Als die »Camper Speeldeel« 1934 auf Adolf Hitler traf
Um 14.30 Uhr hätte es losgehen sollen, aber einige Fahrgäste verspäteten sich, so dass der Omnibus der Autovermietung Fricke erst um zehn vor drei an diesem Freitag, den 14. Dezember 1934, abfuhr. Kurz nachher kam noch ein Fräulein mit einem Koffer. Enttäuscht machte sie kehrt. Ihre Verspätung rettete ihr Leben.
Die herausragende Katastrophe in Stade zur NS-Zeit und jedenfalls die engste Berührung der Stadt mit dem Führer nahm ihren Lauf mit der Abfahrt des Busses vom Firmenhof gegenüber dem Jüdischen Friedhof. Die Fahrt lässt sich nicht erst im Rückblick als Omen lesen, sondern wurde seinerzeit amtlich mit schicksalhafter Vorbedeutung aufgeladen: »Sie kämpften und starben für Volkstum und Heimat.«

Die niederdeutsche Laienspielgruppe Camper Speeldeel zog in keinen Krieg, sondern fuhr zu einem Auftritt in Verden an der Aller. An Bord des Busses befanden sich neben dem 46 Jahre alten Chauffeur Fritz Krüger 19 Passagiere: 13 Schauspieler sowie drei Musiker und der Friseur Paul Weber, der als Maskenbildner fungierte, außerdem das Ehepaar Scholvin, das Verwandte besuchen wollte.
Am Abend stand De Hochtied in de Pickbalje auf dem Programm. Weil das Stück mit einer Hochzeitsgesellschaft endet, musste die ganze Spielerschar aufgeboten werden; einige kamen mit dem PKW nach. Weil zwei Bühnenbilder erforderlich waren, wurde für die Aufbauten ein Anhänger an den Bus gekoppelt.
Die 1922 von dem Lehrer Georg Beermann im damals selbständigen Dorf und heutigem Stader Stadtteil Campe gegründete Speeldeel war eine der ersten plattdeutschen Laienspielbühnen Norddeutschlands und wurde rasch zur bekanntesten. Die rund 20 Mitspieler zählende Truppe brachte es im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens auf 300 Aufführungen in über 50 Orten zwischen Cuxhaven und Lüneburg, Harburg und Bremen.
Besonders stolz waren die Speeldeeler darauf, auch in kleinen Dörfern aufzutreten. Ihr Repertoire umfasste Uraufführungen wie die Swienskomödie von Ludwig Hinrichs, die unter dem Titel Krach um Jolanthe zum Publikumsrenner wurde, oder Dramen wie Bahnmeester Dod, das noch 50 Jahre später vom Ohnsorg-Theater gegeben wurde. Seit 1931 führte Mittelschuldirektor Heinrich Holsten die Geschäfte der Speeldeel. Dienstpflichten verhinderten, dass er nach Verden mitfuhr.
Die Fahrten der Theatertruppe waren gesellige Angelegenheiten. Es wurde gescherzt, gelacht und gesungen. Hinter Zeven brach bereits die Dunkelheit herein, und Nebel stieg auf. Chauffeur Krüger verlor die Orientierung. In Rotenburg verpasste er den Abzweig nach Verden und fuhr zunächst Richtung Visselhövede.
Das mühselige Wenden mit dem Anhänger und die Rückfahrt bis Rotenburg kosteten Zeit, die nun knapp wurde. Die Passagiere wurden nervös, Krüger trat aufs Gaspedal. Neben dem Chauffeur spähten zwei Reisende in den Nebel. Sichtweite keine 50 Meter.
Gegen 17 Uhr passierte der Bus das Dorf Walle zwischen Langwedel und Kirchlinteln. Nur noch ein paar Kilometer bis zum Ziel. Die Anspannung ließ nach, einer der Beobachter zog sich schon seine Arbeitshose an, um ungesäumt mit dem Bühnenaufbau beginnen zu können.
Hinter Walle durchquerte die Landstraße eine Geländemulde, in der sich der Nebel schlagartig verdichtete. Chauffeur Krüger bemerkte den Bahnübergang nicht, auf den er zusteuerte.
