Aufzeichnungen im Schatten des Corona-Virus
→ Erste Folge ab 28. März 2020
→ Zweite Folge ab 23. April 2020
→ Dritte Folge ab 9. Juli 2020
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„Single-Gesellschaft“ war mal so ein Schlagwort, mit dem ein vorherrschender Trend der Gesellschaft beschrieben sein sollte. Ohne auf Sinn und Wahrheit dieses Worts weiter einzugehen: käme die „Vereinzelung“ als Erklärung dafür in Frage, warum Deutschland noch weitgehend glimpflich davon gekommen ist in der Pandemie?
Seit dem 1. Dezember 2020 gelten neue Regeln für den Umgang miteinander in Hamburg, die als „Verschärfung“ vermeldet werden. Nurmehr fünf Personen aus zwei Haushalten dürfen sich treffen. Ich kenne viele wie mich, „Singles“ mit den Merkmalen, die ehedem als grundlegend für die Gesellschaft beschworen wie befürchtet worden waren, die dazu nur mit den Achseln zucken würden.
Vor sechs Wochen wohnte ich einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht bei. Bei der vorangegangenen Sitzung im Hochsommer machten die räumlichen Gegebenheiten strenge Auflagen und Teilnehmerbegrenzungen nötig. Die Kammer, die dem Prozess ausdrücklich politische Bedeutung beigemessen hatte, ließ die nächste Sitzung daher in einen geeigneteren Saal verlegen, wozu das Gerichtsgebäude verlassen werden musste. (→ Schwarzer Alltag auf St. Pauli)
Der Aufwand war vergebens. Zum Prozessauftakt hatten sich die Berichterstatter gedrängelt, zum zweiten Tag erschien nur ein Zeitungsartikel. Die fünfköpfige Kammer, jeweils zwei Anwälte für die Parteien, der Kläger und ein Dolmetscher sowie maximal zehn Zuschauer konnten sich mit großen Abständen verteilen. Einmal wurde stoßgelüftet.
Die Fahrten mit Bus, U- und S-Bahn nicht gerechnet, war dies eine der sehr wenigen Gelegenheiten, bei der ich mich in den letzten Monaten nicht allein oder mit einer weiteren Person in einem Raum aufgehalten habe. Zwei andere liegen noch nicht so lange zurück. Ich war in Begleitung in zwei Geschäften; einmal für vielleicht zehn Minuten, einmal nahezu eine Stunde. Ich betone das „in Begleitung“, weil ich mich in Geschäften schon vor Corona nur so lange wie unbedingt nötig aufzuhalten pflegte.
Zufall, dass es lang nicht und ausgerechnet in diesem Jahr vorgekommen ist, dass ich mich privatim mit einer größeren Anzahl von Leuten aus diversen Haushalten getroffen habe. Freilich auch nicht in einem Raum, sondern einem Garten – und soweit ich orientiert bin, hat sich niemand infiziert.
Fünf Leute aus zwei Haushalten sind ein Format, auf das ich verzichten kann. Ich ziehe Zweierbegegnungen vor, und diese lassen sich auch unter Seuchenbedingungen so gestalten, dass keine Gefahr besteht. Nicht nur aus räumlichen Gründen, sondern weil die Achtsamkeit konzentriert werden kann. Muss man sie verteilen, steht plötzlich jemand im Eifer des Gefechts direkt vor der Nase und atmet ins Gesicht.
Sofern mein Umgang nicht ohnehin aus Leuten besteht, die allein leben, sind sie insofern „Singles“, als sie für sich zu stehen und zu gehen verstehen. Die sich nicht durch einen Ehepartner oder eine Gruppe definieren, der sie angehören. Das Nicht-Allein-Sein-Können nennt Edgar Poe im Man of the Crowd den „Geist und das Urbild des tiefsten Verbrechens“.
Vor einer kürzeren Weile blätterte ich wieder einmal in Gustave Le Bons Psychologie der Massen. Ich hatte es zuerst gelesen, nachdem ich bemerkt hatte, dass Sigmund Freud sich in seiner Massenpsychologie und Ich-Analyse auf Le Bons Untersuchungen stützt, 45 Jahre her.

„Er flieht vor dem Alleinsein“, schreibt Poe über der Mann der Menge, und ich zitierte ihn in meiner Studie über Heinrich Himmler, der nur allein war, wenn er schlief. Über den Tagesablauf des Reichsführers-SS ist man allerdings genau deshalb so gut im Bild, weil es für jede Minute Zeugen und Zeugnisse gab und noch ausreichend gibt, um ein scharfes Bild zu erhalten. Selbst wenn Himmler sich allein beschäftigte, mit Lektüre etwa, von Akten wie Büchern, befand sich stets jemand in Rufweite, wovon er ausgiebig Gebrauch machte. (→ Himmlers Ende [2])
Himmler floh so buchstäblich vor dem Alleinsein, dass er selbst zu einem Zeitpunkt, an dem er als Einzelgänger die beste Überlebenschance hatte, nicht auf Gesellschaft verzichten konnte. Seine Entourage verringerte sich im Verlauf der letzten Tage, aber noch, als er, bereits unentdeckt in Gefangenschaft, die Flucht nach vorn antrat und sich zu erkennen gab, war er in Begleitung, und weniger die drei Männer selbst als die Art ihres Auftretens signalisierte, dass der, der das Wort ergriff, nicht für sich allein zu stehen glaubte.
Himmler konnte nicht allein sein und schuf sich dafür in der SS die passende Umgebung. Aber um das zu erreichen, bedurfte es vieler, die so fühlten wie er. Brauchte es Grothmann und Macher, wie die beiden hießen, die ihn bis zur Selbstentlarvung begleiteten und auch nun erst von ihm getrennt wurden. Der britische Geheimdienst hatte sie sofort von ihrem Führer getrennt und verhörte sie noch mehrere Wochen lang unter der Maßgabe, dass dieser noch lebe – was vielleicht ein Fehler war, weil es sie erledigte Rücksichten nehmen ließ. Nicht die Himmlers allein sind ein Problem, auch ihre austauschbaren Gefolgsleute, die vielleicht ganz gut allein sein können, aber Führung brauchen.
Zu fünft aus zwei Haushalten – damit fiele Weihnachten vielfach aus. Zehn Jahre her, dass ich, zu Lebzeiten meiner Mutter, an Weihnachtsfeierlichkeiten teilnahm: fünf Personen aus drei Haushalten. Lag im Kanzleramt eine statistische Erhebung vor, welche Größe und Zusammensetzung deutsche Familienverbände haben, bevor Zahlen beschlossen wurden? Haben Journalisten etwas dazu vermeldet, das mir entgangen ist?
Alleinsein und kontrollierte Begegnungen – das ist nicht das pralle Leben, das man führen soll, um die Wirtschaft in Schwung zu halten. Aus dem Dilemma gibt es für die Politik kein Entkommen. Eben hörte ich eine Diskussion im Radio, an der eine Vertreterin des Gaststättenverbandes beteiligt war, als sei sie systemrelevant. Und bei aller Sympathie kann ich das Gejammere über die Kultur nicht mehr hören.
Zugegeben, wenn ich mich mit einer Person treffe, können wir nicht irgendwo einkehren, aber dort, wo Ausgangssperren verhängt werden mussten, hätten wir uns nicht einmal treffen dürfen. Im Übrigen habe ich vor vielen Jahren aufgehört, Bars oder Kneipen, Restaurants und was es sonst noch alles gibt, als Teil meines Alltags aufzufassen. Das soll keine Abwertung bedeuten. Ich war eineinhalb Jahrzehnte lang häufiger Theaterbesucher, auch längere Zeit professionell, habe Filmkunst studiert und bin noch vor ein paar Wochen in einem Kino gewesen. Um Verluste handelt es sich, aber sie sind nicht so existentiell, wie sie dargestellt werden.
