Notizen über den Haschisch-Rausch bei Walter Benjamin und den Surrealisten

Dass ich mich nicht an dieser Schein-Debatte beteilige, schrieb ich im September 2017 aus gegebenem Anlass (→ Der Shit des Öko-Bauern) und meinte das Gerede von einer Legalisierung des Cannabis-Konsums, wobei selbst jene, die sie fordern, davon nur wie hinter vorgehaltener Hand und mit Angst vor der eigenen Courage sprechen.

Was ich nicht unterlassen muss, ist hier einen Beitrag zur Kulturgeschichte des Cannabis einzustellen, der mir dieser Tage zufällig beim Aufräumen zur Hand kam. Der Ausdruck ist nicht datiert, aber ich nehme an, er ist 1990/91 entstanden.

Ich habe die Forschung zu Walter Benjamin und zum Surrealismus seither nicht eingehender verfolgt und meine Eingangsbemerkung dazu in Klammern gesetzt, aber der aktuelle Überblick bei google zeigt nach Buchanzeigen alsbald fremdsprachige Einträge, obwohl ich nach deutschen gesucht habe.

Die 2015 erschienene Rezension einer Inszenierung von Haschisch in Marseille in der Neuen Zürcher Zeitung zeigt an, dass der nicht-akademische Kenntnisstand dem vor drei Jahrzehnten entspricht. Schon im ersten Satz wird der Verehrte dafür entschuldigt, sich der Droge ausnahmsweise nicht unter ärztlicher Aufsicht bedient zu haben: »Wenn sich einer scheut, Haschisch zu essen, und es dann, nach langem Zögern, doch tut, um sich mit veränderter Wahrnehmung der Magie der Dinge anzunähern und das Erlebte am Tag danach zu notieren, so wirkt das sympathischer, als wenn ein Berserker aufgeregt von seinen Drogenexzessen berichtet.«

Das Literaturverzeichnis einer Masterarbeit an der Universität Gent von 2015 über Die Verbindung von Literatur und Wissenschaft im Rauscherlebnis. Charles Baudelaires und Walter Benjamins experimentelle Suche nach den Paradiesen ist so dürftig wie meines.

Kunst Kultur Cannabis (Foto: urian)
Typoskript kurz vor der Vernichtung

Übrigens ist es bemerkenswert, dass es viele Abhandlungen über den Surrealismus gibt, über automatisches Schreiben, in denen Rauschgift nicht einmal erwähnt wird. Am berühmtesten Nadeaus Buch. Das ist immerhin ein Unrecht, das man den Surrealisten antut.
– Bernward Vesper

Zwischen 1927 und 1934 verfasste Walter Benjamin eine Reihe von Texten zum Cannabis- und zum Meskalinrausch. [Die nicht sehr umfangreiche biografische Literatur hat nichts dazu beizutragen, in welchem Umfang er sich der Drogen bediente.] In Myslowitz – Braunschweig – Marseille findet sich ein Hinweis: »[…] denn ich war diesen Arabern vielleicht ähnlicher als den Fremden, die ihr Weg in dergleichen Kneipen führt. In dem einen Stück wenigstens, dass ich auf meinen Reisen den Haschisch mit hatte.« Und in Haschisch in Marseille notiert er: »Wie ich nicht fähig sei, kommendes Unglück, kommende Einsamkeit zu fürchten, immer bliebe der Haschisch.« Die Einsamkeit wird von der Droge aufgehoben, indem sie »in jene Gemeinschaft Wissender« aufnimmt, »deren Zeugnisse von Baudelaires Künstlichen Paradiesen bis zu dem Steppenwolf von Hesse mir sämtlich vertraut waren.«

Über den Platz, den er seinen Haschisch-Studien im Gesamtwerk zumaß, äußerte sich Benjamin 1932 in einem Brief an seinen Intimus Gershom Scholem: neben die Sammlung seiner literarischen Essays und die Passagen stellt er sie, als einer der größten Projekte, die er noch abschließen wolle, und die durch die Flucht vor den Nationalsozialisten vereitelt wurden. Verglichen mit den beiden anderen Bänden seiner imaginären Bibliothek ist das Nachlass-Material zum Haschisch spärlich: vor allem Protokolle von Rausch-Sitzungen mit den Ärzten Jöel und Fränkel, ehemaligen Kommilitonen, durch die er auch mit der Droge in Berührung gekommen zu sein scheint.