Die Bahn traf kein Verschulden, ergaben die Ermittlungen. Die Schranken waren seit fünf Minuten geschlossen, die Warnlampen leuchteten – soweit der Nebel es zuließ. Gebüsch verbarg allerdings die Blinklichter des Bahnübergangs und die Scheinwerfer des nahenden Zuges.
In »langsamem Tempo«, wie sich ein Überlebender erinnerte, geradezu gemächlich durchbrach der Bus die erste Schranke und blieb auf den Schienen stehen. Chauffeur Krüger versuchte zurückzusetzen – vergeblich.
Die Scheinwerfer einer Lokomotive hüllten den Bus in blendende Helligkeit. Er wurde in Höhe des Fahrersitzes erfasst und herumgerissen, so dass auch der hintere Teil gegen die Lok prallte und zertrümmert wurde. Die Vorderachse wurde 200 Meter weit mitgeschleift. Der Ruck trennte den Anhänger ab, der unbeschädigt blieb.

13 Reisende waren auf der Stelle tot. Zwei weitere erlagen kurz nach der Einlieferung ins Verdener Krankenhaus ihren Verletzungen, ein Passagier starb am nächsten Morgen. Eine 27-Jährige wurde schwer verletzt, während drei Reisende, die auf der hintersten Bank gesessen hatten, mit leichten Blessuren davonkamen, unter ihnen der 37-jährige Kaufmann Harry Lüneburg, der Hauptdarsteller der Speeldeel.
Die Insassen des Zuges hatte der Unfall nur ein wenig geschüttelt, die Beschädigungen an der Lokomotive waren nicht schwerwiegend. Sobald der Zug hielt, stürzten Bewaffnete heraus und durchkämmten die neblige Umgebung. Nachdem klar war, dass kein Attentat stattgefunden hatte, leistete ein Arzt, der sich im Zug befand, erste Hilfe.
Bald kamen Feuerwehr und Sanitäter hinzu, dann Polizei und Staatsanwaltschaft. Nicht irgendein Zug, der Sonderzug des Führers hatte die Speeldeel am Bahnblock 61a ausgelöscht.
Am Freitagmorgen war überraschend bekannt geworden, dass Adolf Hitler höchstselbst beim Stapellauf des Ostasien-Schnelldampfers Scharnhorst auf der Werft der AG Weser in Bremen zugegen sein würde. In seiner Begleitung waren der Wehr- und der Verkehrsminister, der Reichsbankpräsident und der Chef der Marine. Im Anschluss an die Schiffstaufe besichtigte der Reichskanzler in Bremerhaven weitere Schiffe.
An der Unglücksstelle verließ Hitler sein Abteil nicht. Die Strecke wurde rasch geräumt, damit er seine Fahrt fortsetzen konnte. Um 23.37 Uhr traf er im Lehrter Bahnhof in Berlin ein. Daraufhin soll ein Spruch in Stade die Runde gemacht haben: Der Führer sei nicht ausgestiegen, weil er kein Blut sehen könne.
Die erste Nachricht vom Unglück erreichte Stade gegen 19 Uhr. Eine Stunde später berichtete der Rundfunk. In der Nacht noch war Bürgermeister Arthur Meyer am Schauplatz des Schreckens. Am Samstag zwischen 12 und Viertel nach läuteten alle Kirchenglocken. »Ein Schicksalsschlag von beispielloser Härte hat die Stadt Stade heimgesucht«, schrieb die Zeitung.
Die offiziellen Verlautbarungen missbrauchten die Trauer für das Dritte Reich. »Es war die einzige plattdeutsche Spieltruppe des Gaues, die in der letzten Zeit in der Hauptsache für die NS-Kulturgemeinde spielte«, wurde die Speeldeel gewürdigt. Einer ihrer Mitbegründer rief den Toten nach: »Im Wirken und Schaffen für die Wiedergeburt unseres Volkes vom Natürlichen, Bäuerlichen her, sind die Braven in den Sielen gestorben.«
Die Beteiligung des Allerhöchsten an dem »Schicksalsschlag« war zunächst keine Schlagzeile, sondern wurde nur verschämt vermeldet. Bis die gegenteilige Order erging: vereinnahmen statt verschweigen.

