Wo Reichsbürger und facebook-Freunde sich begegnen

Auf facebook habe ich eine Site abonniert, die den Aktivitäten von Reichsbürgern gewidmet ist. Täglich erreichen mich auf diese Weise Nachrichten von einschlägigen Vorfällen aus dem ganzen Reichs-, pardon Bundesgebiet. Einige Wochen lang habe ich diese Meldungen an mir vorbei streichen lassen und jeweils kaum mehr als ein paar Zeilen gelesen – genug, um erkennen zu können, dass mich nichts davon angeht, nichts von politischer Relevanz ist.

Ich habe keine systematische Auswertung vorgenommen, aber den Großteil bilden Berichte über Gerichtsquerulanten. Den Typus habe ich als Reporter im Gerichtssaal live und in Farbe oft und genauer genug kennen gelernt als durch Texte möglich, so dass diese für mich keinen und jedenfalls nicht den gleichen Unterhaltungswert haben wie für jene, die die Praxis der Justiz nur vom Hörensagen kennen. Die Details von Schriftstücken etwa, die bei den Gerichtspossen vorgelegt werden, und über die sich Zeitungsleser und facebook-Freunde auf die Schenkel klopfen, muss ich mir nicht ohne Not antun.

Der Gerichtsquerulant, der ein psychologisches Profil und kein politisches Phänomen bezeichnet, ist weitaus älter, als es dem breiten Publikum bewusst ist, das ihn erstmals in seiner Erscheinungsform als Reichsbürger wahrgenommen hat.

Sein Porträt: „Er ist ein älterer Herr mit rotem Gesicht, weißem Haar und cholerischem Temperament. Seine Leidenschaft gilt der britischen Justiz, und er hat bereits ein großes Vermögen verprozessiert. Er streitet um des Streitens willen, wobei es ihm ganz gleich ist, welchen Standpunkt er vertritt“.

Der Mr Frankland, den John Watson 1901/02 im Hund der Baskervilles beschreibt, spielt mit der Justiz; das Prozessieren ist sein Steckenpferd. Der Romanfigur fehlt die Verzweiflung, die ich an echten Prozesshanseln erlebt habe.

Prangerbaustelle

Es sind vor allem Männer, die an einer für Außenstehende oft nebensächlich oder gar absurd erscheinenden Stelle den Rechtsweg beschreiten. Die ein Gerechtigkeitstrauma erlitten haben. Ihre Geschichten sind verwickelt und gehen auf juristischer Ebene nie ganz auf.

Ich habe vermieden, über sie zu schreiben. Es wäre leicht gewesen, sich über sie lustig zu machen und bei meinen Lesern einen Lacher zu ernten. Aber während der betreffenden Verhandlungen war niemand belustigt.

Prozesshansel sind den Gerichten lästig und nur bei bestimmten Rechtsanwälten als Klienten beliebt, denen sie regelmäßige Einnahmen verschaffen. Sie wechseln sie oft und kennen sich sowieso besser aus. Dass sie inzwischen auf Anwälte verzichten, soweit die Strafprozessordnung erlaubt, ist ein praktischer Ausfluss des Internet und speziell der Reichsbürger-Netzwerke.

In den Gerichtssälen herrschte Mitleid vor, wenn der Angeklagte oder Kläger sein Anliegen – auslebte. Richtern und Anwälten war klar, dass er eine Therapie- statt einer Gerichtssitzung gebraucht hätte.

So wenig es in den gegebenen Fällen Aufgabe des Gerichts war, über die Seelenverfassung zu befinden, war es als Reporter mein Auftrag, dieses private Problem in der Öffentlichkeit auszustellen. Gewiss fand der Prozess öffentlich statt, und meine Zeugenschaft war rechtlich unproblematisch. Moralisch war das Teil des Problems, weil es nicht dorthin gehörte, sondern vom Prozesshansel hingezerrt worden war.

Er hatte sich selbst an den Pranger gestellt, als der sich sein Auftritt vor Gericht darstellen würde, sobald ich, als in der Regel einziges Publikum, einen virtuellen Marktplatz schaffen würde. Wenn auch ohne Namen, aber für Bekannte und Nachbarn erkennbar, würde mein Bericht überhaupt erst ermöglichen, dass jemand verbal Eier und Gemüse oder gar Steine auf ihn würfe.