Nicht, wenn es sich um einen absehbaren Zeitraum handelt. Die Kultur geht nicht unter, wenn ein Jahr lang keine Theateraufführungen stattfinden. Es ist länger her, dass ich eine besucht habe. Meine dramatischen Bedürfnisse befriedigen Hörspiele.
Ich kann mich noch sehr gut an eine gar nicht so weit zurück liegende Zeit erinnern, als literarische Lesungen etwas Rares waren – unter anderem, weil ich selbst an dergleichen Merkwürdigkeiten teilnahm. Vor die Wahl gestellt, eine Autoren-Lesung zu besuchen oder den Text von einem Schauspieler auf einer Ton-Datei vorgelesen zu bekommen, würde ich Letzteres vorziehen.
Mit der Aura ist es vorbei, soweit es den Kern des Kunstgenusses anbelangt, um salopp zu formulieren, was Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entwickelt. Und wenn schon Aura käme es auf die einer Othello-Inszenierung von Peter Zadek in Hamburg an, die ich mit verbilligten Ticket vom Oberrang aus sah, als auf meine persönliche Begegnung mit dem Regisseur als Reporter in einer ganz unkünstlerischen Angelegenheit.

Für eine gewisse Zeit ist Live-Kultur ohne nachhaltigen Schaden entbehrlich. Zumal genug andere Kultur live unverändert da ist. Wenn gegenwärtig von Kultur die Rede ist, meint man die „klassischen“ Sparten. Und tut so, als müsse man zuhause ein Piano haben und live bespielen lassen, zum Musik hören zu können. Als sei der Leierkastenmann eine so moderne Form der Musikdarbietung, dass eine der populärsten Kunstliederfolgen damit endet. Muss ich nachschlagen, wann Müller/Schuberts Winterreise erschienen ist?
Die Live-Aura ist lange nicht nur entbehrlich, sondern zu einer eigenen Sparte geworden. Virtuell findet nicht erst seit Erfindung des Internet die Hauptsache statt, spielt die Musik. Für meine musikalische Sozialisation spielt das Live-Erlebnis eine gewichtige Rolle, weil ich sie selbst produzieren musste, um damit zu tun zu bekommen. Bevor ich mit 16 mein erstes Konzert besuchte, veranstaltete ich mit 13 eigene Aufführungen.
Gleichwohl verbindet sich für mich mit Musik ein Erlebnis, das gerade nicht an feste Orte, Konzertsäle, gebunden ist, sondern spätestens seit Verbreitung des Walkman in den 1980ern die musikalische Begleitung an Orten eigener Wahl und nicht als Teil eines Publikums.
Ich weiß genau, welcher Verlust beklagt wird und predige keinen Verzicht, sondern kann die Ungeduld nicht verstehen, die sich damit verbindet. Gewisse wirtschaftliche Unternehmungen, die sich gegenwärtig mit der Kulturvermarktung beschäftigen, werden die Corona-Krise nicht überstehen. Davon geht die Kultur nicht nur nicht unter, sondern erhält die Möglichkeit, sich neu zu sortieren. Das ist der Motor der Kulturgeschichte. Diese Krise hat Tote gekostet. Mindestens kann man ihnen schuldig sein, die aufdringlichsten Lehren auch zu ziehen.
Ich kann damit leben, wenn Weihnachten ausfällt, wenn Theater und Gaststätten noch eine Weile länger geschlossen bleiben. Eine Ausgangssperre, und das ist es, was seit März ansteht, sofern Ungeduld den Kurs bestimmt, wäre eine Art von Einschränkung, die wahrhaft Unentbehrliches beträfe. Ich kann auf die Kinobesuche mit einer bestimmten Person verzichten, schwerlich aber darauf, ihr überhaupt zu begegnen, und sei es mit Maske und Abstand.
Meldung im Live-Ticker, während ich dies poste: „Strikte Ausgangsbeschränkungen in Nürnberg“, schon gar kein Christkindlmarkt. Kulturmenschen sollten es verkraften.
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Kam inzwischen zwei, drei Mal vor, dass der Supermarkt, in dem ich mich mit Lebensmitteln zu versorgen pflege, überfüllt war und ich in einer Schlange vor der Tür anstehen musste. Am Samstag, den 5. Dezember, zum Beispiel. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut; drei Minuten, schätze ich, wartete ich auf den Einlass.
Problematisch ist, dass der Gehweg vor dem Supermarkt für Passanten und die Radfahrer, die den Radweg ignorieren, auch ohne die Schlange keinen Abstand zulässt und mir, während ich dort stand, all jene zu nahe kamen, die Ausweichen für eine Verringerung ihres Grundrechts halten, sich wie ein SUV durch Menschenmengen zu bewegen, die Panzerfahrer unter den Passanten. Unmaskierte atmeten mich an, während ich auf den Zugang zum Supermarkt wartete, wo mir Maskierte nicht so nahe kamen wie draußen.
Am 6. Dezember meldet der → NDR einen Andrang, bei dem die Polizei eingreifen musste. Ist das Panikmache oder nur redaktionelle Blödheit? Statt Sensationen zu suchen stünde es zumal einem öffentlichen-rechtlichen Sender an, der nicht um Quote und Clickzahlen buhlen müsste, sich dem Alltag zu widmen. Dazu aber müsste das verantwortliche Personal seine geschützten Räume verlassen, in denen es die Arbeitszeit damit verbringt, Polizeiberichte abzuschreiben.
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Ausgangssperren drohen. Soweit haben jene, die meinten, ihr Verhalten der Seuche nicht anpassen zu müssen, es also gebracht. Jene, denen die Politik suggeriert hat, man könne mitten im Lockdown Weihnachten in gewohnter Weise begehen. Die sich in klirrender Kälte zum Glühwein-Saufen zusammen rotten und sich dann auch noch mit der Polizei anlegen. Jene, die den Untergang der Kultur beschwören und die Politik damit unter Druck setzen. Die Politik selbst, die Monate hat verstreichen lassen ohne Vorkehrungen zu treffen. Weil sie Angst vor den Bürgern hat, die zu Zehntausenden auf die Straße gingen gegen die „Corona-Diktatur“?
Derartige Kundgebungen der Abstands- und Maskenverweigerer sind inzwischen auch gerichtlich verboten worden. Warum erst jetzt? Von der politischen Klasse ist dazu weiterhin nichts zu hören. Die Bürgerschaft, die sich an die Hygieneregeln hält, wird unverdrossen weiter verhöhnt von Politikern, die nicht entschieden jene ausgrenzen, die die Regeln vorsätzlich brechen. Der Effekt lässt sich alltäglich bei denen studieren, die zwar nicht die Existenz der Seuche leugnen, sich aber benehmen, als würde sie sie persönlich nichts angehen.
Jogger, die in 30 Zentimeter Abstand an mir vorbei hetzen und mir ins Gesicht keuchen. Familienverbände, die den schmalen Gehsteig blockieren, indem sie zu dritt oder viert nebeneinander spazieren und es mir überlassen, nicht in ihre Aerosolauren zu geraten. Unterdessen ist die übliche Weihnachtshektik ausgebrochen, bei der auch ohne Seuche alle Achtsamkeit zuschanden geht.
Also Ausgangssperren. Im Nachhinein wäre es vielleicht klüger gewesen, bereits im Frühjahr die Zügel anzuziehen. Damit die Leute den Schuss wirklich gehört hätten. Wie viele müßige Diskussionen wären damit erspart geblieben! Auch im Autoverkehr sterben täglich Menschen ohne dass das Konsequenzen hätte, argumentieren die Verharmloser. Wie gut, dass der Autoverkehr von der Seuche nicht betroffen ist. Sonst würde die Gesellschaft vielleicht doch zusammenbrechen.
