Vom Verschwinden der Fußgänger aus dem Verkehr
Plötzlich sind die maßgeblichen Kreise im Hanselstädtchen Stade, ihre Politiker und Publizisten, aufs Rad gekommen. Die Christdemokraten, die Radler bisher beharrlich ignoriert und bestenfalls belächelt oder beschimpft haben, lassen ihren Kandidaten für den am 26. Mai 2019 zur Wahl anstehenden Bürgermeisterposten sogar plakativ mit Verbesserungen im Zweiradverkehr werben.
Welche Wähler könnten auf diese schreiende Heuchelei hereinfallen? Auto-Stammwähler gewiss nicht. Gibt es inzwischen so viele Neu-Radler, denen die frühere Verachtung der CDU für ihre Spezies unbekannt ist? Oder steht gar kein Kalkül dahinter, und ist es bloß pures Phrasendrehen um ein angesagtes Motiv, die Klimarettung durch das Rad?
Als ich vor einem Vierteljahrhundert von Berlin nach Stade gelangte, von der Hauptstadt in ein Dorf, fand ich die im Stadtgebiet anfallenden Strecken so unbeträchtlich, dass mir der gewohnheitsmäßige Einsatz von Autos grotesk übertrieben vorkam. Hätten manche Leute keine Hunde, würden sie sich nie unberädert bewegen. Ich könnte mich und die Leser langweilen mit den Sprüchen, die ich mir als Nicht-Automobilist anhören musste. Nur vordergründig geht es um Zeit oder Praktikabilität. Auto oder Nicht-Auto entscheidet zwischen einer Lebensweise, einer Kultur.
Auf das Fahrrad verzichtete ich oft, weil viele Wege unverhältnismäßig anstrengend oder gar gefährlich waren. Radfahren war in und um Stade weder vorgesehen noch erwünscht. Dem ist unverändert so. Den Unterschied machen allein die aktuellen hohlen Beteuerungen der Maßgeblichen Dreihundert (nach der Schätzung eines früheren Bürgermeisters) der 50.000 Einwohner, der selbst ernannten Elite.
Der CDU-Kandidat macht keinen Hehl daraus, dass er ins Leere redet. Die Veränderungen, die er auf dem Plakat verspricht, das ich täglich per pedes passiere: wie sollen die aussehen? Auf seiner Homepage finde ich nur dies: »3. April 2019 – Fahrradtour auf Einladung von Bündnis 90/Die Grünen. Problemstellen im Stadtgebiet gesehen, die mit einfachen Mitteln zu beheben wären. Aber auch Aufgaben, die deutlich größer sind.«
So ist das also. Der CDU-Kandidat lässt sich von der Konkurrenz in das Thema einweisen und macht es zu seinem. Was er beizutragen hätte, behält er für sich und erwartet, dass die Wähler seine wohlfeilen Autofahrer-Floskeln über das Radfahren mit Kompetenz verwechseln.
Eine »Fahrrad-Aktivistin« der Grünen, die selbstverständlich in der Hauptsache ebenfalls Autofahrerin ist, hat in der Kreiszeitung die Probleme etwas konkreter benannt. Die Radwege seien »holprig und uneben« und zu schmal. »Dazu kämen die als sehr schlecht angesehene Führung des Radverkehrs an Baustellen, die Ampelschaltungen für Radfahrer und das Fahren im Mischverkehr mit Kfz.«
»Mischverkehr mit Kfz« soll wohl heißen, dass Zweiräder dieselben Straßen wie Autos nutzen. In Stade kein Problem, weil es nicht vorkommt, wie jeder wissen könnte, der den Verkehr nicht nur im Vorbeirauschen aus dem Auto wahrnimmt. Radfahrer ziehen ungeregelt kreuz und quer und zwar vor allem auf den Gehwegen, denn auf die Straßen wagen sie sich nicht. Dort sind jene Autofahrer unterwegs, die sie selbst in der übrigen Zeit sind, die Räder auf ihren Fahrwegen nicht dulden und nicht darauf eingestellt sind, sie zu beachten. Dass Autos und Zweiräder sich die Straßen teilen ist lebensgefährlich für die Radfahrer. Die weichen also auf den Gehweg aus und verdrängen dort die Fußgänger.
Womit das Hauptproblem der Verkehrsplanung bezeichnet wäre, das die »Aktivistin« auslässt. Weil sie es nicht erkennt und mit ihrem Engagement für den Zweiradverkehr nur auf das Feigenblatt abzielt, das sich immer mehr Leute vorhalten? SUV-Besitzer lassen ihre Panzer gelegentlich stehen, am liebsten sonntags, schwingen sich auf das Rad und treten pro forma ein bisschen für das Klima. Das könnten sie ebensogut lassen. Wie die Mehrzahl der CDU-Wähler denkt, denen ihr Kandidat eine grüne Ausrede dafür anbietet, so weiter zu machen wie gehabt.
