Zur Aura des Automobils

Ein Kulturwandel ist überfällig, und er hätte längst stattgefunden haben sollen, nachdem das Wissen um die Veränderungen der Erdatmosphäre Allgemeingut geworden waren. (Die heute 16-Jährigen haben den Klimawandel eben erst für sich entdeckt; heute 60-Jährige können nicht behaupten, nicht schon vor 40 Jahren davon gehört zu haben. Wie von etlichem anderen, das seither Generation für Generation als neu verkauft wird, weil die Tatbestände unverändert sind.)

Falls sich bei Bündnis90/Die Grünen noch jemand erinnert, stand in den Anfängen der Partei obenan auf dem Panier des Umweltschutzes die Abschaffung des automobilen Individualverkehrs in Panzern, die fossile Brennstoffe verbrauchen. Ich kann mich nicht erinnern, dass in dieser Hinsicht seither viel geschehen ist. Die Grünen haben wie alle anderen Autobahnen gebaut.

Die Partei-Chargen in der Unterelbe-Region, die ich ein Vierteljahrhundert beobachten konnte, haben sich um andere Verkehrsformen so wenig gekümmert wie die übrige politische Klasse. Mögen sich auch die eine oder andere kürzere Strecke mit dem Fahrrad statt im Auto zurücklegen und häufiger mit der Bahn fahren als andere, haben sie jedes Wort vermieden, dass ihre automobil beräderte Wählerschaft hätte verprellen können. (Zu schweigen von den engagierten Naturschützern, die bei Flugzeugbetrieben beschäftigt sind und daher zur Besteuerung von Kerosin keine Haltung zeigen.)

Als Nicht-Autofahrer kenne ich die Facetten des Kulturwandels besser als die meisten anderen, die in der Mehrheit Autofahrer sind und sich als solche eher ausnahmsweise selbst in Frage stellen. Für einen Aspekt bin ich umso empfindlicher, als ich in einer insgesamt ruhigen Kleinstadt lebe. In dem Winkel, in den es mich gegenwärtig verschlagen hat, würde ich kaum etwas anderes als Vogelstimmen hören, gäbe es nicht den fast ununterbrochenen Strom von Autos.

Wohlgemerkt, ich klage nicht, ich stelle nur fest. Ich habe beispielsweise mal ein paar Monate an der Stresemannstraße in Hamburg gewohnt und bedauere keine der Erfahrungen, die ich dort mit dem Autoverkehr machen konnte. Von meinem Fenster im Erdgeschoss sah ich in die Augen der Fahrzeuglenker, die dort mehrfach am Tag im Stau standen. Vorbei bretternde Lastwagen hat man auch anderswo; an dieser Stelle waren die Abgase ein Problem. Sie schlossen aus, das Fenster zu öffnen. 34 Jahre später, im vergangenen Jahr, wurde für genau diesen Streckenabschnitt ein Fahrverbot für Diesel-Autos erlassen. Solche Albernheiten kennzeichnen den überfälligen Kulturwandel.

Autos waren schon einmal viel lauter. Das Schnalzen der Reifen auf dem Kopfsteinpflaster kann in Stade mehr Geräusche erzeugen als die Motoren. Im Wohngebiet mit spärlichem Verkehr überhöre ich die Autos und schrecke auf, wenn ein Jugendlicher auf einem Motorroller mit Sog und Schwell aus Geknatter an mir vorbeizieht.

Im Straßencafé in der Holzstraße in Stade an einem Samstag: über die Wallstraße röhrt ein weißes Auto, und ich wende unwillkürlich den Blick. Fährt da gerade einer in die Fußgängerzone ein, muss ich aufspringen und mich in Sicherheit bringen?

