequentierten Gassen auf.
Sammelunterkünfte als Corona-Hotspots kommen in den Medien hier und da vor. Die armen Flüchtlinge! Aber dann zieht die Karawane weiter.
Plötzlich ein erneuter Massenausbruch bei einem Mega-Fleischfabrikanten, der noch dazu mit einem Fußballverein verbunden ist. Und der Ministerpräsident springt ihm instinktiv zur Seite: → Ausländer hätten das Virus eingeschleppt. Später machte er die Unterbringung verantwortlich, und daran ist der einheimische Unternehmer Schuld.
Anderswo wurden Zigeuner für einen Ausbruch verantwortlich gemacht; man weiß nicht genau, wer es aufgebracht hat, eine Gesundheitsbehörde oder die Polizei. Jedenfalls kein AfD-Politiker. Das können andere ebenso gut und haben mehr Erfahrung darin.
Von Bulgaren und Rumänen ist er neuerdings gelegentlich die Rede. Als ich im vergangenen Jahr begann, Material zu sammeln, fand ich erbärmlich wenig, das allerdings teilweise schon Jahre zurück lag und anzeigte, wie alt das Problem ist: der als Wirtschaftsverkehr getarnte Menschenhandel.
Ich habe mehrere Wirtschaftsstrafverfahren im Gerichtssaal beobachtet, in denen aufgedröselt wurde, wie es geht. Es kann nur funktionieren, wenn mehrere gesellschaftliche Instanzen wegschauen, wofern sie nicht an dem Geschäft beteiligt sind.
Die Ordnungsämter müssen beispielsweise dulden, dass die importierten Arbeitskräfte in Wohnungen gesammelt untergebracht werden, um die Kosten für eigens zu errichtende Sammelunterkünfte zu sparen. In einem Viertel der Kleinstadt, in der ich meine Nachforschungen anstellte, sind die Neuzugezogenen durch ihren hemmungslosen Fleischkonsum aufgefallen. Mutmaßlich weil in den Behausungen der dafür vorgesehene Raum nicht ausschließlich als Küche genutzt wird, verlagerten sie das Grillen auf einen beliebigen Platz im Freien. Die Belästigung der Anwohner durch Rauch und Lärm führte zu Konflikten bis hin zu Polizeieinsätzen.
Polizei und Presse schwiegen sich über die Gründe der Einsätze aus und überließen die Leserschaft ihren Vorurteilen. Da sie nichts von Bulgaren und Rumänen wussten, machten sie die Eingeborenen verantwortlich, die für sie die Ausländer darstellen, ob sie über deutsche Pässe verfügen oder nicht.
Als die Seuche ausbrach, zeigte die Lokalzeitung viel Mitgefühl für Bauern, die ihre Erntehelfer einfliegen lassen mussten. In welchen Branchen sonst die osteuropäischen Billigstarbeitskräfte zum Einsatz kommen, welche einheimischen Unternehmer mit der Vermittlung befasst sind oder wie sich die Behörden dazu verhalten, war und ist kein Thema für die Medien.
Auch nicht nach dem Ausbruch beim Fleischfabrikanten. Die Journalist*innen bekunden Mitleid mit ihm, weil er in „Arbeitsquarantäne“ nicht ins Fußballstadion darf.
Am 24. Juni lauten Gütersloh, Tönnies, Laschet die Namen zu einem Desaster, das noch nicht tödlich ist. Aber 2000 Infizierte auf einen Schlag wurden gezählt.
■
„Nach monatelangem Corona-Lockdown waren die Öffnungen in Europa in der Bevölkerung mehr als willkommen. Die Disziplin wird dabei gerne vergessen – mit fatalen Folgen. Die ersten Länder nehmen die Lockerungen wieder zurück“, schreibt die → Wiener Zeitung und verstärkt das mulmige Gefühl, das ich nach einem Ausflug in die Großstadt hatte. Die paar, die in Bahn und Bus keine Masken trugen, beunruhigten mich weniger als die Aussichtslosigkeit, ausreichend Abstand zu wahren.
Gedrängel wird bestmöglichst vermieden, aber unweigerlich gibt es zu viele, die es durch Achtlosigkeit erzeugen. Das Tempo ist wieder wie vorher, als sei nie eine Seuche ausgebrochen. Zumal die Autofahrer sind wieder im Normalmodus und zwingen ihr Rasen dem Rest der Welt auf.
Die Entdeckung der Langsamkeit hätte eine Folge der Einschränkungen sein können. Aber man wollte rasch Lockerungen und kehrte zur gewohnten Betriebsamkeit zurück. Damit die Wirtschaft keinen weiteren Schaden erleide. Die Wirtschaft des Herrn Tönnies zum Beispiel, der nun zunächst regional für einen Rückschlag gesorgt hat.