Er selbst würde den Artikel ausschneiden und vervielfältigen. Tue ich dem Prozesshansel, der die Bühne sucht, aus meiner Sicht keinen Gefallen, indem ich ihn in seiner Verwirrung ausstellte, täte ich es gleichwohl in seiner Perspektive, indem ich seine Bühne durch meine Berichterstattung noch erweiterte. Gleichgültig, was ich schriebe, ob ich ihn verhöhnte oder bemitleidete, wäre die Publikation Wasser auf seine Klapsmühle.

Nebenbei – an dieser Stelle dieses Textes habe ich bereits das Volumen überschritten, das mir für einen durchschnittlichen Bericht aus dem Gerichtssaal zur Verfügung gestanden hätte. Und noch keinen konkreten Fall angesprochen, auf den es ankommen soll.

Ich muss keinen treten, der am Boden liegt, oder ihn in seinem Wahn bestärken. Schon gar nicht muss ich mich unter seine imaginären Verfolger einreihen.

Mülltonnenwurf

Dass Prozesshansel sich unter dem Label „Reichsbürger“ radikalisieren und organisieren, ist neu und allein der verstärkten medialen Aufmerksamkeit für das Label geschuldet. Statt peinliche Videos zu ignorieren, werden sie geteilt und kommentiert. Statt verantwortungsvoll zu schweigen, spielen Journalisten und facebook-Nutzer ihre Rolle in einem Schmierentheater, dessen politische Falltüren sich nicht dort befinden, wo Publikum und Aushilfsdarsteller glauben. Inzwischen annoncieren die Mr Franklands ihre Prozesstermine als Reichsbürger-Performance, und alle gehen ihnen auf den Leim.

Sofort unangenehm aufgefallen war mir an besagter facebook-Site, dass die behandelten Personen „Klientel“ genannt, mit Vornamen und überhaupt sehr vertraulich vorgestellt werden. Das fordern die Betroffenen mit ihren Selbstdarstellungs-Videos zwar heraus – aber warum darauf eingehen mit einem paternalistischen Ton und das scheinbar politische Problem auf eine psychologische Basis herunter zu blödeln?

Eines Tages wird ein Zeitungsartikel verlinkt, den ich ausnahmsweise anklicke, weil ich den Tatort kenne. Was genau passiert ist, erfahre ich nicht. Jemand hat bei einer Behörde randaliert und schließlich eine Mülltonne nach Polizisten geworfen. Währenddessen scheint er „ich bin ein Reichsbürger“ oder Ähnliches gerufen oder anderweitig seinem Wutanfall politische Weihen verliehen zu haben, um in die Zeitung zu kommen.

Und nichts weiter wäre zu sagen; geht mich nichts an, ist politisch belanglos. Aber in der Kommentarspalte nutzen die Abonnenten der Site ihre Gelegenheit, sich über den Randalierer, von dem sie nichts sonst wissen, in rechtschaffener Empörung zu ergehen.

Das ist Sinn und Zweck der Veranstaltung. Die Site richtet sich nicht an Leute, die an der politischen Dimension der Reichsbürgerschaft interessiert sind. Die Site ist keine kritische Begleitung eines politischen oder gesellschaftlichen Phänomens, sondern beutet es in seinem Sinne aus. Und dieser ist, politisch verstanden, der Reichsbürgerschaft verwandt.

Kunst- oder Satirefreiheit; geschenkt. Ich argumentiere nicht für Anzeigen oder Verbote oder melde die Site bei den Administratoren. Ich behauptete lediglich (Meinungsfreiheit), dass sie verhetzend ist und lasse das „Volk“ mit Bedacht aus.

Geschichtsstunde

Politisch relevant war an der Reichsbürgerschaft die inhaltliche wie personelle Verbindung zum Neonazismus, von dem ihre Grundannahme stammt, Deutschland sei ein besetztes Land und die Bundesrepublik kein vollwertiger Staat. Trotzdem inzwischen stetig höhere Zahlen verbreitet werden, wie viele Reichsbürger es angeblich geben soll, spielt die Beziehung zum Neonazismus in den Berichten, die auf facebook an mir vorbei laufen, keine Rolle. Deshalb hatte ich die Site abonniert. Dazu hat sie fast nichts zu sagen.

Die „Nazis“ finde ich auf der anderen Seite. In den Kommentaren wird die paternalistische Perspektive der Site-Betreiber gesteigert. Lauter Rechtschaffene feiern ihre Selbstgerechtigkeit, indem sie über Reichsbürger herziehen. Sie fallen über, wie im Fall der Prozesshansel, leichte und sogar willige Opfer her und klopfen sich dabei gegenseitig auf die Schultern, was für gute Staatsbürger sie selbst doch sind.