Zur Trauerfeier kurz vor Weihnachten, Dienstag, den 18. Dezember, wurde verbreitet, »Er« werde selbst mit einem Kraftwagen anreisen. »Die Durchfahrtsstraßen Hamburg – Stade waren in Kürze von Volksgenossen, die den Führer grüßen wollten, umsäumt«, notierte die Gestapo-Dienststelle in Harburg-Wilhelmsburg.
Der Heimgang der Speeldeel wurde zum Staats-Spektakel mit Aufmarsch im Fahnenmeer. Der Heiland entsandte einen Adjutanten, der selbst im Zug gesessen hatte, mit Geld für die Hinterbliebenen; eine Stiftung zahlte bis 1944. An allen Häusern hingen Fahnen auf Halbmast, die Geschäfte blieben während der Trauerfeierlichkeiten von ein bis vier Uhr geschlossen.
Um den Andrang zu regeln, wurden Einlasskarten ausgegeben und die Sitzordnung in der Kirche St. Wilhadi von der Zeitung bekannt gegeben. 1500 Menschen versammelten sich im Kirchenschiff. »Hier hett de Dod sie’n Willn kreegen«, sagte Speeldeel-Leiter Heinrich Holsten in seiner Ansprache. »Wi ward jur Arbeit wieder drägen!«
Die zukünftigen Massenmörder setzten noch die Unfallopfer auf die eigene weltanschauliche Rechnung. Neben »Volksgemeinschaft« stand darauf »Volkszorn«. Der ereilte kein Jahr später den Pastor, der den Gottesdienst abgehalten hatte.
Auf dem Parteitag in Nürnberg aufgehetzte SA-Männer suchten nach ihrer Heimkehr ein Opfer. Mangels Juden verfielen sie auf den Geistlichen, von dem geraunt wurde, er meine es mit den Ausgesonderten gut, und trieben ihn mit Pappschildern »Ich bin ein Judenknecht« durch die Gassen. Ein couragierter Regierungsrat rettete ihn vor dem Lynchmord.
14 Ackerwagen mit den Särgen, voran Nazi-Prominenz wie Gauleiter Otto Telschow, zogen aus der Stadt. Drei Opfer wurden auf dem Camper Friedhof beigesetzt, 11 erhielten ein Ehrengrab auf dem Horst-Friedhof. Zwei Tote waren von Verden nach Hemelingen und Wedel/Holstein überführt worden.
Für die Nachgeborenen handgreiflich unterwarf sich das Regime die Schauspieler in Stade mit einem Denkmal am Ehrengrab. Kein Hakenkreuz, keine Rune; die Instrumentalisierung erfolgte diskret, heutige Friedhofsbesucher stutzen über nichts.
Die Camper Speeldeel bildete sich sogleich neu und nahm im Februar 1935 den Spielbetrieb wieder auf. Nach 1945 wurde ihr vorgehalten, dass sie sich für die NS-Ideologie hatte vereinnahmen lassen. Ihren letzten Auftritt hatte sie 1970. Zwei Jahre später, zum 50. Jahrestag, löste sich die Truppe auf.

Editorische Notiz
Am 20. November 2013 erfuhren die Leser einer Stader Zeitung, was der »freie Journalist Uwe Ruprecht« in einem »Beitrag« über den »Grabsteinforscher« Julius Plege »zu diesem tragischen Ereignis«, der Todesfahrt der Camper Speeldeel, geschrieben haben soll. Der halbe Artikel, 95 Zeilen, besteht aus meinem im Internet aufgeklaubten Text. Macht 24,70 Euro Honorar ohne Mehrwertsteuer für jemand anderen.
Die Speeldeel hat nichts zu tun mit dem zehn Jahre zuvor verübten Mord an Plege (→ Elses Verehrer), und Grabsteinforscher bin ich selbst einmal genannt worden. Der Artikel erweckt den Eindruck, ich hätte aus erster Hand über die Ereignisse berichtet. Das bekräftigt die Inkompetenz der Zeitungs-»Autorin«, die eben keine Urheberin ist, könnte aber auch für die Authentizität meiner Darstellung sprechen.