Wenn die Politik den Logikfehler nicht erkennt, ist ihr nicht zu helfen. Mit einer Seuche bildet man keine Kompromisse. Und noch werden Grundrechte zwar eingeschränkt, aber im Vertrauen auf die Vernunft der Bürger. Wenn diese aussetzt oder Interessen wie denen von Tönnies geopfert wird, kann eine vernünftige Regierung nur Zwang anwenden, um durchzusetzen, was die Bevölkerung nicht von sich aus tut.
■
Die Seuche betreffend ist virtuell aus Stade vor allem zu vernehmen, dass die Leugner sich ungestört breit machen und zuletzt am 27. Juni als „Norona“ ihre zersetzenden Reden auf dem Pferdemarkt halten konnten. (→ Aufstand der Einfältigen) Während das öffentlichen Leben von der organischen Seuche bestimmt wird, nutzt eine geistige Pest die Gunst der Stunde.
Die Zivilisation wird so ernsthaft wie seit Jahrzehnten nicht auf die Probe gestellt. In den Großstädten wird blindlings rebelliert und vornehmlich von unter 30-Jährigen das Leben unter einen ideologischen Vorbehalt gestellt.
Man ist bereit, sich auf irgendeine Art zu opfern oder im Kampf umzukommen. Zur Stunde muss allenthalben mit Straßenschlachten gerechnet werden, zwischen diesen oder jenen und der Polizei. (→ Wie die Polizeipresse mitteilt) Die Ordnung wird mal so, mal anders in Frage gestellt, und in Gestalt der Polizei herausgefordert, von der „Party-. und Eventszene“ in Stuttgart, beim „Cornern“ im Hamburger Schanzenviertel oder auf einer Anti-Rassismus-Demo.
Weil in den USA der Rassismus wieder einmal zu Todesfällen durch die Polizei geführt hat, mag man endlich einmal Klartext über die betreffenden Konflikte im eigenen Land reden, aber mitten in einer Pandemie gegen die Regeln zu verstoßen, die bisher Schlimmeres verhindert haben, ist unvernünftig und überflüssig. Die von Rassismus Betroffenen könnten selbst am besten wissen, wie wenig öffentliche Anklagen fruchten oder eine Frontstellung gegen die Polizei ihre Situation verbessert.
Dass ich selbst keiner Diskriminierung der Hautfarbe wegen ausgesetzt war, heißt nicht, dass ich keine Erfahrungen mit Herabsetzung habe. Und weil ich in den vergangenen 40 Jahren vielfältigen näheren Umgang mit diversen Menschen hatte, die unter anderem ihrer Hautfarbe wegen als andersartig angesehen und behandelt wurden, maße ich mir Einschätzungen an, die über das Benennen von Befindlichkeiten hinausgehen.
Rassismus, Fremdenhass, Antisemitismus wären längst verschwunden, wenn Empörungsrituale, TV-Duelle oder twitter-Schlachten etwas ausrichten könnten. Großdemonstrationen waren längst außer Kurs geraten; damit ausgerechnet in der Pandemie wieder anzufangen, ist Protzgehabe.
Die überzeugten Rassisten werden sich dadurch nur herausgefordert fühlen. Die Masse derer, die kaum je Gelegenheit hat, die eigenen Anschauungen in einem leibhaftigen Dialog mit einem der Verachteten zu überprüfen, wird zurück schrecken.
Verlässliche Statistiken gibt es nicht, kann es nicht geben. Amtlich wird nicht verzeichnet, welche Hautfarbe ein Staatsbürger hat. Und es wird nicht sortiert, wer „Migrationshintergrund“ hat. Die Mehrheit in Deutschland ist weiß, hat keine Identitätsprobleme, die auf der Straße besprochen werden müssten, und mit den Minderheiten, deren Lage plötzlich die eigenen Sorgen in den Hintergrund drängen, eher selten näheren Umgang.
Die Anderen, die sie kennen, treten ihnen vorwiegend virtuell entgegen. Es handelt sich sämtlich um gut situierte Bürger*innen, die wohl auch im Alltag so schief angesehen werden wie die Hartz-IV-Bezieher aus dem Ghetto, aber hernach ihren soundsoviel tausend Followern (ein Vorteil englischer Ausdrücke ist zweifellos, dass sie nicht gegendert werden müssen; oder inzwischen doch?) davon erzählen können. Die Rassismen, von denen ich über Jahre hinweg Kenntnis genommen habe, sind von den Betroffenen nie anders als mündlich überliefert worden. Kein Journalist, kein Soziologe hat sie registriert.
