»Phryné devant l’Aréopage« von Jean-Léon Gérôme

Meine Förderin ächzt auf, wenn wir auf dem Gang durch die Kunsthalle Hamburg zu diesem Gemälde kommen. Freilich hat Jean-Léon Gérôme 1861 eine Männerfantasie gemalt.

Von »Hetäre« oder »Kurtisane« ist die Rede, wenn die betreffenden Frauen Geschichte gemacht haben; sonst spricht Mann von Prostituierten, Huren, Nutten. Von Phryne, die vor 2400 Jahren lebte, heißt es, sie sei das Modell für eine »Aphrodite« von Praxiteles gewesen: der ersten Statue einer nackten Frau. Die Hure als Muse ist also auch ein antiker Topos. Phyrne war reich und mächtig, aber nur gerade so angesehen wie eine Frau in einer Männergesellschaft sein konnte.

Legendär wurde eine Gerichtsverhandlung, in der Phryne der Schamlosigkeit und Götteslästerung angeklagt war. Sicher scheint, dass ihre Entblößung die Richter von ihrer Unschuld überzeugte. In einer Version der Geschichte soll Phryne selbst dem Tribunal ihre nackten Brüste gezeigt haben; in der, die Gérôme darstellt, ist es ihr Liebhaber und Anwalt, der zum letzten Mittel greift und die Richter mit der Schönheit seiner Mandantin blendet.

»Phryné devant l’Aréopage« von Jean-Léon Gérôme

Der Maler wirft einen Blick in die Runde der Richter und zeigt ihre schaulustigen Gesichter. Das Objekt ihrer Begierde macht keine Anstalten, ihren Körper zu bedecken, sondern verbirgt das Gesicht, als wolle sie nicht sehen, wie sie angesehen wird.

Pornografie und Herabwürdigung der edlen Antike wurde Gérôme bereits von seinen Zeitgenossen vorgeworfen. Wohl inzeniert er die Zurschaustellung einer nackten Frau, aber diese marmorblasse Gestalt ist weniger verführerisch als statuarisch. Ein Hingucker ist sie, weil der Maler das Bild so inszeniert und es nach außen hin öffnet, so dass der oder die Betrachter/in unweigerlich zum Zuschauer wird.

Es ließen sich Varianten auf das Motiv denken, bei denen nicht die Nackte, sondern etwas anderes enthüllt wird. So wird das Zeigen des Zeigens als übergeordnetes Bildmotiv klar.

Phryne vor den Richtern in der → Hamburger Kunsthalle

Siehe über ein anderes Bild aus der Kunsthalle, das Kunstkammerregal von Georg Hinz: → Die Kunst der Täuschung

Anmerkungen zu Jean-Léon Gérôme

Ich habe die Geringschätzung der gegenständlichen Malerei durch die Kunsthistoriker der Moderne nie geteilt und ihre Abgesänge auf die Malerei überhaupt für vorübergehende Propaganda des Kunstmarktes gehalten. Neo Rauch, um nur ein beliebiges Beispiel zu nennen, wäre von denen, die bis in die 1990er an den Akademien das Sagen hatten, für Unkunst gehalten worden, hätten sie zur Kenntnis genommen, was nicht ihren Standards entsprach. Auch im Rückblick auf die Kunstgeschichte hat dieser modische Modernismus Verheerungen angerichtet.

Die Impressionisten gelten als das Maß der Dinge für die Epoche, in der Jean-Léon Gérôme malte. Die Malerei sah sich erstmals in Konkurrenz zur Fotografie. Fotos sind schneller und billiger als Gemälde, sofern es um realitätsnahe Abbildung geht. Die Impressionisten malten wie kein Fotograf die Wirklichkeit wiederzugeben vermochte. Das Licht, das die Kameralinse objektiv bannt, wurde von ihnen durch Auge und Hand gefiltert; der Augenblick, der auf dem Film versteinert, wurde auf der Leinwand im Fluss gezeigt.

Gérômes Alternative zum Foto sind Bilder, die zu seiner Zeit keine Kamera einfangen kann, die aber dennoch an die Lichtbilder seiner Zeit erinnern. Die langen Belichtungszeiten zwangen die Menschen im Bild zu einem statuarischen Verhalten. Der Schwung eines Vorhangs auf einer Daguerrotypie kann lebendiger anmuten als die Gestalt dessen, der porträtiert wird.

Gérômes Gemälde sind ebenso arrangiert wie Studioaufnahmen. Seine Momentaufnahmen sind wie für die Ewigkeit erstarrt. Sie erscheinen wie Theaterkulissen, die die Wirklichkeit täuscht echt imitieren, nicht wie die Realität selbst. Gérômes machte seinerzeit, was heute ein Hollywood-Film mit der Realität anstellt: er macht sie größer, schöner, schneller. Der Ideal-Entwurf wird nicht imaginiert und skizziert, sondern in einem 3-D projiziert, das die Einbildung im Virtuellen realer anmuten lässt als irgendeine greifbare Realität.

Gérôme wird nicht zur Fantastischen Malerei gerechnet, weil er keine Fabelwesen oder nicht-euklidische Architekturen abbildet. Aber seine Motive sind keine realen Vorgänge, sondern Kompositionen aus Figuren und Gegenständen, die, selbst wenn sie auf ein reales Vorkommnis Bezug nehmen, Fantasien zeigen. Dass er diese, wie es sehr viel später genannt werden wird, hyperrealistisch abbildete, markierte die Überlegenheit der Malerei gegenüber der Fotografie in ihren Anfängen. Der Fotograf mochte die Wirklichkeit getreuer als die meisten durchschnittlichen Maler wiedergeben können. Aber ihm stand keine Farbe zur Verfügung. Damit konnte der Maler den Fotografen nicht nur in der Naturtreue übertreffen, sondern er konnte überzeugend auf die Leinwand bannen, was ein Fotograf nie und jedenfalls nie in dieser perfekten Zusammenstellung vor die Linse bekommen konnte: historische Ereignisse sowieso, aber auch Räume, die für die Kameras (noch) zu groß waren.

Dass die Farbigkeit des Gemäldes nicht nur eine Applikation der Gegenstände ist, sondern eine Eigendynamik entfaltet, wie sie die Impressionisten ausspielten, zeigen die Räume bei Gérôme, die zum größten Teil nur aus dem bestehen, womit die Impressionisten ihre Bilder zur Gänze bestreiten: Farben und Pinselgesten. Das kann Gérôme auch; die Flächen im Hintergrund, die er wie ein Impressionist bearbeitet, erzeugen im Kontrast zu den fotorealistischen Gegenständen und Gestalten im Vordergrund den Eindruck der Tiefenschärfe, einem Aspekt, den die Fotografie in das Repertoire der Bild-Wahrnehmung eingebracht hatte.