Drei Abgeordnete aus verschiedenen Parteien und wie sie sich gleichen
Unlängst sah ich den Abgeordneten in den Gassen meiner kleinen Stadt bei wichtigem Gespräch. Ich habe meinen Schritt nicht verlangsamt, um zu lauschen; dass das Gespräch wichtig war, entnehme ich nur der Miene, die der Abgeordnete dazu machte.
Man kann Oliver Grundmann häufig nicht in Berlin sehen, wo er für die CDU im Bundestag sitzt. Das ist wohl „Bürgernähe“. Die Begegnung in der Gasse war mir Anlass, seine Homepage anzuschauen.
An deren Lektüre erinnerte ich mich wenige Tage später beim Fall der niedersächsischen Landtagsabgeordneten Elke Twesten, die von den Grünen zur CDU wechselte, ihr Mandat mitnahm, dadurch die Regierung stürzte und außerordentliche Neuwahlen verursachte. Was der MdB aus Stade mit dem Wendehals aus Rotenburg/Wümme außer dem Wahlkreis gemein hat, lässt sich in einem Wort fassen: Wölfe.
Was diese beiden mit der Causa des AfD-Abgeordneten Lars Seemann aus Apensen verbindet, braucht zur Erklärung mehr Worte, lässt sich aber in zwei zusammenfassen: politische Moral.
Häme als Heimatgefühl
„Heimat und Identität – das sind für mich zwei Dinge, die zusammengehören“, verlautet Oliver Grundmann über sich. „Etwas zurückzugeben, meine Heimat auch in Berlin erfolgreich zu vertreten und mitzuhelfen, unsere Region weiter voranzubringen, das ist meine Motivation.“
Grundmann präsentiert sich als Diener des Gemeinwohls, der eine selbst auferlegte Pflicht erfüllt. Seine Reaktion auf den Übertritt von Elke Twesten sollte demnach eindeutig ausfallen. Zumal die Mehrheitsverhältnisse in Niedersachsen sein politisches Schicksal nicht unmittelbar berühren, könnte er sich eine staatsmännische Ansicht leisten.
„Geplatzt wie eine Seifenblase: Die rot-grüne Mehrheit in Niedersachsen ist weg!“, triumphiert er stattdessen auf facebook. „Die beim Stader Schützenfest aufgetischte Nachricht brachte meiner SPD-Kollegin ordentliche Bauchschmerzen. An meinen Äpfeln hat’s jedenfalls nicht gelegen, die haben allen anderen gut geschmeckt. Bin gespannt auf die Ernte in den nächsten Wochen. Deutschland und Niedersachsen gehören ordentlich regiert. Ein Tag zum feiern, denn ich hab beim Ratsschießen auch noch ins Schwarze getroffen.“
Ein tiefer gehender Kommentar als dieser Ausbruch von Schadenfreude und Häme ist mir nicht bekannt. Grundmann, der mit seiner Arbeit der Heimat „etwas zurückgeben“ will, hat offenbar kein Problem mit der Haltung von Twesten, die ihrem Eigennutz nicht nur folgt, sondern in ihren öffentlichen Erklärungen auch keinen Hehl daraus macht, dass sie bei ihrer Entscheidung nur an sich gedacht hat, ja sich sogar überrascht zeigt von den Konsequenzen ihres Verhaltens.
Bestürzend am Fall Twesten ist allerdings, wie wenig politischen Verstand und Anstand es braucht, um, auf welchem Ticket auch immer, in den Landtag zu gelangen. Zu den von ihr betrogenen Wählern fällt Twesten nichts ein, so wenig wie zu den ihretwegen vorzeitig an die Wahlurne gerufenen Bürgern.
Man fragt sich, wie verzweifelt die Grünen in Rotenburg gewesen sein müssen, dass sie Twesten überhaupt haben kandidieren lassen. Dass sie den Fehler schließlich korrigiert und ihr Mandat nicht verlängert haben, muss nun ganz Niedersachsen büßen.
Der CDU ist es zunächst einmal egal, dass Twesten mindestens so dumm wie selbstverliebt ist, solange sie den kurzfristigen Machtinteressen nützlich ist. Dem Pflichtpolitiker Grundmann wird kein Bisschen unbehaglich in Gesellschaft von Twesten. Er feiert einen Sieg und erfreut sich an den „Bauchschmerzen“ der SPD-Kollegin.
Die Phrasenhaftigkeit der Selbstdarstellung auf seiner Homepage machte bereits misstrauisch; der Umgang mit dem Fall Twesten zeigt, dass die Berufung auf das Gemeinwohl nur seine Maske des Eigennutzes ist. Im Unterschied zu Twesten hat er eine. Er weiß, was die Wähler hören wollen, an dessen Täuschung Twesten gar keinen Gedanken verschwendet.