Dass ich einiges davon schriftlich aber indirekt in die Welt gesetzt habe, bezeichnet den Abstand. Die öffentlichen Debatten übergehen die Stimmen derer, die in der Mehrheit von Ausgrenzung betroffen sind. Hier und da ein Take in einer Reportage, ein Gast-Auftritt in einer Talkshow: damit hat es sich. Die Mehrheit gehört den unteren Schichten an, die keine Stimme haben, egal welcher Hautfarbe oder Herkunft.
Tönnies und die Bulgaren verweisen auf die sozialen Verwerfungen, die von der Seuche zum Vorschein gebracht werden, und die Debatte über Rassismus ist insofern scheinheilig, als sie diese Komponente komplett ausspart.
Es wird über die geredet, die es in erster Linie angeht. Zum Rassismus gegen Dunkelhäutige sind immerhin Stimmen von Betroffenen (bekannt vom Bildschirm) zu vernehmen; von den Bulgaren und Rumänen, die dem Vernehmen nach beim Corona-Ausbruch in Gütersloh Hauptbetroffene gewesen sein sollen, habe ich nicht einen einzigen O-Ton hören, schon gar keinen Text, und seien es 280 Zeichen auf twitter, lesen können.
Keine Demo dazu. Ein Toter in den USA war imstande, mehr Menschen zu mobilisieren als die Verhältnisse vor der eigenen Haustür, die längst bekannt hätten sein können und möglicherweise verheerendere Folgen für die eigenen Verhältnisse haben, als die Vorkommnisse, von denen ich zumindest nicht mehr als Bilder und Worte wahrgenommen haben, die mir wenig besagen, da ich nie in den USA war und meine Vorstellungen davon vornehmlich durch Hollywoodfilme geprägt ist.
Wer sich besser auskennt und mehr Betroffenheit verspürt, mag deswegen auf die Straße gehen. Ich käme mir albern vor, ein Knie zu beugen, um Haltung zu bezeigen, die ich niemand, dem ich begegne, anders beweisen zu müssen glaube als durch mein Verhalten. Ich erinnere mich noch an Plakataktionen nach einer Welle von Ausländerhass, für die sich Prominente mit Dunkelhäutigen ablichten ließen, mit denen sie vorher wie nachher meist nichts zu schaffen hatten. Umarmungsbekundungen sind überflüssig und akzentuieren nur einen Unterschied, der zwischen denen, die sich zur Schau stellen, eingeebnet sein sollte.
Den von Rassismus Betroffenen geht der Tod von George Floyd näher, indem er an den eigenen Weg erinnert; aber über die hiesigen Verhältnisse zu schwadronieren, als seien sie deckungsgleich mit den US-amerikanischen, führt vom Weg ab. Die öffentlichen Bekundungen haben sich freilich auf ein paar Großstädte beschränkt und offenbar schon erledigt.
Die Ausbreitung der Seuche zu begünstigen ist nicht im Sinne derer, für dessen Interessen demonstriert wird, die ich kenne, die über Monate Acht gegeben haben, dass ihre Familien vom Virus verschont bleiben. Ich hätte es ihnen nicht verdenken können, dass sie den Umgang mit mir vermieden hätten, falls ich mich auf einer Demo hätte tummeln wollen.
Nein, in Stade wurde nicht gegen Rassismus demonstriert. Stattdessen wurde Woche für Woche verbreitet, dass die Seuche ein Hirngespinst sei, um die brave steuerzahlende Bürgerschaft zu unterdrücken. Von Rassismus war nicht weiter die Rede, aber das wird noch kommen, ist unausweichlich.

■
„Wenn das Infektionsgeschehen so gering bleibt, sehe ich keinen Grund, länger an der Maskenpflicht im Handel festzuhalten“, lässt sich Mecklenburg-Vorpommerns CDU-Wirtschaftsminister zitieren; „er geht davon aus, dass das Kabinett in Schwerin in seiner Sitzung am 4. August das Ende der Maskenpflicht im Einzelhandel beschließen wird“.
Wirtschaftsverbände und Corona-Leugner frohlocken. Wenn Donald Trump in den USA die Seuche ignorieren kann, sollte das auch hierzulande möglich sein.
„Ich verstehe die Ungeduld und den Wunsch nach Normalität“, erwidert am 5. Juli der Bundesgesundheitsminister. „Aber das Virus ist noch da. Wo in geschlossenen Räumen der nötige Abstand nicht immer gesichert ist, bleibt die Alltagsmaske geboten.“
Zwei Jahre, hatten die Virologen am Anfang geschätzt, zwei Jahre würde die Welt mit der Abwehr der Seuche beschäftigt sein. Politik und Medien haben nicht auf eine so lange Durststrecke eingestellt, sondern nach wenigen Wochen bereits mit baldmöglichsten Lockerungen beschäftigt gewesen.
