Das Medienmonster von Niedersachsen

Früher tauchte das Ungeheuer von Loch Ness nur im publizistischen Sommerloch auf, wenn die Politik in Sommerferien war, als Ablenkung von wirklich wichtigen Dingen, als Zwischenspiel und zum Spaß. Heute geht das Monster das ganze Jahr um, und bevorzugt nicht in Schottland, sondern in Niedersachsen, es wird bitterernst genommen und Wolf genannt.

Niemand, den ich kenne, der bei wachem Verstand ist, denkt über Wölfe nach, glaubt, je einem zufällig begegnen zu können oder sich vor ihm ängstigen zu müssen. Und das ist nicht Ignoranz, sondern Realitätssinn. Entgegen den Klischees der Großstädter, aus deren Reihen sich die Medienreaktionen füllen, hat man auf dem Lande nicht mit anderen Tieren zu tun als den eigenen Haustieren und gelegentlich den Hunden anderer Leute.

Man sieht mal Kühe im Vorbeifahren, aber hört und riecht sie nicht; die allerletzten Ställe in den Dörfern wurden vor einem Vierteljahrhundert geschlossen. Die Viehwirtschaft findet dort statt, wo niemand hinkommt, der dort nichts zu suchen hat. Tote Igel und Vögel liegen neben jeder Hauptverkehrsstraße, aber die könnten nur Fußgänger sehen, die sich dort nicht aufhalten.

Schafe kann sehen, wer am Deich entlang fährt. Aber indem gefahren wird, ist klar: hier wird kein Wolf Schafe reißen, sondern sich über die hermachen, die sich dort aufhalten, wo kein Auto und kein Mensch außer dem Schäfer hinkommt. Falls es einen Wolf gibt, einen aus Fleisch und Blut und mit Haaren, nicht bloß in Pixeln auf dem Monitor.

Wie viele Schäfer gibt es in Niedersachsen? Ein paar Dutzend? Hundert? Gemessen am Wolfsgeheul ist es die Berufsgruppe mit der weitaus größten Medienlobby. Da kann nur die Autoindustrie mithalten. Lagerarbeitern im Mindestlohn wird nie eine Zeitungszeile gewidmet. Aber wenn dem Schäfer ein Schaf angeblich vom Wolf gerissen wurde, wird überregional Alarm geschlagen, Journalisten schwärmen aus und Politiker werfen sich in die Brust.

Ich bin geneigt, an eine Verschwörung zu glauben. Die Große Ablenkung. Oder Große Hirneinweichung. Wenn das Wolfsgeheul keinem Plan folgt, hätten Redaktionen bundesweit den Verstand verloren, denn sie hören nicht auf, ihre Wolfsgeschichten zu verbreiten, als gingen sie irgend wen anders an, als die paar Leutchen, die es betrifft.

Gewiss doch, mit dem Wolf lässt sich für Naturschutz werben, in den Großstädten, wo man eine Landidylle damit assoziiert; am dem Land würde der Werbeschmu nicht funktionieren. Alles, was die Naturschützer für den Wolf vorbringen, ist richtig, und auch die Jäger haben Argumente gegen ihn. Sollen sie sich mit den Schäfern zusammen setzen und das unter sich ausmachen, aber alle anderen damit in Ruhe lassen.

Niemand würde ihr Gezeter hören, wären nicht die hirnverbrannten und verantwortungslosen Gesell*innen in den Redaktionen. Sofern sie nicht in höherem Auftrag, gemäß der Verschwörungsrichtline handeln, wären sie also stupide und einfallslos. Weil der Plebs einmal auf den Wolf angesprungen zu sein scheint, und die Politiker hinterher hecheln, drücken die so genannten Journalisten immer wieder auf dieselbe Tube.

Der Wolf ist das Wappentier des Populismus. Viel Wind um nichts Gescheites, aber alle machen mit und wedeln mit ihren Fahnen. Flüchtlingskrise, Brexit, Wolf: es muss nur einer mit dem Blödsinn anfangen, auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen.

Der erste Schäfer, der von Wolfsgefahr schrie; der erste Jäger, der los ballern wollte; der erste Naturschützer, der sich in den Schuss werfen zu müssen meinte: man hätte ihnen gleich übers Maul fahren müssen. Aber, wie gesehen, immer mehr Plappermäuler schlossen sich an, und so wird seit Jahren ein Schauermärchen nach dem anderen erfunden. Unterdessen hat sich Nessie in Schottland aus Trauer über die entgangene Aufmerksamkeit im Sommerloch ertränkt.

Der Medienwolf (Grafik: urian)

Siehe auch

Wolfszeit. Auf der Jagd nach dem grauen Räuber
Twesten, Grundmann, Seemann. Drei Abgeordnete aus verschiedenen Parteien und wie sie sich gleichen (auch beim Thema Wolf)
Wolfsgesichter. Die Gespenster eines Oberjägers