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Meldung vom 8. Dezember: „Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina will übereinstimmenden Medienberichten zufolge einen dringenden Appell an die Politik richten, die hohe Zunahme an Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern. Das soll beinhalten: Aussetzen der Schulpflicht ab 14. Dezember, nachdrückliche Aufforderung zum Homeoffice, alle Gruppenaktivitäten in Sport und Kultur einstellen. Ab Weihnachten bis mindestens 10. Januar sollte ‚das öffentliche Leben weitgehend ruhen‘, heißt es. Alle Geschäfte schließen bis auf die, die den täglichen Bedarf decken, Weihnachtsferien bis 10. Januar verlängern. Urlaubsreisen und Zusammenkünfte müssten unterbleiben.“
So weit, so vernünftig. Wie aber seit dem Frühjahr zu erleben war, sind Gefühle der Maßstab der Gesellschaft. Hysterische Corona-Leugner sind nur die Spitze des Eisbergs. Und das „öffentliche Leben“ ist nur ein Teil des Problems. Von Beginn der Pandemie an ist der Bevölkerung vorgemacht worden, die Seuche sei mit ein bisschen Kosmetik zu besiegen. Und als die Infektionszahlen anstiegen, wurde mit der Impfstoff-Erlösung geworben, obwohl klar sein konnte, dass es noch sehr lange dauern würde, bis genügend Menschen geimpft wären, um das Virus auf diese Weise zum Verschwinden zu bringen. Die Hoffnung stirbt zuletzt; sie aber künstlich aufrecht erhalten zu haben, hat den Anstieg der Todeszahlen mit verursacht.
Von einer politischen Klasse, die zwar das Gemeinwohl im Mund führt, aber vorwiegend vom persönlichen Eigennutz angetrieben wird, sind die notwendigen Entscheidungen nicht zu erwarten. Diese hätten schon vor Wochen gefällt werden müssen. Stattdessen fehlen bis heute klare Ansagen. So wird zwar der Glühwein-Ausschank in bestimmten Gegenden von Hamburg verboten – aber kein Politiker tritt vor und nennt jene, derentwegen das Verbot ausgesprochen wird, beim Namen.
Als asozial gelten in dieser Gesellschaft jene, die nicht am Konsumismus teilhaben können, und nicht jene, die die Welt bis zur Neige verbrauchen. Hartz-IV-Bezieher sind Abschaum, Ski-Urlauber sind Leistungsträger. Insofern die Infektionsketten überwiegend im Dunkeln liegen und auch sonst kein verlässliches statistisches Material veröffentlicht wird, bleibt es Spekulation, durch wen und auf welche Weise sich die Seuche verbreitet. Soviel aber weiß ich: Arme wie ich haben entschieden weniger Gelegenheit, das Virus zu verteilen wie zu empfangen. Asozialität ist ein Virenschutz.
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Von Corona-Verharmlosern und -Leugnern hört man stereotyp, alle anderen könnten nicht selbst denken und seien einer Gehirnwäsche unterzogen worden. In gewisser Hinsicht stimmt das. Seit die Infektionszahlen fünfstellige Werte erreicht haben, muss Denkenden klar geworden sein, was die Stunde geschlagen hat. Dass die Politik darauf zögerlich und unangemessen mit einem „Lockdown light“ reagiert hat, hat sie inzwischen offenbar selbst eingesehen.
Indes scheint die politische Klasse nicht mit denkenden und verantwortlich handelnden Bürgern zu rechnen. Im niedersächsischen Landtag kritisieren die Grünen die Regierung, dass die nun gefällten Beschlüsse, zu Weihnachten und an Silvester Superspreader-Events zu verhindern, schon vor zwei Wochen hätten kommen müssen. „Jetzt hätten viele Menschen schon Weihnachtsreisen geplant und Zugtickets gebucht“, wird die Fraktionschefin im NDR zitiert. „Eine langfristige Strategie hätte für mehr Planbarkeit gesorgt“. Selbständig denkenden Bürgern war vor zwei Wochen klar, dass sie auf ein Weihnachten wie im vorigen Jahr würden verzichten müssen. Die brauchen keine Anweisungen der Politik, um sich vernünftig zu verhalten.

Wer vor zwei Wochen Zugtickets gekauft hat, weil die Regierung von einem lockeren Weihnachten ausgegangen ist, ist so verantwortungslos wie jene, denen man das Glühwein-Saufen verbieten muss, weil sie nicht von selbst darauf verzichten wollen. Seit einem Dreivierteljahr könnte jedem klar sein, wie angemessenes Verhalten in der Pandemie aussieht. Wer dazu ausdrückliche Anweisungen der Regierung braucht, ist offenbar nicht als mündiger Bürger in der Demokratie angekommen.
Dass jene, die meinen, es gäbe gar keine Seuche, von einer Corona-Diktatur reden, hat insofern seinen paradoxen Sinn, dem die Grünen im niedersächsischen Landtag beipflichten, indem sie von der Regierung erwarten, der Bürgerschaft vorzuschreiben, was sich diese selbst hätte denken können.
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Als Agnostiker sind mir alle religiösen Rituale gleichgültig. Gleichwohl wurde ich zwei Mal im Jahr damit konfrontiert. Mindestens dadurch, dass eine Anzahl Konsumgüter in entsprechender Verpackung Wochen vor dem Termin allenthalben angeboten wurden. Ostern ließ sich meist einfach ignorieren, aber zu Weihnachten wurde ich ausdrücklich gefragt, wie ich es verbringen würde. Nicht, dass jene, die mich fragten, sonderlich religiös gewesen wären. Mit dem Christentum, zu dem sich nurmehr die Hälfte der Bevölkerung bekennt, hat Weihnachten nur formal zu tun. Aber an den Feiertagen kommen unter dem Tannenbaum Familien zusammen, um eine Verbindung zu simulieren, die möglicherweise gar nicht besteht, weil sie sich eben auf diese Zusammenkunft zu Weihnachten beschränkt.
Mein letzter derartiger Termin liegt zehn Jahre zurück. Mit dem Tod meiner Mutter war meine Teilnahme am Weihnachtsritual überflüssig geworden. Auf die allfällige Frage, wie ich Weihnachten verbringen würde, hatte ich nun allerdings keine Antwort mehr, die die Fragesteller befriedigen könnte. Wer Weihnachten nicht als etwas Besonderes empfindet, macht sich verdächtig. Schließlich beteiligen sich an dem Ritual nicht nur die Christen, sondern auch die Mehrzahl aller anderen. Selbst die Muslime, mit denen ich Umgang hatte, waren nicht davor gefeit, sich mit dem christlichen Zinnober auseinandersetzen zu müssen, der ein paar Wochen lang das öffentliche Leben bestimmte.
Dieses Jahr ist alles anders. Es gibt keine Weihnachtsmärkte mit Buden, an denen Glühwein in sich hinein geschüttet wird. Im Supermarkt stehen nicht alle paar Meter Weihnachtsartikel. Und meine Antwort auf die Frage, wie ich Weihnachten verbringe, ist nicht mehr anstößig sondern politisch korrekt: wie jeden anderen Tag. Ich habe nicht vor, mich mit mehreren anderen in einem ungelüfteten Raum zu versammeln, um Viren zu verschleudern.
Weihnachten gilt als besinnliches Fest, bei dem Kinderaugen leuchten und Eltern und Großeltern besucht werden. Auf diesen Pflichttermin folgte die Kür, die Party, auf dem der Alkohol in Strömen floß und die Böllersau herausgelassen wurde. Meine letzte Teilnahme an einer Silvesterparty liegt 35 Jahre zurück. Mehrfach war ich an diesem Tag als Reporter mit der Polizei unterwegs, um mir anzuschauen, wie die sonst so brave Bürgerschaft außer Rand und Band gerät.