Das Hauptproblem eines flüssigen Fahrradverkehrs, der in Stade nur an den Ausfahrtstraßen möglich ist, kann jeder alltäglich erfahren, der anders als die Maßgeblichen Dreihundert und ihre Handlanger nicht nur in der Fußgängerzone im Stadtzentrum ohne Auto unterwegs ist. Es heißt Platz.
Unlängst erst bin ich einem Unfall entgangen. An der Bremervörder Straße gibt es immerhin einen Radweg. Was natürlich nicht bedeutet, dass Radfahrer den Gehweg nicht befahren und Fußgänger respektieren würden. Stadtauswärts den Hang hinunter kamen mir zwei Radfahrer entgegen. Wie schnell sie waren, kann ich nur schätzen: 30 bis 40 Stundenkilometer? Der eine fuhr auf dem Radweg, der andere überholte ihn auf dem Gehweg. Dort befand ich mich, was ihn jedoch nicht scherte. Hätte ich den Blick gesenkt oder woanders hingesehen, wäre er direkt in mich gerast. Da ich indes um die Rücksichtslosigkeit der anderen Verkehrsteilnehmer weiß, bin ich stets achtsamer als sie. Ich machte einen Schritt zur Seite und entkam dem Raser auf dem Rad.

Und nein, es war kein Jugendlicher und keiner der Männer zwischen 18 und 25 Jahren, die als Autofahrer für die Mehrzahl der Todesfälle im Straßenverkehr verantwortlich sind, sondern ein Mann um die 60, einer der → Herrenradler, die sich lebenslang einen Scheißdreck um die Umweltkosten ihres Verhaltens gekümmert haben, nun aufs Rad gekommen sind und sich darob für bessere Menschen halten. Vom Plakat am Laternenpfahl grinste mich der CDU-Kandidat an.
Mein Schritt zur Seite, um dem Rasenden zu entgehen, charakterisiert die Gesamtsituation. Da der vorhandene Platz nicht vermehrt werden kann, wird die Verdrängung regulativ werden müssen. Sie findet bereits statt, wird aber weder von den Grünen noch der CDU angesprochen, weil beide sich des Themas aus der Herrenreiter-Perspektive annehmen. Dass den Autos Raum genommen wird, um Platz für Räder zu schaffen, ist fraglos ausgeschlossen. Mithin müssen die Fußgänger verschwinden.
In ihrem Reservat der Inneren Stadt von Stade werden sie längst bedroht, von Autofahrern seltener, aber ständig von Radfahrern, die zwischen den Passanten Slalom fahren und wie oben erwarten, dass ihnen Platz gemacht wird. Im übrigen Stadtgebiet werden sie in absehbarer Zeit nurmehr geduldet werden. Auf einer Strecke, die ich täglich gehe, am Bahndamm entlang über die Schwingewiesen, ist zu manchen Zeiten bereits eine Obergrenze erreicht. Räder rasen in beide Richtungen, und da die Lenker sich verhalten, als säßen sie in Autopanzern, bleibt es den Passanten überlassen, nicht zwischen ihnen zerrieben zu werden. Ergibt sich eine Engstelle, verringern die Beräderten nicht die Geschwindigkeit oder halten gar an, sondern klingeln wild darauf los, um zu verjagen, wer ihnen im Weg ist.
Das Rowdytum als Merkmal durchschnittlicher Radler hat sich etabliert und wird längst vererbt. Beräderte Mutter und Väter üben mit ihren Kinder, sich auf dem Gehsteig den Weg frei zu klingeln und anzupöbeln, wer nicht eilig zur Seite springt. Bei der CDU sowieso nicht, aber auch bei den Grünen ist man sich der Dimensionen dessen, wovon die Rede ist, nicht bewusst. Das Radfahren als Gegenmittel zum Klimawandel erzeugt bereits einen Kulturwandel.
Zu Fuß zu gehen wird unweigerlich geächtet werden müssen, damit die Visionen der vielseitig Beräderten Wirklichkeit werden. Aus Hamburg hört man, dass die Zunahme des Zweiradverkehrs Todesopfer fordert, bevorzugt durch abbiegende Lastkraftwagen. Statistiken zu Stade sind mir nicht bekannt, aber die Tendenz kann nur dieselbe sein. Im Straßenkampf zwischen Autos und Zweirädern sind letztere unterlegen; im Kampf um Raum jenseits der Straßen befinden sich die Fußgänger am unteren Ende der Nahrungskette.
