Perspektiven eines Passanten zur Diesel-Krise

Mein Vater war Kraftfahrzeugmechaniker; ich bin mit den Innereien von Automobilen vor Augen aufgewachsen. Mit dieser Nähe hat meine Entscheidung für die Ferne zu tun. Ich habe nie das erworben, was bezeichnenderweise „Führerschein“ genannt wird und ein halbes Jahrhundert Erfahrung damit, Autofahrern zu erwidern, die mir ihr Verhalten als das einzig mögliche darstellen.

Meine Auto-Abstinenz erleichtert, die Absurditäten der laufenden, durch den VW-Diesel-Betrug angestoßenen Debatte zu erkennen. Ich wundere mich nicht, dass die grundsätzlichen Fragen, die sich von Anfang an stellten, zwei Jahre brauchten, um öffentlich gestellt zu werden.

Scheinfrage

Das Auto steht im Zentrum des Verblendungszusammenhangs der kapitalistischen Wirtschaftsweise mit den sie ermöglichenden Bewusstseinsformen. Streicht man das Auto heraus, bricht die gegebene westliche Zivilisation zusammen. Das Auto ist das Heiligtum, ein Idol, um das zu tanzen die Menschen von Kindesbeinen an erzogen werden.

Unter anderem ein Satz bewog mich jüngst, eine Bekanntschaft zu beenden, bevor sie als Freundschaft missverstanden werden konnte. Dass der Betreffende ein „Cruiser“ war, der das Auto in erster Linie brauchte, durch die Landschaft zu kreuzen, konnte ich übersehen und sogar verstehen; habe dazu allerdings ein Fahrrad benutzt. Als er darauf kam, was er Töchtern für ihr weiteres Leben mitgegeben habe, fiel ihm ein, dass sie einen „Führerschein“ hätten.

Ich habe keine Kinder, und das ist wohl gut so, wenn ich ihnen für ihr Überleben in den bestehenden Verhältnissen nicht die Hingabe an die Automobilität hätte mitgeben können, sondern allenfalls, sagen wir mal als Beispiel, Seltsamkeiten wie die Liebe zur Wahrheit. Ich sollte die Bekanntschaft mit guten Vätern fürderhin meiden.

Paradoxe

Autos in der gegenwärtigen Form habe ich stets für ein Auslaufmodell gehalten, musste aber erleben, dass die Alternativen systematisch vernachlässigt wurden. Ich fuhr anfangs mit dem Zug zum Gymnasium in die Nachbarstadt; dann wurde die Bahn still gelegt und ich musste auf den Bus umsteigen, der unbequemer und unzuverlässiger war. Später berichtete ich als Reporter über die Wiedereröffnung der Bahn, weil man sich dem hatte stellen müssen, was außerhalb des Verblendungszusammenhangs offenkundig war und eben heute wieder zu Tage tritt: dass der automobile Individualverkehr unlösbare Probleme aufwirft, logistische wie ökologische.

Die Bundesbahn legte Güterverkehrsstrecken still und verlagerte ihren eigenen Gütertransport auf die Straße, wo er von den vor allem mit Diesel betriebenen Lastkraftwagen bewältigt wird. Muss man ein Nicht-Autofahrer wie ich sein, um die Sackgasse erkannt zu haben, bevor bekannt wurde, dass die Lkw-Hersteller ein Kartell bildeten und beim Schadstoffausstoß ihrer Produkte betrogen?

Grundhaltung

Bei den Debatten, an denen ich Anfang der 1980er im Umfeld der sich damals konstituierenden Hamburger Grünen teilnahm, war eins ausgemacht: die mit Kraftstoff aus Öl betriebenen Individualfahrzeuge haben keine Zukunft. Und schon damals war mir jedenfalls klar, dass dazu eine Kulturrevolution nötig wäre. Denn auf ihr persönliches Auto verzichteten auch die entschlossensten Ökologen nicht.

Sie ernähren sich vegan und sind allzeit bereit, andere über Windkraft zu belehren und die Gefahren des Klimawandels zu beschwören. Aber zum Krötenretten fahren sie im Geländewagen. Dass sie „auf das Auto angewiesen“ seien, wäre nun mal der Preis für das naturnahe Leben auf dem Lande, sagen sie.

Menschen halt, inkonsequent, wankelmütig und meist im Irrtum. Und auf das Auto lassen sie nichts kommen.