Wenn ich in der Vergangenheit antwortete, dass ich Silvester wie jeden anderen Tag verbringen würde, wurde ich wahlweise bedauert oder beargwöhnt. In diesem Jahr wird mir diese Frage nicht gestellt werden. Es wird wohl Silvesterpartys geben, aber sie werden konspirativ geplant werden.
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Die Hütte brennt, und alle schreien haltet den Dieb. Dieselben, die beklagen, dass sich ein Obrigkeitsstaatsgefühl breit mache, erwarten von der Politik die ultimative Lösung. Dabei ist diese klar: Kontakte reduzieren, Abstand halten, Maske tragen. Am Samstag, den 12. Dezember, waren nach Angaben des Einzelhandelsverbandes in der Hamburger City nur halb so viele Leute unterwegs wie im Vorjahr. Aber es waren Massen dort, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen, weil ihnen die Politik versprochen hat, dass sie das Fest wie gewohnt würden begehen können.
Die Corona-Verharmloser in der Politik haben mit den Corona-Leugnern seit Monaten ein Bündnis geschlossen, und jetzt ernten sie die Früchte in zuletzt täglich an die 600 Toten.
Es wird nicht genug einbringen, das öffentliche Leben noch strikter zu beschränken als bisher, solange die Bürgerschaft nicht begreift, dass es darauf ankommt, das private Leben radikal umzustellen. Davon aber ist nichts zu hören. Die Politik sagt nicht: verzichtet auf Treffen, sondern diskutiert darüber, in welcher Größe und Zusammensetzung Treffen erlaubt sein sollen – als bestünde die Möglichkeit, die Einhaltung solcher Vorschriften zu kontrollieren. Über ein Böllerverbot an Silvester wird gestritten, statt zu sagen, Silvester fällt dieses Jahr aus.
Das neue Allheilmittel, das vor allem von der Splitterpartei FDP und dem grünen Bürgermeister einer Kleinstadt propagiert wird, lautet, Lockdowns durch den Schutz von Risikogruppen zu ersetzen. Also: Hausarrest für Vorerkrankte und Leute ab einem bestimmten Alter, damit die anderen so weiter machen können wie bisher. Als über 60-Jähriger sollen meine Freiheiten weiter eingeschränkt werden, damit die Partypeople sich zum Glühwein-Cornern zusammen rotten können?
Noch ist nicht entschieden, ob sich die Corona-Leugner ohne Abstand und Maske am 31. Dezember in Berlin versammeln können. Macht schon keinen Unterschied mehr. Sie haben gewonnen. Ihre Haltung, die über Leichen geht, wird täglich mehrheitsfähiger. Und zwar nur, weil die Bevölkerung keinerlei Abweichungen von ihrem Alltag zu ertragen bereit ist und die Politik ihre Illusion nährt, die Seuche ohne Einschränkungen überstehen zu können.
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17. Dezember: heute 700 Tote. Gestorben an einer Seuche, die von denen geleugnet wird, die morgen in Buxtehude demonstrieren wollen. Wofür oder wogegen treten sie an? Für oder gegen das Sterben?
Aber nein, für das Mitteilungsblatt der Rechts- und Denknachfolger von Kaiserreich und Nationalsozialismus, dem Stader Tageblatt, handelt es sich bei den Covidioten nicht um Corona-Leugner sondern um „Skeptiker“. Man will es sich wohl nicht mit potenziellen Anzeigenkunden verderben. Was die Frage aufwirft, wie viele von den Maßgeblichen Dreihundert, die abseits aller demokratischen Regeln die Geschicke der Region bestimmen, inzwischen der Szene angehören, so dass die einzige Tageszeitung ihnen in den verlängerten Rücken kriechen zu müssen meint.
Und wieso kann mitten im harten Lockdown überhaupt eine Demonstration von Leuten stattfinden, die auf ihren Veranstaltungen Masken und Abstand verweigern? Fragen, auf die die von keinem Skeptizismus angekränkelte Redaktion der Journalisten-Darsteller die Antwort schuldig bleibt.
Der Hamburger Arzt Dr. Walter Weber soll eine Rede halten. Er vertritt eine Organisation, die von einer „Corona-Zwangsimpfung“ faselt. Vor langem machte Dr. Weber schon einmal auf sich aufmerksam, weil er einer Patientin eine „Angsterkrankung“ attestierte, weil sie angeblich mit körperlichen Symptomen auf die Anwesenheit von Dunkelhäutigen reagiere.
Erst nach dem Artikel über ihre Entscheidung fühlen sich die Vertreter der Stadt Buxtehude bemüßigt, ihr Hirn einzuschalten und die Interessen der Bürgerschaft zu vertreten. Die für den 18. Dezember angekündigte Versammlung wird untersagt – mit der Begründung, dass die Auflagen, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen und den Abstand einzuhalten, von den „Skeptikern“ ignoriert werden und damit nicht nur Demonstranten sondern auch Passanten gefährdet würden.
Die Zeitung wie die politische Klasse schweigt selbstverständlich dazu, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass die Verwaltung eine Genehmigung erteilte. An der Korruption in Buxtehude und Stade hat Corona nichts geändert. Aber der Ausnahmezustand macht sie deutlicher sichtbar als zuvor. Über aktuelle Infektionszahlen wird in vollkommener Übereinstimmung zwischen Verwaltung, Politik und Presse die gemeine Bürgerschaft im Landkreis Stade schon lange nicht mehr informiert, so dass die Verantwortlichen sich keine unangenehmen Fragen stellen lassen müssen.
Es gibt keine „Corona-Diktatur“, wie die „Skeptiker“ behaupten. Aber die Seuche wirft ein Schlaglicht darauf, wie wenig demokratisch die Verhältnisse sind.
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Fünfstellige Infektionszahlen und hunderte Tote täglich sind inzwischen Normalität. In den Medien wird über Impfstoffe, Tests und Masken berichtet, als seien diese Allheilmittel. Dieser Tage will mir ein Freund irgendeine käuflich zu erwerbende Maskensorte aufdrängen, als hinge meine Gesundheit davon ab. Außer in den zehn Minuten, die ich im Supermarkt verbringe, komme ich niemandem nahe genug, um mir Viren einzufangen, und zum Schutz davor hat der Stofflappen, den ich mir vorbinde, bis dato offenbar ausgereicht. Mich mit einer vermeintlich besseren Maske zu versehen, mich testen zu lassen oder darüber nachzudenken, wann ich für eine Impfung in Frage komme, scheint mir so sinnlos wie eine Diskussion mit Corona-Leugnern. So wie diese in ihrer Abwehr der Schutzmaßnahmen immer aggressiver werden, scheint sich andererseits Panik auszubreiten.
Als die Pandemie begann, war ich eine Zeit lang ängstlich, weil ich nicht wusste, was auf mich zu kommt. Inzwischen habe ich mich mit dem Damoklesschwert eingerichtet und festgestellt, dass es von mir keine sonderlichen Verhaltensänderungen fordert. Ungesellige Einzelgänger sind in Seuchenzeiten klar im Vorteil. Nachdem ich zwischenzeitlich von einer Klein- in eine Großstadt umgezogen bin, haben sich meine Kontakte weiter reduziert. Unter anderen Umständen hätte ich mich wohl bemüht, neue Kontakte zu knüpfen; so sind es genau die zwei Leute, die ich bereits kannte, mit denen ich in meiner neuen Umgebung verkehre. Beide sind über 60 und einer aufgrund dessen, was Vorerkrankung genannt wird, besonders vorsichtig. Ich könnte an zwei Händen abzählen, wie oft ich ihnen begegnet bin.