Ökologisch macht das Verschwinden der Passanten zwar keinen Sinn, ökonomisch aber wohl, nach kapitalistischer Auffassung. Die Produktion von Fahrzeugen verbraucht zwar Ressourcen und Energie, mithin kann das Radfahren nicht umweltschonender sein als das Gehen. Aber das Rad und seine Accessoires sind Konsumgüter wie das Auto; ihr Vertrieb gestaltet sich daher genauso.
Während die Fahrzeuglenker ihre Gebete zum Klimawandel aufsagen, bewegen sie sich in Autos mit mehr Pferdestärken als sie brauchen, die Spitzengeschwindigkeiten erreichen, die allenfalls für ein paar Minuten auf der Autobahn oder bei einem illegalen Autorennen angezeigt werden. Steigen sie gelegentlich auf das Rad um, tut es kein schlichtes Gestell aus Rahmen und Rädern, sondern es muss eine bestimmte Marke, ein gewisses Design sein, mit einer aufwendigen Gangschaltung, so überflüssig ist wie die PS ihres Autos. Näheres unter »Fetischcharakter der Ware« in Band 1 des Kapital.
Gefahren wird nur in der Stadt. Auf den Landstraßen sieht man nach wie vor keine Räder, nicht auf denen, wo sie sich den Platz mit Pkw und Lkw teilen müssen, und nach wie vor sehr selten auf den paar parallelen Radwegen. Radfahren auf dem Land ist ebenso ein städtisches Phänomen wie in der Großstadt. So wenig wie die, die sich ein Rad auf das politische Panier malen, kämen ihre Wähler auf die Idee, eine Strecke von, sagen wir: 20 Kilometern mit dem Rad zurück zu legen. Sonntags im Sommer vielleicht, aber doch nicht alle Tage und bei Wind und Wetter.
Die Politpropaganda hat einen Fahrradschnellweg von Stade nach Hamburg als Alternative in die Medien setzen lassen. Wer soll den befahren? Die mehr als 30 Jahre jüngeren Männer, die mir den Vogel zeigen, wenn sie erfahren, dass ich eine bestimmte Strecke zu Fuß zurück lege und dabei eine geschlagene Stunde unterwegs bin? Sie sind nicht die Generation, die anders als zum Posen auf ein Rad steigt.
Ein Tabu wie Tempobeschränkungen ist es, die Wahrheit anzusprechen, die seit mindestens 40 Jahren eine Binsenweisheit sein könnte: ohne eine Obergrenze für Privatpanzer ist der Klimakollaps unvermeidlich. Der auf 30 bis 40 Prozent veranschlagte Anteil des Automobils am direkten Schadstoffausstoß wird als unantastbarer Sockelbetrag behandelt. Über Reduktion wird nur bei den übrigen 60 bis 70 Prozent nachgedacht. Ob die Panzer von fossilen Brennstoffen oder anderweitig angetrieben werden, trägt ihre Herstellung weiterhin zum Weltverbrauch bei, und sie beanspruchen unverändert unverhältnismäßig Platz und bestimmen die Lebensweise.
Gestern erst wurde ich mit den Planungen für einen Autobahnzubringer in Stade vertraut gemacht und konnte mir eine Vorstellung davon verschaffen, wie er die Stadt verändern wird. Von vergleichbaren Planungen für einen Ausbau des Bahnverkehrs war hier herum noch nie zu hören und würde kaum vergleichbare Anstrengungen von Politikern und Profiteuren abrufen können.
Der Untergang des Fußgängertums hat begonnen. Mein Trost ist, dass ich das endgültige Aussterben meiner Art nicht mehr erleben muss, weil ich vorher in personam verschwunden sein werde. Auf sozusagen natürliche Weise, hoffe ich, nicht durch einen Radler, dem es nicht schnell genug gehen konnte.
■
Diese Betrachtungen stellte ich an, bevor die Zulassung von E-Rollern politische und mediale Wellen schlug und erstmals die Neuverteilung des Platzes für Verkehr in den Focus rückte. Die Konkurrenz von E-Rollern müssen die Passanten in weiten Teilen von Stade nicht fürchten: das Pflaster, das schon den Radlern zu »holprig und uneben« ist, wird verhindern, dass jene, die meinen, keinen Trend auslassen zu dürfen, sich zum Posieren einen rasenden Fußuntersetzer anschaffen.