Problemstellung

Kulturrevolution also. Das Hauptpolitikum in der Mittelstadt, in der ich lebe, ist der ausgebliebene Bau eines Parkhauses. Die Innere Stadt von Stade ist zwar Fußgängerzone (und einer der Gründe, weshalb ich es hier aushalte), aber selbstverständlich sind die 45 000 Einwohner vor allem Autofahrer.

Der Neubau eines „Einkaufserlebnisses“ in der Inneren Stadt erzwingt Vorkehrungen, damit die Automobilisten in ihrer kleinen Stadt möglichst wenig weit zu Fuß gehen müssen. (Zum Vergleich: in Hamburg oder Berlin ist man täglich zu Fuß so viel unterwegs, dass es reicht, die „Hansestadt“ Stade komplett zu durchqueren.) Das „Einkaufserlebnis“ ist bald fertig, über den Bau des Parkhauses haben die Verantwortlichen bis heute nicht entschieden.

Durch die Gassen von Stade weht ständig der Wind von der Nordsee, daher ist mit Smog nicht zu rechnen. Allerdings ist die Polizei täglich und vor allem mit den Problemen beschäftigt, die sich aus dem Individualverkehr ergeben.

Risikoanalyse

Insofern es als selbstverständlich gilt, im Auto unterwegs zu sein, wird nach Sinn und Zweck einer Fahrt nie gefragt. Ich habe nur eigene Beobachtungen aus dem Gerichtssaal zur Verfügung und würde gern einmal eine Statistik lesen über Vorfälle im Straßenverkehr in Beziehung zu den Gründen, die die Beteiligten ins Auto und auf die Straße brachten.

Unter den regelmäßigen Todesmeldungen, die jeder, den die Betreffenden nichts angehen, mitbekommt, gehören in einer Kleinstadt auf dem Lande die in der Nacht von Samstag auf Sonntag auf dem Rückweg von der Diskothek im Auto Verstorbenen. So war das schon in meiner Jugend auf dem flachen Lande, wo die Alleebäume gefällt werden, damit keiner aus Versehen dagegen rasen kann. Freilich gab es damals weniger Autofahrer, und ich ging mitunter zu Fuß von der Tanzhalle nach Hause, weil sich keine Mitfahrgelegenheit ergeben hatte.

Als Beifahrer bin ich damals vielleicht ein paar Mal dem Tode entronnen. Als Insasse eines Autos, das von einem 18- bis 25-Jährigen gesteuert wird, der Hochrisikogruppe im Straßenverkehr. Die nicht aus praktischen sondern kulturellen Gründen unterwegs sind. Deutsche Leitkultur: Junger Mann ohne Auto ist kein Mann.

Gefahrenlage

Bei der ausstehenden kulturellen Debatte zum Automobilismus wird das Gefälle zwischen Stadt und Land, zwischen den Metropolen und der Provinz schwer ins Gewicht fallen. Das betrifft nicht die praktische Seite. Allerdings kann und muss ein Großstädter anders mit dem Auto umgehen als ein Landbewohner.

Auf dem Lande ist das Auto an sich bedeutender. In der Großstadt kann man komplett darauf verzichten, ohne sonst seine Lebensweise zu verändern. Leben auf dem Lande im 21. Jahrhundert in Deutschland heißt hingegen in allerster Linie Autofahrer zu sein. Alles Weitere ist variabel, aber ein Auto unverzichtbar. Zu den nicht vorhandenen Statistiken gehört eine, die Schuldenstand und Autokauf in Beziehung setzt und jene aufzählt, die ein Auto fahren, das sie sich gar nicht leisten können.

Die „Ungleichzeitigkeit der Provinz“, wie Ernst Bloch das Gefälle zwischen Stadt und Land nannte, beträgt zwischen Hamburg und Stade rund 30 Jahre. Die „lebenden Statuen“, die Mitte der 1980er in der Spitalerstraße auftraten, erschienen vor drei Jahren rund um den Pferdemarkt.

Ich werde mithin den Ausgang der Kulturrevolution in Stade nicht erleben. Ich werde als Sonderling sterben, weil ich eine Stunde Fußweg zur Elbe nicht für eine ungeheuerliche Unternehmung halte. (Video dazu hier.) Übrigens habe ich das Fahrradfahren eingestellt, weil ich es Leid bin, auf unachtsame Autofahrer zu achten, die mein Leben gefährden.