Im Übrigen halte ich mich von Menschen fern. „Du musst mehr unter Menschen“: der Spruch wurde mir gern entgegen gehalten, wenn ich mich mit etwas am Schreib- und Zeichentisch beschäftigt war und diesen nur verließ, um zum Supermarkt zu gehen oder allein durch die Gegend zu strolchen. Einsamkeit wie eine Krankheit zu betrachten ist weit verbreitet. Aber bloße Gesellschaft ist kein Heilmittel dagegen. Die Insassen von Alten- und Pflegeheimen können an Einsamkeit leiden, obwohl sie praktisch nie allein sind. Und dass sie nie allein sind hat sie zum bevorzugten Opfer des Virus gemacht. Zufällig kannte ich das Heim, das die ersten Todesfälle in Stade zu verzeichnen hatte, näher. Und was die Bedingungen dort für mich so abschreckend machte war dasselbe, das die Ausbreitung des Virus begünstigte: dass kein Alleinsein möglich war.

„Ich denke, dass dies kein richtiger Umgang mit kranken Menschen ist. Mir ist klar, dass in Corona-Zeiten die ganze Welt verrückt spielt, aber deswegen keine Lebensmittel mehr einkaufen zu können, geht nun wirklich zu weit“, sagt die 59 Jahre alte Sozialversicherungsfachangestellte aus Himmelpforten, die ihre Lebensmittel in Stade einzukaufen pflegte. Aus einem bestimmten Geschäft wurde sie nun verwiesen, weil sie keine Maske trug.
Einer Lungenerkrankung wegen hat die Dame ein Attest, das sie von der Maskenpflicht befreit. Aber das interessierte die Geschäftsleitung nicht, die sich auf den Schutz ihrer anderen Kunden berief, als sie von ihrem Hausrecht Gebrauch machte. Eine Anzeige der Frau gegen das Geschäft wegen Diskriminierung wurde von der Polizei nicht angenommen.
Sie sei keine „Corona-Leugnerin“, beteuert die Frau in dem Bericht, den ihr das Stader Tageblatt widmet. Natürlich nicht, denn die heißen in der politisch korrupten Postille „Skeptiker“. Die Geschichte wird aus der Sicht der Frau dargestellt, die meint, alle Welt würde wegen Corona „verrückt spielen“ und Kranken den Einkauf von Lebensmitteln verwehren.
Offenbar hat sich die Redaktion verschätzt, denn die Kommentare auf ihrer facebook-Site geben nicht etwa der Frau Recht, sondern weisen sie darauf hin, dass es von ihr verantwortungslos sei, ohne Maske einkaufen gehen zu wollen, und sehr wohl zumutbar, Attest hin oder her, andere vor ihrer Aerosolaura zu schützen. Tatsächlich melden sich ebenfalls an der Lunge Erkrankte zu Wort, die sich durch ein paar Minuten Maskentragen nicht schwerwiegend beeinträchtigt fühlen und verweisen die Frau außerdem darauf, dass Lebensmittelgeschäfte schon lange vor Corona auch Lieferungen ins Haus vornahmen. Nun, vielleicht nicht von Stade nach Himmelpforten. Dieser Punkt wird interessanterweise im Zeitungsartikel nicht weiter hinterfragt: warum die Frau unbedingt nicht an ihrem Wohnort einkaufen können zu müssen meint.
Der Versuch der Pseudo-Journalisten, die Meinung ihrer Leserschaft im Sinne der Maskengegner zu manipulieren, ist jedenfalls krachend gescheitert. Diese ist offenbar noch nicht ganz so hirnverbrannt wie die Redakteur*innen.
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Nur ein Viertel der Ansteckungen kann zurück verfolgt werden. Dementsprechend fragmentarisch sind die Angaben einer aktuellen Studienauswertung von Forschern in Baltimore. An der Spitze der Infektionsquellen stehen demnach mit 46 bis 66 Prozent die privaten Haushalte, gefolgt von Sammelunterkünften und Pflegeheimen.
Chorproben, Fitnessstudios, religiöse Veranstaltungen und fleischverarbeitende Betriebe sind die erstrangigen Superspreader. In den USA hat der Feiertag Thanksgiving am 26. November die Infektionszahlen in die Höhe getrieben. Weihnachten wird aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls einen Anstieg zur Folge haben.
Ausatmen, Husten, Sprechen, Singen und Niesen sind die Hauptübertragungswege. Auf der Haut überleben die Viren bis zu elf Stunden, am längsten auf Kunststoff und Edelstahl. Türklinken oder Haltestangen im Bus können bis zu drei Tage infektiös sein. Die Übertragung durch kontaminierte Oberflächen auf Menschen ist freilich bislang nicht bewiesen, ebenso nicht die Ansteckung durch den Verzehr kontaminierter Lebensmittel.
Ich lebe allein und habe bis auf eine Ausnahme vor Wochen an keinerlei Veranstaltung in geschlossenen Räumen Teil genommen. Ich berühre keine andere Türklinke außer der eigenen. Aber nach Weihnachten werde ich aufpassen müssen, denn unter den Leuten, mit denen ich Umgang habe, sind solche, die sich zu Familienfeiern getroffen haben werden.
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Dass ich nun eine FFP2-Maske tragen muss, wenn ich den Supermarkt aufsuche, wird die Ausbreitung der Seuche nicht verhindern. Jene, die ihre Kontakte nicht verringern wollen, werden mit FFP2-Maske so weiter machen wie bisher. Womöglich werden sie sich für geschützter halten und mehr Begegnungen haben.
Gestern, am 21. Januar, beim Spaziergang im Sonnenschein am Kaiser-Friedrich-Ufer, sind wie gehabt Jogger unterwegs und verstreuen ihre Aerosole, stehen Leute ohne Maske beieinander und atmen sich ins Gesicht. Unterdessen hat eine der üblichen Pannen bei der Bahn, für die ausdrücklich niemand verantwortlich sein soll, für Gedränge auf den Bahnsteigen und überfüllte Ersatzbusse gesorgt.
Nachdem die Regierung vor einschneidenden Maßnahmen zurück geschreckt ist und lediglich den halbgaren Lockdown bis Mitte Februar verlängert hat, füllen sich die Straßen wieder. Alles nicht so schlimm: die Botschaft der Politikerkaste ist angekommen.
Die Spezialdemokraten sind bereits im Wahlkampfmodus und fordern Sonderrechte für Geimpfte. Tatsächlich geht es mit den Impfungen nicht voran. Zur Volksverdummung verschickt die SPD-Gesundheitsministerin von Niedersachsen Aufforderungen, sich um einen Impftermin zu bemühen, der von den zuständigen Stellen nicht vergeben werden kann. Dass das Schreiben auch an Tote adressiert ist, setzt der Inkompetenz der Entscheidungsträger die Krone auf.
Über 50.000 Tote verzeichnet die Statistik. Anlass für den Bundespräsidenten von den Spezialdemokraten, nein, nicht zu dringenden Ermahnungen an die Leichtfertigen, sondern für die Planung einer Trauerfeier, bei der sich die Politikerkaste selbst in Szene setzen kann.
Die Medien haben sich vollends auf Verlautbarungen verlegt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unzufrieden mit der deutschen Politik, aber die Schlagzeilen beherrschen die Feierlichkeiten zur Vereidigung der US-Präsidenten. Und die Sozialen Netzwerke füllen sich mit Nonsens, als hätte die Welt nur Mode-Probleme.

An diesem 26. Januar ist schon wieder von „Lockerungen“ zu lesen. Die Infektionszahlen sind rückläufig, aber immer noch sterben täglich Hunderte. Kein Grund für den Bundesgesundheitsminister, auf die Einhaltung der Regeln zu pochen, sondern deren baldige Abschaffung an die Wand zu malen.
Die drei jungen Frauen, die ich gestern fotografierte, haben den Schuss so wenig gehört wie die Politikerkaste. Ich folge ihnen eine ganze Weile, weil ich den gleichen Weg habe, in gehörigem Abstand, um nicht in ihre Aerosolwolke zu geraten. Sie plappern die ganze Zeit, als gäbe es keine Seuche, und später werden sie auch beieinander stehen und sich nicht um Abstand scheren.