Die Meldungen, auf die sie reagieren, sind nicht politisch, sondern Ausrisse von Psychogrammen, die weder einzeln noch in der Summe sonderliche Erkenntnisse ermöglichen. Sie liefern den Lesern nur genau so viel Stoff, um ihre Vorurteile zu bedienen. Die Kommentare haben ein Grundton: Wegsperren. Wenn nicht ins Gefängnis, dann wenigstens in die Psychiatrie.

Abweichendes Verhalten zu bespötteln und sich an der echten oder erhofften Maßregelung zu ergötzen – das scheint nur Unterhaltung. Politik wird daraus, indem sich auf besagter facebook ein Mob der Staatstreuen gegen solche bildet, die ihnen als „Reichsbürger“ näher gebracht werden. Auch wenn diese ihrerseits das Label benutzen, um Klicks auf dem virtuellen Markplatz zu generieren.

Angebot und Nachfrage schaukeln sich gegenseitig hoch, und der scheinbar wachsenden Zahl von Staatsverweigerern folgen solche, die sie täglich als „asoziale Arschlöcher“ verhetzen. Man kann in den Kommentaren ohne Schaden für das Anliegen der Verfasser „Reichsbürger“ durch „Muslim“, „Flüchtling“ oder „Jude“ ersetzen.

Hetzende Hunde

Ach ja, fast hätte ich es vergessen: die Reichsbürger sind so gefährlich. Haben vielfach Waffen und werfen mit Mülltonnen. Dadurch fühlen die facebook-Kommentatoren ihre Hetze geadelt. Wer gegen das Böse aufsteht, muss ein Guter sein, denken sie sich. Es sei denn, sage ich, er pöbelt ohne Not gegen andere, die ihm von anderen als böse vorgewiesen werden, ohne dass er selbst genauer geprüft hätte, was daran wahr ist.

Und wenn schon: Polizisten und Justizbeamte sind zuerst gefährdet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihnen ein Gefallen getan wird, indem ihre „Klientel“ von Leuten en passant verhetzt wird, die nie einem Reichsbürger begegnet sind oder Gefahr laufen, andere als verpixelte Kenntnis von einem zu haben.

Die reale Gefährlichkeit muss die virtuellen facebook-Kommentatoren nichts angehen. Und sie scheren sich auch keinen Deut darum. Als ich mich mit einer Aufforderung zur Mäßigung in die Kommentare einschreibe – habe ich, bildlich gesprochen, die Hunde am Hals.

Einen Prozesshansel, der inzwischen als Reichsbürger prominent ist, lernte ich vor 17 Jahren im Gerichtssaal kennen und habe über seine Geschichte nicht geschwiegen. Dazu war es längst zu spät; er hatte bereits geschmeckt, wie es ist, auf der Titelseite der BILD zu erscheinen.

Ohne meine Mitwirkung gelangte er später noch einmal in die Schlagzeilen; mein Zutun bestand in dem damals einzigen verfügbaren Foto von ihm. Seither hat er selbst alles getan, um sich medial zu inszenieren.

Er ist ein Politikum, indem er nicht für sich allein oder im Familienverband mit dem Staat streitet, sondern im Auftrag und mit Verbündeten vorgeht und Justizbeamte und Polizisten persönlich angreift.

Manchmal ist es politisch klug, alles heraus zu schreien, was man meint; manchmal klüger, das Maul zu halten. Angenommen, mein guter Bekannter, mit dessen Ausstellung die besagte facebook-Site ihre Existenz als Blog begann, wodurch ich auf sie aufmerksam wurde, würde sich durch irgendetwas zur öffentlichen Darstellung anbieten – wie sollte ich darauf einzugehen?

Angenommen, ein Prozess fände statt, eine Reichsbürger-Performance nach seinem Drehbuch, wie ich sie → an anderer Stelle beschrieben habe – sollte ich ein lautes Wort darüber verlieren und es den Kommentatoren besagter Site zum Fraß vorwerfen?

Gleichgültig, was ich schriebe, sie würden es fressen, und mein guter Bekannter würde den Unterschied vielleicht verkennen. Für Differenzierungen haben beide Seiten kein Ohr. Ein schauriges Paar, in Hetze vereint.

© Uwe Ruprecht