Als ich vor 25 Jahren den Strand für mich entdeckte, gab es keine Probleme. Sie haben zugenommen, seit die Lokalität in den Medien von Leuten beschrieben wurde, die sie nicht näher kannten und sich gerade so lange dort aufhielten, die sie brauchten, um Fotos zu machen. Ich habe die Story wohlweislich nie verkauft.

Schöne Aussicht

Das Hauptproblem liegt vor dem Strand und heißt Parkplatz. An besonders heißen Wochenenden sind zwei Abschleppwagen im Dienst, um Hauseinfahrten, Geh- und Radweg sowie die Straße von den Fahrzeugen frei zu halten, deren Fahrer keine Minute Fußweg zu viel zurück legen wollten.

Zwischenzeitlich kam es immer wieder vor, dass einzelne Autos über den Deich fuhren, weil die Zufahrt nicht eigens gesperrt war und bei „Führerschein“-Inhabern merkwürdigerweise Kenntnisse der Straßenverkehrsordnung und der Willen zur Einhaltung vorausgesetzt wurden.

Die Zufahrt wurde verriegelt, aber unlängst gelangten Autos auf unerklärliche Weise an eine Stelle, an der ich auch nur gedacht hätte, welche sehen zu können. Eine Autorevolution ist unabdingbar. Mir scheint, sie dreht sich gerade in die andere Richtung. Für Fußgänger und Radfahrer haben die Einschränkungen und Gefährdungen stetig zugenommen.

Elbe vor Bassenfleth (Fotos: urian)

Fahrverbote müssten nicht nur für Dieselmotorbetreiber verhängt und vielmehr „Verzicht“ zum Pflichtprogrammpunkt in Fahrschulen werden. Wenn der „Führerschein“ in Deutschland nicht mehr als Grundrecht gilt … Träum weiter, Schleicher!

Ich fotografierte die Parksünder am Elbdeich und beließ es damit. Ein deutscher Autofahrer reagiert nur auf eine Weise, wenn er auf ein Fehlverhalten angesprochen wird. Ich musste mir die Pöbeleien nicht anhören, dass mein Hinweis der Fehler sei.

Nachtrag

Ziemlich genau ein Jahr alt sind meine Anmerkungen – da setzt die Wirklichkeit am 20. August 2018 eine Pointe. Ein 53-Jähriger aus Stade »hatte sich trotz der Absperrungen einen Weg an den Bassenflether Strand gebahnt« und soff gegen 18 Uhr mit seinem Geländewagen ab.

In dem so geheißenen Auto fühlt er sich der gemeinen Menschlichkeit enthoben und der Natur überlegen. Mutmaßlich befährt er überwiegend Straßen und keine unwegsamen Strecken im Gelände – bis auf Gelegenheiten wie diese. Während die anderen sich weitgehend entblößt am Strand aufhalten, steuert er die Elbe in seinem Panzer an.

Der Polizeibericht vermeldet nichts von Alkohol. Dieser Fahrer hatte allenfalls eine Überdosis dessen, wovon der Homo Automobilis abhängig ist: sich in der Blechkapsel von Ort zu Ort zu schleudern.

Autos, die sich an Stellen befinden, wo sie nicht hingehören, sind Alltag. Von dem am Strand hören wir nur des Polizei- und Feuerwehreinsatzes wegen. Ein anderer, der, statt sein Fahrzeug zu verlassen und einige Meter zu Fuß zu gehen, dieses in unwegsames Gelände steuert und scheitert, kann seine Blamage auf den Kreis der Freunde oder des Abschleppunternehmens beschränken, die ihm aus der Bredouille helfen.

Der Verblendungszusammenhang, dem die meisten unterliegen, die ein Auto lenken, kommt in dem in der Elbe versinkenden Geländewagen zum Vorschein. Ihnen scheint die Welt nur Untertan.

Für weite Teile trifft allerdings zu, dass sie die unumschränkten Herren sind. Regeln, die sie zähmen sollen, missachten sie nach Kräften. Ein Tempolimit darf nicht einmal vorgeschlagen werden, ohne dass ihnen der Schaum aus dem Mund tritt.

Im Geländewagen setzt auch die gepflegte Kulturlandschaft, die einem hierzulande als Natur begegnen kann, fast keine Grenzen. Der 53-Jährige aus Stade glaubte, schwimmen zu können. Oder fliegen. Aber wer glaubt das nicht, sobald der Motor in Gang kommt?

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