Die theoretische Bedeutung, die er seinen Haschisch-Erfahrungen bemaß, lässt erkennen, dass der Drogenrausch eine einschneidende Erfahrung war; ihre Spuren lassen sich auch in den umliegenden Texten auffinden: Echos der Rauschnotizen in den Zentralpark-Fragmenten seines Baudelaire-Buchs und im Zusammenhang mit dem Pariser Stadtbild, dem Surrealismus und der Mode in den Passagen. Benjamin erwähnt das Haschisch in seinem 1929 erschienenen Surrealismus-Aufsatz und spielt damit auf die von André Breton als Schlaf-Epoche verschlüsselten Drogensessions der Surrealisten zwischen 1920 und 1922 an. Offenbar waren es Rauscherfahrungen, die Benjamin für die surrealistische Poetik sensibilisierten. Der auf den Surrealismus gemünzte Begriff der »profanen Erleuchtung« ist wesentlich von den eigenen Haschischinspirationen gezündet.

Robert Desnos
Robert Desnos in der Schlaf-Epoche (Illustration in Bretons Nadja, 1928)

Dass die Drogenerfahrung zudem auf Benjamins Schreibweisen Einfluss hatte, markiert er, wenn er mehrfach auf die Nähe von Schreibrausch und Haschischrausch hinweist, vor allem an einer vielzitierten Stelle von Haschisch in Marseille: »Man müsste, um den Rätseln des Rauschglücks näher zu kommen, über den Ariadne-Faden nachdenken, Welche Lust in dem bloßen Akt, einen Knäuel abzurollen. Und diese Lust ganz tief verwandt mit der Rauschlust wie mit der Schaffenslust. Wir gehen vorwärts; wir entdecken dabei aber nicht nur die Windungen der Höhle, in die wir uns vorwagen, sondern genießen dieses Entdeckerglück nur auf dem Grunde jener anderen rhythmischen Seligkeit, die da im Abspulen eines Knäuels besteht. Eine solche Gewissheit vom kunstreich gewundenem Knäuel, das wir abspulen – ist das nicht das Glück jeder, zumindest prosaförmigen, Produktivität? Und im Haschisch sind wir genießende Prosawesen höchster Potenz.« Gerade diese enge Verschlingung von Rausch und Schreiben könnte die Sparsamkeit des Materials über Benjamins einschlägige Erfahrungen erklären: der Spiegel spiegelt sich selber schwerlich.

Durch mehr als einen ihrer »Ahnen« sind die Surrealisten auf die Droge aufmerksam geworden. Im November 1845 erhält der Journalist, Dichter und Freund Baudelaires Théophile Gautier ein Bilet des 27-jährigen Malers Fernand Boissard de Boisdenier: »Am kommenden Montagabend gibt es bei mir Haschisch unter der Leitung von Moreau und Roche. Willst Du mitmachen? Dann komm zwischen fünf und sechs. Du wirst an einem bescheidenen Abendessen teilnehmen und die Halluzinationen abwarten. Du kannst auch den Spießer mitbringen, den du spritzen wolltest – da man auch sonst Unbekannte zu mir mitbringt, kommt es auf einen mehr oder weniger nicht an. Ich muss es nur vorher wissen, damit ich entsprechend viel Futter bestellen kann«. Der erwähnte Arzt Moreau de Tours hatte im selben Jahr unter dem Titel Haschisch und Wahnsinn die erste europäische Studie über die Droge veröffentlicht, worin er den Rausch als simulierten Wahn beschreibt. Eine unverändert gültige Einschätzung, die der Ausdruck »Psychotomimetika« für die Gruppe von Drogen, zu der Haschisch gerechnet wird, festhält.

Das Gästebuch des Club des Haschischins ist ein Lexikon der Literatur und Kunst jener Jahre. Mit Baudelaire, Paul Verlaine und Arthur Rimbaud schrieben sich die drei herausragendsten Lyriker der Epoche ein. Der Orientalismus als bürgerliche Mode geht auf diesen Ursprung zurück. Als Kulturarbeiter, die ihre Rauschbilder umsetzen, tragen Clubmitglieder wie Delacroix dazu bei, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wahl orientalischer Themen für Autoren und Maler, die verkaufen wollten, unumgänglich wird.