Regiment der Angst
Twesten scheint tatsächlich nicht geahnt zu haben, dass sie fürderhin als Beispiel für skrupelloses Politikertum zitiert werden wird. Die CDU wird sich ihrer entledigen, sobald sie ihre Schuldigkeit getan hat. Die Haltungsmängel Twestens bleiben für ihre neue Partei dasselbe Risiko, als das sie sich für die Grünen erwiesen haben. Im Verein mit ihrem Unverstand ist die Wankelmütige für irgendeine Parteifunktion untragbar.
Mit ihrem großen Auftritt hat sie ihren Abtritt von der politischen Bühne nur verzögert. Twesten als CDU-Kandidatin auf einem Wahlzettel – auf solche Aufmerksamkeit der Medien wird die Partei zukünftig verzichten, zumal Twesten garantiert das Falsche sagen und tun wird.
Ob und welche Absprachen es vor ihrem Übertritt zwischen Twesten und der CDU gab – die tumbe Ex-Grüne aus Rotenburg ist dabei gewiss von den erfahrenen Politikern der anderen Seite ausmanövriert worden. Sie müssen ihr gar nichts versprochen haben, sie nur in dem Glauben gelassen haben, sie habe etwas zu gewinnen.
Ihre 15 Minuten Ruhm, um Warhol zu zitieren, hatte sie. Und damit ist die Geschichte von Elke Twesten schon vorbei.
Von Journalisten bedrängt, inhaltliche Argumente für ihren scheinbar radikalen Wechsel nachzuschieben, fallen ihr bloß Stichworte zu Nebensächlichkeiten ein. Gewohnt, dass Lokalanzeiger ihre Pressemitteilungen abdrucken, aber keineswegs kritische Fragen stellen, war sie nicht darauf eingestellt, in freier Rede, in ganzen Sätzen und im Zusammenhang Auskunft zu geben. Die Grünen hätten die „Angst der Bürger vor den Wölfen“ nicht ernst genug genommen, zählte sie also auf.
Es gibt in gewissen Regionen, wenngleich nicht in Niedersachsen, begrenzte Probleme von Landwirten mit Wölfen, die vor allem die Kosten betreffen, um Schäden zu verhüten oder zu bereinigen, und die Beteiligung der Staatskasse daran. Von „Angst der Bürger“ kann auch dort keine Rede sein.
Um so viel weniger in Twestens Wahlkreis, wo mit dem Wolf und seinem Legendenschwanz seit ein paar Jahren zwar das mediale Sommerloch gefüllt wird, aber niemand, der seine Sinne beisammen hat, sich vor der Ausbreitung von Wölfen fürchtet.
In die Gegenden, wo Wölfe sich aufhalten könnten, haben 99 Prozent der Bevölkerung noch nie einen Fuß gesetzt. Da fahren sie nicht einmal durch, weil es gar keine Straßen gibt.
Unweit eines Ausflugsziels, des Teufelssee in Berlin, bin ich mehr als einmal Wildschweinen begegnet – die weitaus reizbarer sind als Wölfe und mindestens so tödlich sein können. Ich erinnere mich an keinen politischen Panikanfall dazu. Wölfe haben eben einen Mythenschwanz, an dem sie sich besser im Kreise drehen lassen.
In der Ferienzeit, wenn auch die Landbewohner ihre bevorzugte Perspektive durch die Windschutzscheibe und am Monitor erweitern und sich in das begeben, was sie für Natur halten und das Kulturlandschaft ist, zumindest bis an die mit dem Auto erreichbare Grenze der betreffenden Gebiete, im Sommerloch, wie gesagt, lassen sich mit dem Fantom-Problem Zeitungszeilen generieren, die der Abgeordnete auf seiner Homepage als Leistungsnachweis und Referenz aufführen kann.
Mit der Forderung nach einer „Wolfsobergrenze“, als hätte man in seinem Wahlkreis davon so viele wie Flüchtlinge, nämlich zu viele, tat Grundmann sich hervor. Schürte Angst und kochte sein persönliches Süppchen darauf.
Dem Landwirt, dessen Schafe gerissen werden, hilft Geschwätz nichts. Das Gespenst, das Grundmann malt, dient nicht dem Gemeinwohl. Es zielt auf Verunsicherung, die dem Abgeordneten erlaubt, als Retter aufzutreten. Die Frage nach dem verantwortungsvollen Umgang mit einem Problem stellt sich nicht, weil keines besteht.