Zwei Jahre würde es dauern, bis die Seuche ausgestanden sei, prognostizierten die Virologen, aber das kümmerte die Politikerkaste nicht, und sie fing schon in Frühjahr 2020 mit dem Versprechen auf „Lockerungen“ an. Über den Sommer legte sie die Hände in den Schoss und traf keinerlei Vorsorge für den Winter. Nun also wird binnen weniger Wochen mehr gestorben als im ganzen abgelaufenen Jahr, und ein Ende ist nicht in Sicht. Aber die Politikerkaste war nicht einmal imstande, den Lockdown zu verschärfen, sondern schwafelt unverdrossen von Lockerungen dessen, was sie gerade erst beschlossen hat.
Man muss nun eine „medizinische“ Maske beim Einkauf tragen. Das funktioniert, und eine der drei jungen Frauen auf dem Foto zieht sich eine Maske über, als sie ein Geschäft betritt, während ihre Begleiterinnen draußen auf sie warten. Sobald sie jedoch den Laden verlassen hat, wird die Maske abgesetzt, und die drei setzen ihre Schwatztour fort.
Im Supermarkt tragen nun alle eine „medizinische“ Maske, und einige fühlen sich so viel besser geschützt, dass sie nicht mehr auf Abstand achten. Ein Lockdown, der von Lockerungsgerede der Politikerkaste begleitet wird, ist für die Katz.
Infektionsausbrüche in Alten- und Pflegeheimen sind inzwischen Alltag, ebenso in Großbetrieben. Alle Tage löst die Polizei Partys auf, und jene, die die Polizei entdeckt, sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Impfeuphorie ist ebenfalls abgeflaut, denn die Impfstoff-Produzenten haben offenbar mehr versprochen, als sie halten können, und die Politikerkaste hat ihnen nur zu gern geglaubt.
Unterdessen wird bekannt, dass ein Ministerpräsident bei den Videokonferenzen, in denen über den Umgang mit der Seuche entschieden wird, sich mit einem Handyspiel beschäftigt. Es ist erst das erste der mindestens zwei Jahre Leben mit der Seuche abgelaufen. Sofern die Politikerkaste ihr Verhalten nicht ändert, können es auch drei Jahre werden.
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Vor vielen Jahren hielt ich mich eine Weile lang täglich im Johannisheim in Stade auf. Die personelle Ausstattung war schon damals grenzwertig. Die räumlichen Verhältnisse waren klaustrophobisch. Alten- und Pflegeheime schossen wie Pilze aus dem Boden, sie waren als Investorenmodell entdeckt worden, und die Gemeinden taten ihr Bestes, um diese Gelddruckmaschinen anzulocken.
„Bloß nicht in ein Heim“, sagte meine Mutter immer wieder, die eine dieser Verwahranstalten vor ihrem Fenster hatte. Ihre Wohnung konnte sie schon lange nicht mehr verlassen, und vielleicht hätte sie mehr Pflege gebraucht. Aber ihr graute vor allem vor dem Verlust der Privatsphäre, die das Heim für sie bedeutete. Davor, stets dicht an dicht mit anderen leben zu müssen. Sie starb, bevor die Entscheidung, sie in ein Heim einzuweisen, schließlich doch angestanden hätte.
Dicht an dicht mit anderen zu leben war im Johannisheim Alltag, als ich dort ein- und ausging. Daran wird sich in der Zwischenzeit nichts geändert haben. Inzwischen aber brach die Seuche aus. Und im Johannisheim wurden im Frühjahr 2020 die ersten fünf Toten im Landkreis Stade verzeichnet.
Nun, im Januar 2021, sind wiederum fünf Menschen dort gestorben. Corona-Ausbrüche und Todesfälle in Heimen sind längst üblich geworden. Wovor meine Mutter sich fürchtete, der Mangel an Privatsphäre, hat sich als Gesundheitsrisiko erwiesen.
Geschehen ist im Johannisheim offenbar seit fast einem Jahr nichts, dass das Risiko vermindert hätte. Zuletzt war zu lesen, dass man die Bundeswehr um Hilfe gebeten hätte. Träger des Heims ist ein gemeinnütziger Verein. Profite sollten demnach mit dem Betrieb nicht gemacht werden.
Woran hakt es dann, dass die Corona-Schutzmaßnahmen dort offenbar nicht gewährleistet werden? Eine naheliegende Frage, auf die keine Antwort zu erhalten ist. Weder Behörden noch Presse stellen die Frage überhaupt. Die aus dem Produktionsprozess Ausgeschiedenen sind für eine kapitalistische Gesellschaft nur Ballast. Schon zu normalen Zeiten interessieren ihren Lebensverhältnisse nicht, und während der Seuche hat man sich daran gewöhnt, dass sie einfach verrecken.
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Zwei junge Frauen stehen plaudernd mitten auf dem Gehweg. Ohne Maske, die Gesichter keine 30 Zentimeter entfernt. Ich mache einen Bogen um sie, um nicht in ihre Aerosolwolke zu geraten.
Ein paar Minuten später passiere ich die Stelle erneut. Sie stecken jetzt die Köpfe zusammen und studieren etwas auf einem Handy. Nachdem ich sie umrundet habe, werfe ich noch einen Blick zurück. Und wahrhaftig: sie umarmen sich zum Abschied.
Vielleicht ging es diesmal gut, vielleicht trug keine der beiden den Virus in sich. Aber das konnten sie nicht wissen und würden es (noch) nicht merken, wenn es anders wäre.
Kurz darauf lese ich auf mopo.de: „Hamburg meldet neue Zahlen – sprunghafter Anstieg der Todesfälle“.
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Als über 60-Jähriger und als Hartz-IV-Bezieher müsste ich gleich zwei Mal in den Genuss einer Verteilaktion von FFP2-Masken kommen. Eigentlich müsste zwei Mal Post mit Gutscheinen für verbilligte oder kostenlose Masken bei mir eingehen. Doch nichts davon. Die Ankündigungen in den Medien sind erschienen, aber ob ihnen auch Taten folgen, wird von den hochbezahlten hirntoten Lautsprechern, die die Redaktionen bevölkern, gar nicht oder nur sehr ausnahmsweise überprüft.
Kritische Berichterstattung stand noch nie sehr hoch im Kurs. 90 Prozent der Journalisten sind Lakaien der Politikerkaste und sonstigen Herrschenden. Während der Seuche haben sie ihre Arbeit vollends vom Schreibtisch aus erledigt, indem sie von PR-Agenturen und Pressestellen vorformulierte Texte umgearbeitet haben. Die Wirklichkeit, die in ihren Erzeugnissen ohnehin nur selten Platz fand, ist nahezu vollständig daraus verschwunden.
Die AfD mit ihrer Lügenpresse-Parole und die Corona-Leugner mit ihrem fundamentalen Unglauben treffen den wunden Punkt der Pseudo-Demokratie. Die vierte Gewalt ist kastriert. Journalisten sind nicht an ihrem Beruf interessiert, sondern an der Aufstockung ihrer Bankkonten und der Steigerung ihres Ansehens bei denen, die sie für wichtig halten, weil sie mit dem Kopf in ihren Arschlöchern stecken.
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Während weiterhin täglich hunderte an der Seuche sterben, will der Heimatminister die systemrelevanten Friseurläden wieder öffnen. Kein Scherz, sondern Ausdruck der Verkommenheit der Politikerkaste. Diese will sich anderseits an den Toten laben. Der Bundespräsident, von dem während der Seuche sonst nichts Relevantes zu hören war, hat für April einen Staatsakt angekündigt, bei dem der Verstorbenen mit viel Trara und weihevollem Politikergeschwätz gedacht werden soll.