JeanLeonGerome
Orientalismus in der Malerei, hier von Jean-Léon Gérôme

Dass Korrespondenzen zwischen ästhetischen Vorlieben und Drogengebrauch bestehen, liegt auf der Hand. Wie weit der Einfluss der Droge auf die Kunst strukturell geht, als Zerfahrenheit eingeübter Denkbewegungen, Desorganisation von Vorhandenem, als destruktives Spiel wie als Motor von Metamorphosen und Täuschungen, als Hebel für die Krusten von Zeit und Raum, belegen Traditionen im islamischen Orient, dessen geistiges Bild die Droge nach Paris zaubert.

Die prominentesten Erwähnungen des Cannabis finden sich in den Erzählungen aus 1001 Nacht, wo es nicht nur als geistiger Hanf, der betäubt und becirct, Verwendung findet. Der Erzähler selbst ist im Orient nahezu synonym mit dem Cannabisesser. Dass »die islamische Kunst […] offensichtlich aus Cannabis-Visionen hervorgegangen« sei, bemerkt Henri Michaux spontan in seinen Selbstversuchen L’infinfi turbulent. Rudolf Gelpke stützt seine Behauptung, das Cannabis habe »stilbildend auf die islamische Kultur eingewirkt« unter anderem mit einer Studie von 1922, in der hingewiesen wird auf die Rolle der Haschisch essenden, wandernden Derwische als Erzähler, Boten, fliegende Blätter.

Die Funktion des Haschischessers als Unterhalter bei Hofe karikiert Lord Dunsany in einer Geschichte. Der Berauschte, der von London erzählen soll, schläft über der sogar dem Herrscher unglaubwürdigen Fantasmagorie seiner Beschreibung der Metropole, »in der Milch und Honig fließen« und die Pracht kein Ende nehmen will, selbst in Schlaf. Der Haschischesser bei Hofe vollzieht, was André Breton von der écriture automatique erwartet: dass sie wie »gesprochener Gedanke« wäre.

In Alfred Jarrys Tage und Nächte (1897) finden sich Passagen, die wie eine Vorwegnahme der Champs magnétiques (1920) anmuten, dem von Breton und Philippe Soupault automatisch geschriebenen Grundbuch des Surrealismus. Der Roman eines Deserteurs ist einer der seltenen Texte, die die Mitwirkung der Droge beim Schreiben manifest machen. Jarry schildert darin seine Wehrdienstzeit, der er sich durch Simulation einer Krankheit entzog. Zu seinen Helfern bei der Flucht gehörte ein Arzt, bei dem Jarry und andere regelmäßig Haschischpillen einnahmen.

In den Gesprächen der Haschischraucher Pyast, Noscome und Herreb lässt Jarry dem Wahnsinn alle Zügel los. Schreibt er seinen autobiografischen Bericht bereits unter Einfluss der Droge, ist sie hier selbst Gegenstand des Textes. Die vom Cannabis geschürten Bildbewegungen des Erinnernden korrespondieren denen, die Jarry als Soldat erlebte, nachdem er sich beim Arzt mit Pillen versorgt hatte. Die Droge ist das Verbindungsstück zwischen der erinnerten Vergangenheit und der literarischen Gegenwart; es ist dieselbe Zeit: Rauschzeit, in der Erlebtes und Erinnertes sich vermischen. Für Jarry ist die Droge ein Medium des Eingedenkens wie das Schreiben. Die Gespräche der Haschischraucher beschließen den Kreis des Textes; sie sind nicht Literatur, sondern Dokument. Die literarische Zeit des Erinnerns begegnet der erinnerten.