Auf seine Art ist Grundmann wie Twesten mit seinen eigenen Belangen beschäftigt. Bei den Wölfen hatten sie sich schon gefunden, bevor die Grüne den Mangel an Wolfs-Hysterie in der Partei als Austrittsgrund vorgab.
Gefälschte Gefühle
Während noch über den von Twesten in Gang gesetzten Zusammenbruch der Regierung und die Mühen und Kosten der vorgezogenen Wahl debattiert wird, lese ich vom Fall eines Kreistagsabgeordneten der AfD. Auch dabei spielt ein Schreckgespenst, das beschworen wird, eine tragende Rolle, und es geht um Rücksichtslosigkeit in der Politik.
Lars Seemann, Polizist aus Apensen, hatte für den Kommunalwahlkampf im September 2016 einen Flyer erstellt, der mit Verzögerung auch den Redakteuren des Stader Tageblatt auffiel, auf die sich Seemann bei der Berufung seines Schreckgespenstes bezog, als ich mit ihm, einer amtierenden Staatsanwältin und einem pensionierten Richter am Wahlkampfstand in Stade über das sprach, was ich als Fälschung unschwer erkennen konnte: dass der Vermummte, der auf einen Polizisten einprügelte, ein Logo der Antifa auf dem Rücken trug. Es war inhaltlich absurd und technisch als Montage erkennbar.
Dass es sich außerdem um eine Szene aus Griechenland handelte und der Abdruck das Urheberrecht verletzte – damit machte die AfD aus Stade überregional die Runde. Ganz außen vor blieb dabei, dass Seemann und seine Parteigenossen nicht den Schimmer einer Ahnung haben, was sie überhaupt „Antifa“ nennen. Ihre Kenntnisse beziehen sie aus dem Lokalanzeiger, und der zeigt eben das Abziehbild, mit dem Seemann seinen Flyer illustrierte: ein Schreckgespenst.
Eben zu der Zeit, als Seemann seinen Flyer bastelte, hatte die Berichterstattung über eine Neonazi-Demonstration und den Protest dagegen aus einer Farbbombe, die mir vor die Füße kullerte, Rauchbomben gemacht, die gegen die Polizei geworfen worden sein sollten. Die „eingebettet“ mit der Polizei operierenden Lokalreporter würden „die Antifa“ nicht erkennen, wenn keiner sie ihnen zeigte.
Jetzt ist der Abgeordnete Seemann aus der Fraktion der AfD im Kreistag geworfen worden. Stand er eigentlich auf dem Wahlzettel? Ich erinnere mich nicht. Sicher stand einer darauf, der heute nicht im Kreistag sitzt, obwohl er weder krank noch gar tot ist. Und noch ein weiterer hat ein Mandat, der nicht zur Wahl stand.
Drei Namen standen auf dem Zettel, dann erhielt die AfD aber fünf Sitze. Wie sich die Fraktion im Kreistag zusammensetzt? Könnte ein Journalist recherchieren; hat keiner getan. Als gemeiner Wähler kann ich das also nur seltsam finden.
Die Affäre um den Rauswurf wird selbstverständlich nicht auf der Homepage der Partei dargestellt, wo man über lokale Themen schweigt, seit man Mandate hat, sondern über das Stader Tageblatt verbreitet, wo google es nicht spidern kann. Im Guten wie im Schlechten operieren sie Hand in Hand.
Demnach soll Seemann im Prozess zur Urheberrechtsverletzung auf die Beteiligung erfahrener Juristen bei der Erstellung des Wahlkampfmaterials hingewiesen haben. Das nahm ihm vor allem die bereits erwähnte Staatsanwältin übel.
„Nur so“, durch Seemanns Ausschluss, „konnten wir die Arbeitsfähigkeit der Fraktion wiederherstellen“, wird der Chef der AfD im Kreistag zitiert, ein gewisser Jens Dammann. (Stand der auf dem Wahlzettel?) „Wenn wir diesen Weg nicht gegangen wären, hätten sich andere Mitglieder der Fraktion verabschiedet“.
Der Prozesstermin war ohnehin nur anberaumt worden, weil Seemann das stillere Verfahren durch die Zahlung eines Strafbefehls von 3000 Euro verweigert hatte. Gegen die Verurteilung zu 2000 Euro hat er wiederum Berufung eingelegt. Die Partei wird den Fall nicht los, weil Seemann nicht los lässt.
„Für ihn als Polizisten in Hamburg ist der Ausgang des Verfahrens wichtig, weil ein automatisch mitlaufendes Disziplinarverfahren eine anstehende Beförderung verhindert“, verrät das Tageblatt. Twesten lässt grüßen.