Die Gefahr, sich lächerlich zu machen oder auf die Nase zu fallen, ist ähnlich groß wie bei den Inline-Skates, die, wie natürlich längst vergessen ist, auch mal für die Bewältigung der heuer so genannten »letzten Meile« propagiert wurden. Die einzige Belastung auf dieser Strecke sind Automobilisten auf der Suche nach einem Parkplatz, ansonsten ist an der Stelle keine einschneidende Veränderung der Verkehrs- resp. Klimaprobleme zu erwarten.
Wie in Hinblick auf die Automobilindustrie hat sich der Bundesverkehrsminister bei der E-Rollerei als Ausrufer für Waren betätigt, von denen es immer neue geben muss, der Logik von Angebot und Nachfrage folgend, wozu ungekannte Bedürfnisse erzeugt werden müssen. Die allermeisten, die sich derzeit blitzgescheit über Klimarettung auslassen, haben das Kernproblem verdrängt: die kapitalistische Wirtschaftsweise hat das Klima versaut, mit ihr wird es nicht besser. Wenn ich das als Nicht-Marxist und Kommunistenfresser weiß, stellen die anderen sich offenbar dumm.
Nicht E-Roller oder neue Fahrräder braucht das Land, sondern weniger und kleinere Autos, die weniger und keine fossile Energie verbrauchen. Mit der Logik des Kapitals ist das unvereinbar. Zu schweigen von der steigenden Belastung durch immer mehr Menschen, die das kapitalistische Angebot konsumieren wollen.
Überbevölkerung war mal ein Schlagwort im Zentrum von Umweltschutzdebatten. Die Kinder, die 2019 für Klimarettung protestieren, hätten nach dem Erkenntnisstand der 1980er gar nicht geboren werden sollen. Ohne die Ein-Kind-Politik Chinas wäre das Klimakind schon vor Jahren in den Brunnen gefallen und jede weitere Konferenz überflüssig, sondern Vorbereitung auf den Ausnahmezustand angesagt.
Beim Surfen auf YouTube finde ich 40 Jahre alte Filme und Hörspiele, in denen durch Aliens der Menschheit der Untergang angedroht wird, in den die Umweltverschmutzung, wie das damals hieß, die Erde stoßen werde. Ohne Aliens wird das mit der Klimarettung wohl auch nichts mehr, wenn jeder, der auf ein Rad steigt oder einen Kilometer mit dem E-Roller zurücklegt, bereits meint, er sei ein Science-fiction-Held. (→ Lifestyle und Tod)
■
So sieht er also aus, der Kulturwandel: der »Fahrradkurier« im Auto parkt mit Warnblinker Radweg und Gehweg zu, obwohl sich nur wenige Radumdrehungen weiter eine Bushaltestelle befindet, die gern als Parkbucht benutzt wird. Rücksichtlosigkeit bleibt sich gleich, ob hinterm Lenkrad oder auf dem Sattel.
■
Was ich im April 2019 beschworen habe, wurde am 6. September 2019 in der Mitte von Berlin zum Fanal. Ein »Porsche SUV« (wobei das S für Sport stehen soll, was das Ganze zum weißen Schimmel macht) kam von der Fahrbahn ab, knickte einen Ampelmast um, drehte sich in der Luft und knallte gegen einen Zaun. Vier Passanten, darunter ein Kind, wurden getötet.
Kein Terroranschlag, kein Autorennen, der Fahrer nicht aus der Hochrisikogruppe zwischen 18 und 25 Jahren – nur ein Unfall, nach neuesten Stand infolge eines epileptischen Anfalls. Alltagsrisiko. Für Passanten. Der Fahrer und die beiden weiteren Insassen des Panzers erlitten zwar Verletzungen, aber offenbar keine schweren.
So what? Wer sich einen zwei Tonnen schweren Porsche-Panzer als Sportwagen leisten kann, beansprucht nur den Platz und das Gewicht, die ihm zukommen. Als könne wer in der Stadt gleicher sein als in der Gesellschaft überhaupt!
Porsche-Panzerfahrer gehen nicht spazieren, sie schlendern nicht herum. Sie sitzen nicht in Straßencafés. Wenigstens balancieren sie à tempo auf einem E-Scooter den anderen vor und über die Füße.
Natürlich stoßen die SUVs mehr CO2 aus, als ein gewöhnlicher Mensch zum Atmen braucht. Wer die Unterschiede der Einkommensverhältnisse nivellieren will, macht die Triebfedern des Kapitalismus kaputt. Und das will doch keiner, außer Kommunisten, nicht wahr? (→ Kein Wort mehr vom Klima)
■
Siehe auch
→ Der Unfall. Eine automobile Schauergeschichte
→ Herrenradler
→ Auto-Darsteller
→ Autos, Ökos, Arme und andere
→ Kein Wort mehr vom Klima
→ Bitte nicht den Bus!
6 Pingback