Ein Freund Jarrys betonte, die Wiedergabe der Dialoge sei von absolut wissenschaftlicher Strenge; über Jarrys Alter Ego, Sengle, der Einzelne, wird zu Anfang des Kapitels gesagt: er »legte sich in eine Ecke, hinter den Tisch«, um an den Gesprächen nicht teilzunehmen. Nachdem der Waldmensch die irre Konversation unterbrochen hat, heißt es: »Sengle, der Klarsichtigste, weil der Zustand des Haschisch seinem normalen Zustand am ähnlichsten ist, da es ein höherer Zustand ist, ist durch eine einfache Umkehrung fast ein normaler Mensch geworden und hat Notizen gemacht.«

cannabis

Für die Surrealisten eröffnete die Droge einen neuen Zugang zur écriture automatique. Inspiriert von den Techniken der freien Assoziation, die etwa der Psychiater Pierre Janet bereits vor Sigmund Freud anwandte, wie sie bei spiritistischen Sitzungen von den in Trance gefallenen Medien praktiziert werden, vom automatischen Reden der Schizophrenen, deren Verhalten Breton in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs studieren konnte, beruht das automatische Schreiben auf dem Glauben an eine kohärente Bild- und Erlebniswelt unterhalb der Bewusstseinsschwelle, zu dem es den Zugang eröffne. Die Blockaden des Ich, sich im gewöhnlichen Wachbewusstsein gehen zu lassen, werden bei der gelungenen écriture automatique wie in der psychoanalytischen Sitzung umgangen, so dass das Individuum wie im Traum redet. Dieser Traum verlässt die Grenzen der Nacht, in der Freud ihn eingesperrt wissen will, und tritt bei Breton ans Tageslicht. Unter dem Pflaster liegt der Strand, man muss ihn nur zu heben wissen.

»Es handelt sich um die wundersame Fähigkeit, zwei weit voneinander getrennte Realitäten zu erreichen, ohne den Bereich unserer Erfahrungen zu verlassen, sie zusammenzuführen und aus ihrer Berührung unserer Sinneswahrnehmung einzufangen« – diese Fähigkeit zum Kurzschluss des von der Rationalität Getrennten, beschrieben von Breton in einer seiner vielen erweiternden Varianten auf den Satz des Comte de Lautréamont in den Chants de Maldoror von der »wunderbaren Begegnung« von Nähmaschine und Regenschirm auf dem Seziertisch, ist dasselbe, mit der das Haschisch ausstattet.

Die Drogenerfahrung musste den Surrealisten als Beweis der Theorie und Schlüssel zur Praxis erscheinen. Beweis der Theorie, insofern die Droge das Individuum, ohne dass es den Alltag tatsächlich verließe, in eine fremde Welt versetzt, die das Gewohnte wie eine gläserne Hülle umgibt oder von ihm ausgedünstet zu werden scheint, nicht durch Halluzinationen den Alltag verwandelt, sondern nur verfremdet durch die vertiefenden Einblicke, die dem Bewusstsein ermöglicht werden durch eine andere Zeitökonomie. Unter Einfluss des Haschisch ließ sich nicht nur noch automatischer Schreiben, da die Droge jeden Automatismus unterstützt, jeden Selbstlauf der Aktionen oder Gedanken fördert, alles, was im Kreis geht und immer wiederkehrt; bekifft zu mehreren unterwegs wurden die Straßen von Paris leicht zum Theater, das man mit fantastischen Gestalten besetzen konnte.

Der im Zeichenrausch über die Boulevards flanierende Breton, der vom »Wind des Eventuellen« um die nächste Ecke getrieben wird, ist dieselbe Figur, die in Haschisch in Marseille Ich sagt. Die »Ich« sagt, denn Benjamins Ich ist so wenig ein biografisches wie das Bretons, wenn er seine Begegnung mit Nadja schildert. Die Fragwürdigkeit dessen, was alltags als Ich wahrgenommen wird, ist die zentrale Erfahrung jedes, nicht nur des Haschisch-Rauschs: die »Lockerung des Ichs« (Gottfried Benn), das Aufknüpfen der Fesseln, mit denen es an die Gewohnheiten der bürgerlichen Existenz bindet.

Haschisch in Marseille, veröffentlicht 1932 im Feuilleton der Frankfurter Zeitung, beruht auf einem Protokoll vom 29. September 1928. Schon 1930 hatte Benjamin eine Bearbeitung des Protokolls als Novelle Myslowitz – Braunschweig – Marseille drucken lassen. Der Maler Scherlinger, dem er die Geschichte zuschreibt, erzählt sie als Anwort auf eine Bemerkung Ernst Blochs, jeder sei schon einmal beinahe Millionär geworden. (Bloch übrigens, wie vielleicht auch Franz Hessel, war Teilnehmer der von Jöel und Fränkel veranstalteten Drogenversuche. Man könnte den Analogien zwischen seiner Konzeption des utopischen Tagtraums und dem Haschischrausch nachgehen.)