Noch ist Seemann nur aus der Fraktion ausgeschlossen, und die Zeitung sagt ihm Landes-Ambitionen in der AfD nach. Auf jeden Fall wäre er bei der CDU willkommen. Als Polizist sowieso und Antifa-Ängstiger im Speziellen.
Ihm habe die Fraktion auch nicht mehr gefallen, schiebt Seemann, der Zeitung zufolge, nach und äußert Unzufriedenheit mit der inhaltlichen Arbeit: „Ich halte nichts davon, die ohnehin überlastete Verwaltung mit Anträgen zu beschäftigen, die erkennbar auf Effekthascherei ausgerichtet sind.“
Da muss ein Missverständnis vorliegen, bei Seemann, seiner Partei oder den Wählern. Auf der Homepage des Landkreises lese ich nämlich: „Auch wenn es in der Öffentlichkeit manchmal anders wirkt, der Kreistag ist kein Parlament, sondern ein Selbstverwaltungsgremium. Das heißt: Es werden Verwaltungsentscheidungen getroffen. Heftige Wortgefechte zwischen politischen Gegnern sind eher selten. Schließlich geht es bei allen Entscheidungen um das Wohl der Bürgerinnen und Bürger – da sind sich alle einig.“ Alle – also auch die alternativen Abgeordneten, oder?
„Unsere Wähler“, das sagt jetzt wieder Seemann über den Streit in seiner Fraktion, „haben kein Interesse an der Veröffentlichung interner Auseinandersetzungen. Persönliche Motive haben vor dem Hintergrund der uns gestellten Aufgabe in jedem Fall zurückzustehen“.
Darin ist der Geschasste mit der Rest-Partei einig: kein Wort auf der Homepage; öffentliche Erklärungen in Verschlüsselung in einer bestimmten Zeitung, die sich als Sprachrohr hergibt. Die Transparenz, die sie pro forma bei den anderen verklagen, zeigen sie ebenso wenig.
Alle ein Aufwasch. Spielt keine Rolle, ob und aus welchen Gründen Twesten, Grundmann und Seemann in dieser oder jener Partei sind. Sie wollen alle nur eins: mein Bestes als Wähler, meine Stimme. Und wenn sie dafür Angst machen müssen, vor den Wölfen oder der Antifa, tun sie es halt, ohne mit der Wimper zu zucken oder bei der Wahrheit zu bleiben.
10. August 2017
Gerade als ich überlege, was zur Abbildung in Frage käme, grinst mich Grundmann aus der Zeitung an, zusammen mit seinem Weggefährten Karsten Behr, mit dessen Vater, einem NPD-Landesvorsitzenden und Neonazi-Anwalt, ich mich näher befasste. Beide haben sich mir eingeprägt durch die Vehemenz, mit der sie für die Ehrung eines SS-Mörders eintraten.
Letzte Zeitungsmeldung von der Wolfsabwehrfront am 15. August: Millionen vergifteter Eier; steigende Wasserpreise durch von der Landwirtschaft verseuchtes Grundwasser – aber eine Staatssekretärin des Bundeslandwirtschaftministeriums nimmt sich die Zeit, acht Schafe in Grundmanns Wahlbezirk zu betrauern, die angeblich Wolfsopfer wurden.
Ein Schäfer „kämpft um seine Existenz“; mag sein. Aber dass Wölfe, die – vielleicht – ein paar Schafe reißen, die Deichsicherheit gefährden – das ist plumpe Panikmache. „Deichsicherheit ohne Schafe, das funktioniert nicht. Und ein Wolf am Deich? Das geht gar nicht“, wird die CDU-Staatssekretärin zitiert. „Wir haben hier neben Polen die höchste Wolfsdichte.“ Polnische Verhältnisse, das geht überhaupt nicht!
Ach ja … wie viele Wölfe es seien sollen, die auf welcher Fläche leben, wird den Zeitungslesern nicht verraten. Wenn es denn Wölfe waren, die die Schafe verletzt und getötet haben. Bewiesen ist das zu diesem Zeitpunkt eben nicht. Wodurch das Missverhältnis zwischen dem Gegenstand und der ihm angehängten Gefühlsduselei überdeutlich wird.
Jemand ruft „Buh“, ein anderer schreit „Wolf“ dazu, und lange, lange, nachdem alle sich gehörig verjagt haben, klärt einer auf: war bloß ein entlaufener Kampfhund – oder mit welchen Raubtieren man sonst achtern Diek vornehmlich zu rechnen hat.
Tatsachen zur Geschichte des Wolfs in der Elbe-Weser-Region finden sich hier.