Die »Entlehnung« bestärkt mich, die Geschichte hier einzustellen; anscheinend ist sie unverändert lesbar. Der plagiierte Text ist bald 20 Jahre alt und wurde im Hamburger Abendblatt gedruckt. Ich habe ihn selbstverständlich selbst erarbeitet: anhand der im Stadtarchiv gesammelten Materialien zur Geschichte der Speeldeel und zeitgenössischer Zeitungsberichte, durch Gespräche mit Zeitzeugen und bei der Erkundungen der Lokalitäten.
Nachtrag
»Die gesamte Prominenz des Dritten Reichs – vom Führer abwärts – versammelte sich. Ein wesentlicher Teilnehmer aber fehlte: die Scharnhorst.« Das las ich (V. Farkas, Unerklärliche Phänomene, Frankfurt/M. 1988) und stutzte. Gemeint war der Stapellauf, von dem Hitler kam, als sein Sonderzug den Bus der Camper Speeldeel rammte. Und auf diesem Schiff lag also ein »Fluch«.
Noch im Bau befindlich neigte sich das 26.000-Tonnen-Schlachtschiff zur Seite und zerquetschte 61 Werftarbeiter. Schon in der Nacht vor dem Stapellauf war die Scharnhorst abgerollt und hatte zwei Barkassen zermalmt. »Um diese Blamage zu vertuschen, wurde verlautbart, das Schlachtschiff sei heimlich im Dunkel der Nacht vom Stapel gelassen worden. Man ließ etwas über ein streng geheimes ›Stapellauf-System‹ durchsickern.« Hitler könnte, als sein Zug den Bus zertrümmerte, sich oder wenigstens diesen Tag für verflucht gehalten haben.
Die Unglücksserie der Scharnhorst ging 1939 weiter, als Geschütze und Gerätschaften versagten, wobei 21 Matrosen umkamen. 1940 wurde das Schiff in Brand geschossen und abgeschleppt; im Hafen rammte es ein Linienschiff, das sank.
Am 25. Dezember 1943 wurde die Scharnhorst von britischen Patrouillenbooten verfolgt. Eines von ihnen traf das deutsche Schlachtschiff zufällig aus 15 Kilometern, als dieses genau in das Feuer einschwenkte. Die Scharnhorst ging binnen Minuten unter und mit ihm die gesamte Besatzung, bis auf zwei Mann, die sich auf ein Schlauchboot retteten. Sie starben durch die Explosion ihres Not-Ölofens.
Zufall, was sonst. Wie mein Fund in dem Buch, das ich aufs Geratewohl aufgeschlagen hatte. Oder war der Fluch der Scharnhorst auf Hitlers Sonderzug übergesprungen, und der Bus ein mittelbares Opfer des verdammten Schiffs? Und was wäre dann mit mir, der ich über die Koinzidenz gestolpert bin … So müssen sich Verschwörungstheorien anfühlen.
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Weitere → Geschichten aus Stades Geschichte
20. Dezember 2021 at 20:56
Erst einmal meinen herzlichen Dank an den Autor für den interessanten und gut recherchierten Beitrag!
Nachdem ich noch etwas im „Deutschen Zeitungsportal“ gestöbert habe, möchte ich nur ergänzen, dass es sich bei der „Scharnhorst“ nicht um das Kriegsschiff handelt, sondern um ein gleichnamiges Passagierschiff des Norddeutschen Lloyd, das am 14.12.1934 seinen Stapellauf hatte, dem Hitler beigewohnt hat, womit das Unglück seinen Lauf nahm. Das Schlachtschiff Scharnhorst lief erst 1936 vom Stapel.
Die zivile „Scharnhorst“ war im Verkehr mit Shanghai und Japan eingesetzt, wo sich das Schiff auch bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (01. September 1939) gerade befand. Es konnte nicht zurück nach Europa und wurde schließlich zu einem japanischen Flugzeugträger umgebaut, wobei es alle seine Aufbauten zugunsten der Startbahn verlor.
Ende 1944 ereilte auch dieses Schiff ein trauriges Schicksal, als es von einem amerikanischen U-Boot torpediert wurde und sank, wobei 1.130 Seeleute ums Leben kamen.
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