Die Novelle hat eine Moral. Nachdem der Erzähler inne geworden ist, dass er durch den Rausch den Reichtum verpasst hat, endet die Geschichte: »Nie habe ich mich, schloss der Erzähler, so klingend, klar und festlich nach einem Rausche gefühlt.« Eine orientalische Maxime klingt hier an, die Sympathie mit dem »Niedrigen«, zu dem das »Kraut der Armen«, haschischat-al-foqarâ, anleitet: »Die wahre Armut ist nicht nur das Fehlen von Reichtümern, sondern vielmehr auch das Fehlen des Wunsches danach; das heißt: das Herz des Sufi muss so leer sein wie seine Hand.«

Im Orient, wo die Reichen Wein trinken, ist das Cannabis Opium für das Volk. In Europa findet es seine Liebhaber ebenso an den Rändern der Gesellschaft, zunächst bei den Intellektuellen und décadents, dann bei Studenten, schließlich bei den Armen. In diese Kreise verlegt Benjamin, in den Worten Hermann Schweppenhäusers, die »profane Erleuchtung«: »Der profan Erleuchtete steht exterritorial zur nüchternen Welt, die ihn verachtet, nicht weil er über ihr schwebt, sondern weil er tief in sie versenkt ist und Kumpanei mit den Dingen hält, die dem Nüchternen, dem Dinge und Menschen parieren sollen, so suspekt und verwerflich ist, wie nur dem Bürger der Umgang mit den Verworfenen, den Geächteten und Unterdrückten. Es ist diese Indignation der Nüchternen, welche die große Vereinigung aller profan Erleuchteten stiftet, der Lesenden, der Denkenden, der Wartenden, der Flaneurs und der Opiumesser, der Träume, der Berauschten, der poètes maudits.«

Haschisch in Marseille ist Benjamins Beitrag zum Surrealismus, sofern dessen literarisches Hauptwerk nicht ein automatischer Text, sondern das streng auskalkulierte Protokoll einer seltsamen Begegnung, Nadja, ist, worin Breton vom erotischen Rausch des Wahnsinns Bericht gibt wie Benjamin von seiner abendlichen Cannabis-Flanerie über die Cannébiere in Marseille. Surrealistisch ist die Literatur nur die Magd des Wunders.

Der Surrealismus war weder nur eine Kunstrichtung oder die Schule des automatischen Schreibens, nicht einmal eine Philosophie. Für Breton bedeutet Surrealist zu sein eine Lebens-Art. Die Formulierungen in Büchern skizzieren lediglich ein »Koordinatensystem«, mit dem der Einzelne sich im überwirklichen Ganzen zurechtfinden kann. Surrealismus ist eine poetische Perspektive, die sich im Alltag, jenseits von Gemälden, Objekten und Schriftstücken, ausdrückt. Ein moderner Mythos, eine umfassende Welterzählung, in der Marxismus und Psychoananylse vereinbar werden, Okkultismus und Buddhismus wie zwei Seiten derselben Sache erscheinen.

Als Kind waren Sammelbilder Bretons Leidenschaft, zeitlebens sammelte er Objekte und Kunstwerke. Das Ideenfeld des Surrealismus wird vom Sinn des Sammlers für Gleichartiges bestimmt. »Mit dem Löffel muss man das Gleiche aus der Wirklichkeit schöpfen«, notiert Benjamin und fährt fort: »Ich sah nämlich nur Nüancen: diese jedoch waren gleich. Ich vertiefte mich in das Pflaster vor mir, das durch eine Art Salbe, mit der ich gleichsam darüber hinfuhr, als eben dieses Selbe und Nämliche auch das Pariser Pflaster sein konnte. Man redet oft davon: Steine für Brot. Hier diese Steine waren das Brot meiner Phantasie, die plötzlich heißhungrig darauf geworden war, das Gleiche aller Orte und Länder zu kosten.«

In den Crocknotizen heißt es bündiger: »Der Opiumraucher oder Haschischesser erfährt die Kraft des Blickes, hundert Orte aus einer Stelle zu saugen.« Dieser nivellierende Blick, der alles miteinander vermischt, ähnelt jenem archimedischen Punkt, von dem Breton im Zweiten Manifest des Surrealismus schreibt, dass in ihm alle Widersprüche sich aufheben.