Von den zwei Jahren sind erst ein paar Monate abgelaufen, und schon scharren alle mit den Hufen. Eine zweite Infektionswelle kommt bestimmt, und sei es, weil Vorstöße wie die des Wirtschaftsministers aus der Provinz den Schlendrian begünstigen.
Es „fällt den Leuten schwer“, eine Maske zu tragen, und sie verstehe das, erklärt die niedersächsische Gesundheitsministerin im Radio. Ich verstehe nicht, was „schwer“ daran sein soll und halte es für fatal, die zu bestärken, die eine ominöse Freiheit in Stellung bringen, um dem Seuchentod das Tor offen zu halten.
■
Menschen! „Wenn wir keine Gesichtsmasken mehr tragen, wenn wir nicht mehr den Hygieneabstand einhalten, dann bereiten wir den Boden für eine Rückkehr des Virus. Und wenn das Virus wiederkommt, dann wird es noch gefährlicher sein als zuvor.“ Die Stimme eines Regionalpräsidenten aus Italien, wo Lockerungen des Seuchenschutzes wieder zurück genommen wurden, um einer zweiten Welle von Infektionen zu entgegnen, erreicht Deutschland zu einem Zeitpunkt, als die Bürgerschaft sich Leichtsinn meint erlauben zu können.
Inzwischen bin ich fast täglich in Busen und Bahnen unterwegs. Die Auslastung erlaubt es gerade noch, Abstand zu halten von all denen, die eine Maske nur pro forma am Hals hängen haben.
Die AfD fordert immer vernehmlicher das Ende der Seuchenbekämpfung, während andere sich in den Widerstand gegen einen fiktiven Zwang zur Impfung mit einem Wirkstoff, den es noch gar nicht gibt, hinein fantasieren.
Eine Demokratie kann ohnehin nur funktionieren, solange die Hirntoten nicht die Mehrheit bilden. Wenn diese aber während der Seuche alle anderen und den Staat gefährden, wird man ihnen entschieden entgegen treten müssen. Ausgangssperren wie in Italien und Spanien sind bislang nicht nötig gewesen, aber die Corona-Leugner und ihre Freunde wie der Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern legen es darauf an, dass solche verhängt werden müssen, um die noch vernünftige Mehrheit vor den Hirntoten zu schützen.
In den Sozialen Netzwerken sind deutliche Worte zu hören, aber niemand aus der politischen Klasse scheint es zu wagen, den Hirntoten die Leviten zu lesen. Offenbar will man sie als leicht manipulierbare Wählermasse nicht verprellen. Wenn sie ihre Freiheit in Gefahr sehen, weil sie eine Maske tragen sollen, wird sich ihnen gegenüber für die Unannehmlichkeit entschuldigt, statt ihnen einen Lektion darüber zu erteilen, was Freiheit und Grundrechte wirklich bedeuten.
NS-Epoche und DDR wirken auf darin nach, dass der Freiheitsbegriff in Deutschland nur in der geknebelten Form zur Sprache kommt. Grundrechte werden als immer währender Bestand verstanden, und gemeint sind damit bloß die Verfügungen des Alltags. „Freie Fahrt für freie Bürger“: der Slogan, mit dem seit Jahrzehnten Tempolimits abgeschmettert werden, ist das höchste der Freiheitsgefühle, zu denen deutsche Spießer*innen fähig sind.
Inzwischen rotten sie sich zusammen und proben als Corona-Rebell den Aufstand. Nicht gegen den schamlosen Ausbeuter Tönnies und seine politischen Freunde. Vielmehr verweigert man das Maskentragen und schimpft auf die Bundeskanzlerin, als hätte diese die Seuche erfunden. Nach Verweisen auf Schweden als traditionellem Vorbild für Liberalität, das in der Seuchenbekämpfung gescheitert ist und auf den hiesigen Kurs einschwenken musste, orientieren sich die Hirntoten inzwischen an den USA und ihrem Präsidenten, der sich weigert, die Seuche überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und nie eine Maske trägt.
Die Hirntoten freilich wird nicht einmal beeindrucken, wenn einer von ihnen an der Seuche erkrankt. Sie werden schon einen Dreh finden, um die Verantwortung dafür weit von sich zu weisen und mit dem Finger auf irgendwen anders zu zeigen.
■
3 Pingback