Warum wartet man damit nicht bis zum Ende der Pandemie? Und was ist mit denen, die nach April noch an der Seuche sterben werden, nachdem klar ist, dass die Impfungen schwerlich vor September abgeschlossen werden sein können? Will man eine weitere Feier mit Fahnen nachschieben? Oder sind jene Toten weniger des Gedenkens würdig?
Der Bundespräsident beschwört Gemeinschaft und Gesellschaft, um seinen obszönen Vorschlag zu rechtfertigen, und wer seine Selbstbeweihräucherung als solche benennt, wird von den Reichen und Rechtgläubigen, die unter der Seuche am wenigsten leiden, aus der Gemeinschaft ausgesondert. Schöne neue Welt, die so voller Heuchler ist.
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Erst stand die Gastronomie im Focus, nun sind es die Friseure. Politikerkaste und Medien geben beinahe täglich dem Gejammer der Coiffeure breiten Raum und avisieren, dass ausgerechnet diese Branche mit besonders engem Körperkontakt von den Seuchenbeschränkungen ausgenommen werden solle.
Wenn die Leute sich an die Kontaktbeschränkungen hielten, bräuchten sie sich über ihre Frisuren keine Gedanken machen. Aber auf einer Party kann man natürlich nicht unfrisiert erschienen, wie? Dass die Regeln in der Gastronomie womöglich besser kontrolliert werden als im privaten Umfeld könnten Lockerungen in diesem Bereich rechtfertigen. Für eine Öffnung der Friseurläden gibt es kein Argument – außer Eitelkeit.
Tatsächlich liegen nach wie vor keine Daten darüber vor, wie sich das Virus verbreitet. Alle Lockerungsdebatten sind notgedrungen spekulativ. Dass Politikerkaste und Medien sich dabei wahlweise einzelne Bereiche herausgreifen – zur Erklärung müsste man schon eine Verschwörungstheorie bilden.
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Impferschleichung ist das Delikt der Stunde. Während absehbar ist, dass alle Voraussagen der Regierung Makulatur sind und die Prioritäten bei der Impfung laufend verändert werden, greifen diejenigen zu, die es können. Angeblich 600 Dosen waren in Halle/Saale übrig geblieben, und der Oberbürgermeister verfügte darüber nach Gutsherrenart, weil angeblich niemand, dem die Impfung zugestanden hätte, erreichbar war. Der Amtsträger beklagt eine „Hexenjagd“ gegen sich und sieht offenbar auch keinen Rücktrittgrund darin, dass er die Impfungen derart schlecht organisiert hat, dass 600 Dosen übrig bleiben konnten. Der Chef der Feuerwehr in Hamburg-Harburg hat ebenfalls die günstige Gelegenheit genutzt und seine Frau mitgeimpft. Undsoweiter undsofort. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. So ist der Raubtierkapitalismus halt. Wozu die Aufregung?
Die vom Bundesgesundheitsministerchen im Dezember den über 60-Jährigen versprochenen Gutscheine für kostengünstige FFP2-Masken sind an diesem 9. Februar bei mir noch nicht eingetroffen. Gesindel wie ich ist entbehrlich und kann verrecken. Nein, so sagt das niemand aus der Politikerkaste. Aber sie handeln danach. Was am Ende solchen Handelns heraus kommt, lässt sich in den Geschichtsbüchern nachlesen. Die Politikerkaste und ihre Speichellecker lesen indes nicht, sie gedenken immer nur mit Fahnen, weihevoller Musik und Sprechblasen. Das immerhin hat Corona geschafft: die Seuche hat deutlich gemacht, wie inkompetent und moralisch verrottet jene sind, die keine Gelegenheit auslassen, sich selbst als Elite auszustellen. Tatsächlich haben sie ihre Stellung nur dem Erbe ihrer Eltern und Großeltern zu verdanken, und diese haben massenhaft Leichenfledderei begangen.
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Offensichtlich werden die Kontakte nicht ausreichend eingeschränkt. Offensichtlich wird der Abstand nicht ausreichend eingehalten. Offensichtlich scheren sich immer noch allzu viele nicht um die Seuche ohne sie geradezu leugnen. Denn die Infektionszahlen sind weiter hoch.
Aber nicht davon erzählen die Medien. Vielmehr tun sie so, als würden alle sich vorbildlich verhalten und fürchterlich darunter leiden. Weswegen unbedingt die Friseure wieder öffnen müssen. Weswegen es Kindern nicht zuzumuten ist, nicht in der Kita abgeliefert zu werden.
In Österreich ist der Lockdown gelockert worden, und schon haben die Leute nichts Besseres zu tun, als sich vor und in irgendwelchen Geschäften zusammen zu rotten, als hinge ihr Leben davon ab.
Es ist hoffnungslos. Die Krankheit wird nicht verschwinden, das Sterben wird weiter gehen. In Politik und Medien sind Vollidioten am Werk, und niemand weist sie zurecht. Statt auf die Warnungen von Virologen wird auf das Gewäsch von Psychologen gehört, die allenthalben Depressionen wuchern sehen.
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Statt von Lockerungen wird nun von einem Öffnungsplan geschwafelt. Dabei ist das Problem nach wie vor ein anderes: die Leute rotten sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit öffentlich zusammen, und was sie privat tun, kriegt keiner mit, kann es aber an den weiterhin hohen Infektionszahlen ablesen. Wie sich die Infektionsketten bilden, bleibt mysteriös. Falls die Gesundheitsämter über Daten verfügen, werden diese nicht öffentlich gemacht. Wahrscheinlicher aber ist, dass keine Erkenntnisse vorliegen, weil die zuständigen Stellen ein Jahr nach Beginn der Pandemie mit genauso viel Personal ausgestattet sind wie vorher.
Dass die Öffnung der Friseurläden zu einer Verringerung der Infektionen beitragen wird, wird wohl niemand ernsthaft erwarten. Mehr aber passiert nicht. Der Lockdown reicht offenbar nicht aus. Mehr zu tun scheut sich die Regierung. Weil das hieße, zielgenau gegen Infektionsherde vorzugehen. Weil man aber über keine Daten verfügt, unterbleibt das selbstverständlich.
In den Medien wird der Mangel an Wissen über Infektionswege allenfalls nebenher erwähnt, und die Politikerkaste rührt nicht daran. Mich erinnert es daran, dass seit 20 Jahren Polizei und Justiz von denselben Populisten mit Aufgaben versehen werden, die sie dann nicht erfüllen können, weil sie kaputt gespart werden. Man will die Probleme gar nicht lösen, weil der populistische Wettstreit darum eines der wenigen Politikfelder ist, auf denen sich die Kaste noch profilieren kann. Im Übrigen gilt das Wort der Lobbyisten. Auf Wirecard sind sie alle herein gefallen und haben die Ganoven machen lassen. Besser ausgestattete und unabhängige Kontrollbehörden hätten etwas unternehmen können. Aber dann hätten die Lobbyisten nichts zu schmieren gehabt.
Deutschland in Seuchenzeiten erweist sich als Bananenrepublik, in der nur eins ganz sicher funktioniert: dass Wirtschaftsverbrecher sich ungestört die Taschen voll stopfen können.

Landbewohner sind in Seuchenzeiten klar im Vorteil. Sie können sich im Freien aufhalten, ohne Virenschleudern allzu nahe kommen zu müssen. Zwar rotten sie sich auch dort zusammen, wo Parkplätze sind. Aber sie könnten auch anders.
Als Großstadtbewohner habe ich keine Wahl. Der Frühling ist vorzeitig ausgebrochen, und sobald ich vor die Tür trete, habe ich Infektionsherde am Hals. Die Gehwege sind allenthalben schmal und alle paar Schritte gerate ich ins Gedränge. Wo Radfahrer an einer Ampel warten, ist überhaupt kein Durchkommen mehr möglich.