Breton, Baudelaire, Benjamin und der Club der Haschischesser
André Breton; Charles Baudelaire; der Club des Haschischins; Walter Benjamin

Die Annahme einer Über-Wirklichkeit, in der das Leben des Einzelnen wie nach einem individuellen Muster gewebt erscheint, ist keine wissenschaftlich beweisbare, aber eine erlebbare Theorie. Der Magnet, der die Zeichen anzieht und zu Figuren legt, ist die wunderbare Begegnung. Die »größte Quelle surrealistischer Inspiration«, vermerkte Marcel Duchamp, »ist die Liebe: die Verherrlichung gewählter Liebe«. Bretons wichtigste Prosawerke, Nadja, L’amour fou, Arcane 17, sind Liebeserklärungen. Die schicksalhaften Begegnungen mit Frauen, denen er sie widmet, sind Erlebnisse des Rauschs der Verliebtheit. Was nüchterne Kopfe für Artikulationen eines Beziehungswahns halten, ist für Breton über-vernünftige Klarsicht. Die Wirklichkeiten der Liebenden vereinigen sich zu einer neuen Realität, von der aus der Blick sich öffnet für gewöhnlich verborgene, wunderbare Aspekte »am Grunde des menschlichen Tiegels, in jenem paradoxen Bereich, wo die Verschmelzung zweier Wesen, die einander wirklich erwählt haben, allen Dingen die verlorenen Farben der Zeitenfrühe unter andren Sonnen zurückerstattet«.

Die Liebenden wandern wie durch einen »Wald der Winke«, in dem jedes zufällige Detail ein Echo der eigenen Begierden zurückwirft; in dem die Außenwelt unaufhörlich mit der Innenwelt korrespondiert und die Beziehung zweier Menschen auf die Verbundenheit aller miteinander und mit der Welt verweist. Surrealismus als Lebensform ist die Verwandlung verliebter Spontaneität in eine bewusste Haltung, die nach geheimen Koinzidenzen Ausschau hält und offen ist für Überraschungen. Der Surrealist glaubt an einen Punkt, von dem aus wahnsinnige Begierde und profane Realität eins werden.

Der surrealistische Alltag wird von der Leidenschaft für Zeichen, rätselhafte Gleichzeitigkeiten, vom Mysterium des »objekten Zufalls« erhitzt und damit selbst zur Poesie. Lyrik wird nicht hergestellt, ihr Ort ist nicht das Buch, sondern die Straße. Deshalb kann, nach einem Wort Lautréamonts, die Poesie von allen gemacht werden, jeder Mensch ein Künstler sein.

Surrealistischer Alltag sind die Straßen und Plätze von Paris. Die surrealistische Reise durch die Stadt, ein Warenhaus der poetisch vergrößerten Trivialitäten, erfolgt ohne den Ballast der Rationalität: »Ein seltsamer Reisender, Reisender ohne Gepäck, habe ich Paris nie verlassen«, bemerkt Philippe Soupault. Man muss unbelastet, unvorbereitet sein, um sich vom »Wind des Eventuellen« überraschen zu lassen. Die Surrealisten wussten, wie sie, ohne die gewohnte Umgebung zu verlassen oder sie zu verändern, auf ihre Kosten kamen. Ihre »spirituelle Politik der Freude« (Susan Sontag) bestand im Loslassen, in der Meditation bei vollem Verkehrslärm, mitten in der Metropole, auf dem Trottoir, in der Menge und gerade durch sie.