Ist Oliver Grundmann eigentlich Jäger? Der Obermotz seiner CDU in Stade ist jedenfalls Landesjägermeister. Nachdem die beiden den Boden bereitet und mit eifriger Unterstützung des angeblich „unabhängigen“ Stader Tageblatt im diesjährigen Sommerloch die Bürgerschaft gehörig geängstigt haben, wirft sich am 23. August in eben dem Verlautbarungsorgan der herrschenden Klasse der Präsident des Deutschen Jagdverbandes in die Bresche und „fordert die Politik zum Handeln auf. Die wachsende Zahl der Wölfe stelle eine Bedrohung für Nutztierhalter und Deichschäfer dar.“
Die Jäger wollen endlich los schießen. Rehe abzuknallen ist schließlich nicht halb so aufregend wie die Pirsch auf den Wolf.
Stadtbewohnern kann man ohnehin leicht allerhand vormachen über die bedeutende Funktion des Jagdwesens. In deren Vorstellung wimmelt es auf dem Land nur so von Getier, das gehegt und gejagt werden muss. Dabei ist das Gelände, auf dem keine Mähdrescher hin und her fahren, mit eben den Straßen versiegelt, von denen aus Städter das Land wahrzunehmen pflegen.
Und selbstverständlich greifen die Jäger eigenem Bekunden nach allein deshalb zur Flinte, um dem Gemeinwohl zu dienen. Dass die Jagd ihm höllisches Vergnügen bereitet, sagt kein Jäger je laut – und entwertet damit alles Übrige, was er über seine Freizeitbeschäftigung den Nicht- Eingeweihten weiszumachen versucht.
Die Bedeutung der Schützen- und Jägervereine hat abgenommen, aber wer auf dem flachen Lande mit der Macht spielen will, die nur in begrenztem Umfang auf demokratischem Weg verteilt wird, muss diesen Herrengesellschaften angehören. Pro forma verbeugen sich alle Parteien vor den Waffenträgern (zuletzt bei passender Gelegenheit auch die Linkspartei), ihre geistige Heimat ist freilich die allenthalben vorherrschende CDU.
(Der Gedanke lässt mich einen Moment innehalten: wie viele politische Verantwortungsträger in meiner nächsten Umgebung zum Spaß mit Waffen hantieren und Tiere töten.)
Es ist also eigentlich schon beschlossene Sache, ein Austausch von Argumenten geschieht nurmehr pro forma. Das Stader Tageblatt wird eine Podiumsdiskussion mit dem Chefredakteur als Moderator veranstalten, um den demokratischen Schein zu wahren, und dann werden die Jäger los gelassen.
Der Wolf ist heute schon so gut wie zum Abschuss freigegeben. Dass am Ende, wenn er wieder ausgerottet werden sein wird, vielleicht ebenso viele Hunde aus Versehen getötet werden sein wie echte Wölfe, und dass die „Strecke“ den Aufwand überhaupt nicht gelohnt hat – man sollte Oliver Grundmann in, sagen wir zehn Jahren nach seinem Zinnober von 2017 fragen und zusehen, wie er sich mit Phrasen um eine Antwort drückt: Hattet ihr damals keine anderen Probleme?
Nachtrag: Am 15. August 2018 erschien in der Süddeutschen Zeitung eine aufschlussreiche Betrachtung, wie die AfD die Angst vor dem Wolf schürt.
»Der Wolf ist das perfekte Populismus-Objekt, denn jeder hat zu ihm eine Meinung. Die einen lieben ihn (eher städtische Romantiker), die anderen hassen ihn (eher ländliche Pragmatiker), auf jeden Fall löst der Wolf tief in den Menschen etwas aus. […] Mithilfe des Wolfes kann die AfD die Welt ganz wunderbar in Gut und Böse unterteilen. Die Guten, das sind die Schäfchen, natürlich, unbefleckt und rein. In einem kurzen Text auf der Webseite der AfD steht: ›Die Schäfer und ihre Herden leisten (…) unermessliche Arbeit für den Erhalt unserer Kulturlandschaften.‹«
Mag sein, dass in Sachsen und Brandenburg, wo die SZ-Autorin sich besonders umgeschaut hat, die AfD bei der Wolfshetze Wortführerin ist. In Niedersachsen hinkt sie der CDU hinterher und deren althergebrachter Klientel, die in den östlichen (oder soll man sie immer noch »neuen« nennen?) Bundesländern weniger einflussreich ist: die Jäger.
Eine der seither verbreiteten Fortsetzungen vom November 2018 wird hier dokumentiert und kommentiert: → Wolfsgesichter.
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