Trotzdem ich Slalom laufe, gerate ich in die Aerosolwolken anderer. Vielleicht wäre ein anderes Vorgehen möglich, aber die Mehrheit der Leute ist nun einmal unachtsam. Sie versammeln sich zu dritt oder viert ohne Maske auf dem Gehweg, den sie damit abriegeln. Sie hecheln joggend durch das Getümmel. Nur mit verdoppelter Aufmerksamkeit kann ich Körperkontakte vermeiden.
Ich bin auf dem Weg zum Supermarkt und zurück. Eine notwendige Verrichtung, die mir sogar unter den Bedingungen einer Ausgangssperre gestattet wäre. Auf dem Weg dorthin passiere ich etliche geschlossene Geschäfte. Und die Menschenströme steuern keineswegs die paar geöffneten Supermärkte und Bäckereien an. Sie flanieren wirklich nur, einige mit Eistüten in der Hand. Ich halte Ausschau, kann aber die Eisdiele nicht entdecken, die offenbar ihr Geschäft wieder aufgenommen hat.
Nein, ich bin nicht panisch, sondern nur realistisch. Die Infektionszahlen steigen, und die Zahl der täglichen Toten muss man suchen, weil die Medien sich darauf verlegt haben, Normalität zu suggerieren und über Osterurlaube zu fantasieren. In Hamburg sind die Schulen geschlossen, sonst würden noch mehr Kinder und Jugendliche Trauben auf der Straße bilden.
Ich war von Anfang an auf zwei Jahre Dauer der Pandemie eingestellt. So hatten es die Virologen anfangs prognostiziert, aber Politiker, Medien und Bürgerschaft wollten es nicht hören und fingen schon im Mai vorigen Jahres an, von der „Rückkehr zur Normalität“ zu schwafeln an.
Im öffentlichen Raum tun die Leute so, als sei alles wieder wie vor dem vergangenen Frühjahr. Ich sehe Händeschütteln und Umarmungen, und im Supermarkt ein Ehepaar mit Kindern ohne Maske. Am Eingang zum Geschäft steht ein Wachtposten. Hat er nicht hingeschaut, oder haben sie die Maske einfach wieder abgenommen, nachdem sie ihn passiert haben? Egal. Eine Diskussion mit ihnen brächte mich nur in Spuckweite, also sehe ich zu, dass ich weiter komme.
Wie sorglos erst sind all diese im Privaten? Die paar Partys, die von der Polizei aufgelöst werden, sind nur Zufallsfunde.
Ich lasse die Sonne draußen scheinen und bleibe dort, wo ich sicher sein kann, dass niemand mir zu nahe kommt. Auf Umgang mit Gedankenlosen kann ich gut verzichten.
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Etwas spricht mich auf der Straße an. Die Kleidung gibt keine Auskunft, und da das Wesen eine Maske trägt, kann ich der Stimme und den Gesichtszügen nicht entnehmen, ob es sich um Männlein oder Weiblein handelt. Aber das Wesen tritt forsch auf mich zu und käme mir näher als die zwei Meter Abstand, die ich für unerlässlich halte, würde ich nicht ausweichen. Im Übrigen reagiere ich nicht und sehe zu, dass ich weiter komme.
Während das Wetter frühlingshaft wird, begegnen mir Wesen dieser Art immer häufiger auf dem Gang zum Supermarkt und zurück.
Kontaktvermeidung ist seit Monaten die Losung. Ich mache mir nichts vor und gehe davon aus, dass allzu viele sich nicht darum scheren. Aber ich tue es. Und wenn ich schon zwei Mal überlege, ob diese oder jene Begegnung mit Freunden notwendig ist, dann will ich nicht auf der Straße von Fremden angequatscht werden.
Die Bettler in Hamburg sind still und zurückhaltend. Das ist auch so vorgeschrieben. Offensives Betteln könnte die Polizei auf den Plan rufen. Aber diese Wesen, die nun wieder ständig meinen Weg kreuzen, mich aufzuhalten versuchen und mir zu nahe kommen, sind keine Bettler. Jedenfalls nicht förmlich. Sie sind als Spendensammler unterwegs. Sie versuchen Geld für Organisationen einzutreiben, die sich der Weltrettung verschrieben haben.
Unterdessen hat der Hamburger Senat eine Verschärfung der Maskenpflicht beschlossen, um der Ausbreitung des Virus entgegen zu wirken. Bei einer untergeordneten Behörde, dem Bezirksamt Eimsbüttel, pfeift man dagegen auf die Regeln, an die gewöhnliche BürgerInnen sich halten sollen, und hat den Spendensammlern die Genehmigung zum Ankobern erteilt.
Wer für irgendeine vermeintlich gute Sache Geld eintreibt, über dessen Verbleib man rätseln darf, erhält Sonderrechte. Wer zum Lebensunterhalt bettelt wird von der Polizei vertrieben. Noch Fragen?
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An diesem 5. März 2021 ist das Komplettversagen der Politikerkaste bei der Bewältigung der Pandemie offenbar. Das Impfen funktioniert nicht, und mit einer Test-Strategie ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Der Lockdown wurde zwar verlängert, aber zugleich bestimmten Branchen eine Öffnung erlaubt, während andere Bereiche ohne erklärte oder erkennbare Gründe geschlossen bleiben. Nebenbei wird ein jahrzehntelanges Totalversagen bei der Digitalisierung offenbar, die Homeschooling und Homeoffice ebenso blockieren wie es die Nachverfolgung der Infektionsketten verhindert hat.
Es gibt ein gewisses Gezerre entlang der Parteigrenzen, aber letztlich halten alle zusammen, denn das, was die Pandemie offenkundig hat werden lassen, betrifft eben die gesamte Politikerkaste: dass sie eine Kaste ist, die vom Leben und Alltag der gemeinen Bürgerschaft getrennt agiert und fortlaufend Entscheidungen trifft, die allein den eigenen Pfründen dient. Man schwafelt vom Gemeinwohl, während man nur vom Eigennutz angetrieben wird. Die einzige Opposition besteht in der Haltung der AfD, die Seuche überhaupt in Abrede zu stehen.

Ich habe mitten in der Pandemie meine Wohnung bezogen, und die Bücher stapeln sich auf dem Boden, weil mir die Linsenschrauben fehlen, um Regale aufzubauen. Übermorgen öffnen die Baumärkte, aber ich werde den Teufel tun, mich in das zu erwartende Getümmel begeben. 12.674 Neuinfektionen und 239 Todesfälle werden für diesen 13. März 2021 gemeldet; besonders Kinder und Jugendliche stecken sich „sehr rasant“ an, nachdem Kitas und Schulen wieder geöffnet wurden.
Auf den Straßen herrscht allenthalben Gedränge, und Hamburger Verwaltungsrichter, die offenbar nur mit dem Auto unterwegs sind, haben soeben erlaubt, dass Jogger mir ihre Aerosole unmaskiert ins Gesicht hecheln können. Impfen und Testen funktioniert nicht, und die Politikerkaste scheint völlig die Kontrolle über ihre eigenen Handlungen verloren zu haben.
Ich scheiße auf Lockerungen, solange der Anteil der Unvernünftigen immer noch derart hoch ist, dass ich eine Infektion riskiere, sobald ich mich unter Menschen begebe. Von Corona-Leugnern ist inzwischen weniger zu hören, aber es gibt zu viele, die meinen, die Seuche würde nur deshalb verschwinden, weil sie sich nicht mehr darum kümmern. Die so tun, als würde ihr Leben von Haarschnitten oder Theaterbesuchen abhängen und als würden sie vor Langeweile sterben. Deren Identität davon abzuhängen scheint, dass sie sich mit anderen Virenschleudern zusammenrotten können.
15. Dezember 2020 at 12:31
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