Ein Effekt, der sich durch Monotonie, als Hypnose, einstellt. Nirgends sind die Gedanken, die Träume freier als am Fließband. »Tun«, notiert Benjamin, »ist ein Mittel zum Träumen«. Aufmerksamkeit entsteht in der rauschhaften Zerstreuung. Die Surrealität, nach der Breton und seine poetische Sekte fahnden, ist eine allgegenwärtige Möglichkeit, die durch innere Trümmerarbeit entdeckt wird. »Auch die kleinste Stadt der Welt wäre für sie eine ständige Baustelle.« (Paul Éluard)

Die beiden Texte, die Benjamin immer wieder als Beispiel für Surrealismus zitiert, Nadja und Louis Aragons Paysan de Paris haben bei allen Unterschieden eine Gemeinsamkeit: sie schildern eine besondere Begegnung mit allen zur Verfügung stehenden literarischen Mitteln. Aber die Begegnung ist nicht erfunden, sie ist authentisch; und sie ist Poesie, deren Abziehbild der Text lediglich ist. Er ist ein Protokoll. Breton hebt den dokumentarischen Charakter von Nadja mehrfach hervor, etwa durch die Art der fotografischen Illustration: die Orte der kalendarisch angeordneten Ereignisse sind durch Agentur-Fotos, anonymstes Material, vertreten, um die Nicht-Subjektivität, geradezu Allgemeingültigkeit der Ereignisse zu unterstreichen und sie aus dem Bereich der Literatur in die Wirklichkeit zurück zu verlegen. Aragon faksimiliert in seinem letzten Blick auf die Passage de l’Opera kurz vor ihrem Abriss Zeitungsnotizen und beschreibt in der Art eines Miniaturmalers jeden der Läden, die Bars und Bordelle im Obergeschoss. Eine Preisliste des Café Certa informiert über die Namen der angesagten Pariser Cocktails.

Nadja / Le Paysan de Paris
Illustrationen in Nadja und Le Paysan de Paris

Es ist bezeichnend, wie eng sich Benjamin in Haschisch in Marseille an die Struktur des ursprünglichen Protokolls hält. In der Novelle verflacht der Rausch zur Anekdote; das spätere Feuilleton simuliert ihn in der Sprunghaftigkeit der Notation, der literarisch folgenreichen Maxime Bretons folgend: »Ich werde mich hier darauf beschränken, zwanglos in Erinnerung zu rufen, was mir einige Male ohne Intervention meinerseits zugestoßen ist, was mich auf unvermutbaren Wegen erreicht und mir das Ausmaß der besonderen Gnade und des besonderen Missgeschicks zeigt, deren Objekt ich bin; ich werde ohne vorbereitete Ordnung sprechen, der Laune der Stunde folgend, die oben schwimmen lässt, was will.« In Benjamins Protokoll findet sich die später eliminierte Passage: »Das Folgende am nächsten Morgen geschrieben. Unter durchaus herrlichen, leichten Nachwehen, die mir die Sorglosigkeit geben, die Reihenfolge nicht ganz zu beachten.«

Literatur

L. Aragon: Pariser Landleben, München 1969 | H.-G. Behr: Weltmacht Droge, Wien-Düsseldorf 1984 | W. Benjamin: Über Haschisch, Frankfurt/M. 1981; Briefe, Frankfurt/M. 1966; Der Surrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, in: Über Literatur, Frankfurt/M. 1969 | A. Breton: Die kommunizierenden Röhren, München 1973; Nadja, Frankfurt/M. 1974; L’amour fou, Frankfurt/M. 1975; Auftritt der Medien, in: Surrealismus in Paris 1919–1939, Leipzig 1990 | A. Breton / P. Soupault: Die unbefleckte Empfängnis / L’immaculee conception, München 1974; Les champs magnétiques / Die magnetischen Felder, Heidelberg 1990 | Lord Dunsany: Traum von London, in: story, Reinbek 1989 | F. H. Ludlow: Der Haschisch-Esser, Basel 1981 | H. Michaux: Turbulenz im Unendlichen. Die Wirkungen des Meskalins, Frankfurt/M. 1971 | R. Gelpke: Vom Rausch in Orient und Okzident, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1982 | A. Jarry: Tage und Nächte, München 1985 | W. Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genussmittel, München 1980 | S. Sontag: Annäherungen an Artaud, in: Im Zeichen des Saturn, Frankfurt/M. 1983 | B. Vesper: Die Reise, 22. Aufl. Frankfurt/M. 1982

Siehe auch → Fakensieps/Paris