Nee, bloß ein Auto-Poser. So heißt die Spezies im → Deutschlandfunk, der eine ähnliche Szene in Mannheim schildert: »Alle schauen hin, wenn teure, tiefergelegte, hochglanzpolierte Mittelklasseautos vorbeidröhnen.«

Anders als in Stade gibt es am Vorzugsplatz der Hirsche in Mannheim Anwohner, die sich anhaltend beschwerten. Die Polizei reagierte mit Verwarnungen und Strafandrohungen. In drei Jahren wurden rund 300 Motorräder und Autos sichergestellt. Der Erfolg sprach sich herum; in Hamburg wurden Polizisten mit den Mannheimer Methoden vertraut gemacht. Elektronische Soundverstärker sind bereits verboten, weitere Begrenzungen für Auto-Posing-Technik geplant. Heute wird vermeldet, dass in Hamburg das Auto eines Angebers still gelegt worden, weil die goldene Folie, mit der er sein Spielzeug beklebt hatte, derart blende, dass andere Verkehrsteilnehmer dadurch gefährdet würden.

Mit mehr Lärm ist im Stader Straßencafé wohl nicht zu rechnen. Stattdessen werde ich auf meinem weiteren Weg auf neue Schwierigkeiten stoßen, wenn der Kulturwandel weiter so ausbleibt, wie es sich der aktuelle Bundesverkehrsminister vorstellt, der E-Roller auf den Gehwegen fahren lassen will. Die Fußgängerzone werden sich die Passanten also zukünftig nicht nur mit → Herrenradlern und anderen Rad-Posern teilen müssen. Was heißt schon teilen? Sich vor ihnen in Acht nehmen und rechtzeitig zur Seite springen müssen, wenn sie den Panzerpfad kreuzen.

Die ökologischste Form der Fortbewegung, die ohne vorherige Produktion von Fahrzeugen möglich ist (zumal solcher Gefährte, die mehr darstellen, als ihrem Zweck entspricht), wird nicht nur nicht gefördert, sondern nach Kräften behindert. Die Unberäderten werden alsbald nurmehr geduldet sein. Wer aus dem Auto oder vom Zug nicht auf Rad oder E-Roller umsteigt, um die »letzte Meile« zu bewältigen, wie neuerdings jene Strecke genannt wird, die selbst Auto-Poser gelegentlich per pedes zurücklegen müssen, wird Probleme haben, fortzukommen und mindestens der Verachtung derer ausgesetzt sein, die sich im Klimakulturwandel als besonders fortgeschritten vorkommen, weil sie auf das herkömmliche Automobil verzichten, wenn sie einmal ein paar hundert Meter nicht darin zurücklegen.

Eine Weile noch wird das Schreiten auf das Innere von Gebäuden beschränkt sein, bis auch diese den neuen Bedürfnissen angepasst sein werden. Die Foyers, die Aufzüge, die Korridore werden für Räder und E-Roller ausgelegt sein. Die einzigen Schritte, die der neue Mensch noch tun muss, sind ein paar wenige in der eigenen Behausung und die vom Stellplatz des Fahrzeugs zum Arbeitsplatz, wobei sich auch dafür Lösungen finden lassen, die ein Parken ohne weitere Fußbewegung ermöglichen.

Sobald die Kinder aufrecht stehen, wird man sie im Rädern unterweisen. Wie sie bereits jetzt immer bewegungsloser werden, werden sie den Gebrauch der Beine und Füße auf ein Minimum reduzieren. Nurmehr die Unterschicht wird gehen müssen. Alle anderen Klassen werden das Gehen verlernen und vergessen. Künstler werden das Publikum mit Geh-Performances provozieren können. Gehende Menschen werden in Geschichtsbüchern abgehandelt werden und so seltsam anmuten wie das Reiten auf Eseln oder Pferdefuhrwerke als Fortbewegungsmittel.

Der biotechnologische Fortschritt wird die Rad-Transplantation bringen, und die Evolution auf lange Sicht dafür sorgen, dass dieser Umweg sich erübrigt. Der aufrechte Gang wird kein Merkmal der Spezies mehr sein. Ob es die sitzende oder liegende Fahrt sein wird, steht noch dahin.

9. April 2019

Siehe auch → Vorschein der Kulturrevolution