Wie nobel müssen Nobelpreisträger sein?

Da habe ich schon mal einen Nobelpreisträger gelesen, und dann das! Peter Handke hat mir einige der prägendsten Literaturerfahrungen meiner Jugend verschafft. Ich habe verschlungen, was er zwischen 1966 (Die Hornissen) und 1979 (Langsame Heimkehr) schrieb.

Lauter Bücher mit besonderem Gewicht in meiner persönlichen Bibliothek: Der Hausierer (1967), Kaspar (1967), Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969), Chronik der laufenden Ereignisse (1971), Der kurze Brief zum langen Abschied (1972), Wunschloses Unglück (1972), Die Unvernünftigen sterben aus (1973), Als das Wünschen noch geholfen hat (1974), Die Stunde der wahren Empfindung (1975), Falsche Bewegung (1975), Das Ende des Flanierens (1977).

Handke stand an meinem literarischen Horizont ziemlich einzigartig da. Er beschrieb Seelenverfassungen ebenso wie er sprachspielerisch konstruierte und brachte Spielarten der Literatur zusammen, die auf Deutsch gemeinhin streng gesondert auftreten. Handke war zugleich Surrealist wie die Wiener Gruppe und wie Jack Kerouac on the road.

Ich las damals französische und US-amerikanische Literatur in Übersetzungen, zu denen es auf Deutsch kaum Pendants gab. Es gab Konstruktivisten wie Helmut Heißenbüttel und Romanciers wie Thomas Mann; die einen montierten, die anderen erzählten – dazwischen eine Demarkationslinie. Wie Samuel Beckett, mit dem Handke nun der Nobelpreis verbindet, war keiner in deutscher Sprache. Friederike Mayröcker und Handke kamen dem am nächsten. Sie waren mit Raymond Roussel ebenso verwandt wie mit Edgar Allan Poe.

Wie ich ohne biografische Forschung seinen Büchern entnehmen konnte, wuchs Handke mir gleich auf dem Land in einfachen und literaturfernen Verhältnissen auf. Seine Bücher waren Erkundungen einer Welt, für die er nicht vorgesehen war, und die sich im Schreiben überhaupt erst bildete.

Ziemlich genau ab 1980 verlor ich Handke aus dem Blick. Er war in einer Welt angekommen, in die ich ihm nicht folgen konnte. Ich musste den Jet-Set-Dichter nicht beim Kopulieren beobachten. So wenig ich Verlangen verspürte zu lesen, was Ernst Jünger über seine Beobachtung von Insekten mitzuteilen hat.

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Jünger und Handke können wohl in einem Atemzug genannt werden. Zumindest vereint sie derselbe Zwiespalt. Mit den Stahlgewittern hat Jünger sich ein für allemal als Kriegstreiber in die Geschichte eingeschrieben. Und wenn er auch kein Nationalsozialist war, war er ein Faschist, der an einen Geistadel glaubte.

Sein Buch zum Nationalsozialismus, Auf den Marmorklippen, ist ein konstruktivistisches Kabinettsstück. Man kann in der Figur des Oberförsters Hitler erkennen und in den Kampf mit ihm Jüngers Haltung hinein interpretieren und es als »Widerstandsbuch« verstehen. Man kann es aber offenbar auch nicht. Dass der Text in Deutschland nicht, sehr wohl aber 1942 in französischer Übersetzung in Druck ging, lag offenbar allein am Papiermangel. Höchste NS-Stellen, die ihn zur Kenntnis genommen hatten, verfügten kein Verbot.

Nicht was er, sondern dass Jünger es schrieb, ist bedeutsam: dass er 1939 diese Mythenbastelei verfasste, die viele Jahrzehnte später, in Kenntnis des Zeithintergrunds und Jüngers publizistischer Mitwirkung auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg, umso stilisierter, geradezu parfümiert wirkt. Salon-Schreiberei zur Erbauung der gehobenen Stände, während die Massen in Blut und Kot zu verrecken sich anschickten. Wie immer seine Sätze sich in Hinblick auf das Regime interpretieren lassen: es selbst sah sie nicht als Angriff auf sich, und bei der Lektüre wird man sich sehr bemühen müssen, etwas wie eine Haltung zu entziffern.

Auf den Marmorklippen sollte ein schönes Buch werden, ein klassisches, so zeitenthoben wie die Epen Homers. Vielleicht ist es das. Vielleicht werden in tausend Jahren Menschen die Mär vom Oberförster so rezipieren. Bis dahin ist es eine unfreiwillige Satire über moralisches Unvermögen und einen beachtlichen Mangel an der Selbstreflexion, für die Jünger später in den Feuilletons gelobt werden wird. Statt einfach den Mund zu halten, setzte er sich hin und tat, als ginge ihn die Wirklichkeit nichts an. Als sei er ein Bewohner des Elfenbeinturms.

Der Titel des 1972 erschienenen Buchs von Handke Ich bin kein Bewohner des Elfenbeinturms war so ironisch wie empathisch gemeint. In den 1970ern war Handke noch auf der Suche, nach sich und der Welt. In den 1980ern hatte er sich dann gefunden: als ein Ernst Jünger, der über alles und jedes schreiben kann und gelesen wird, weil er so stilsicher ist.

Ich kannte den Stil, aber ich schätzte Handke wegen der Brüche. Sie verschwanden. Der Dichter wandelte durch die Welt, und alles, was er berührte, wurde Literatur. Er musste nicht darum ringen, die Worte flossen ihm aus den Dingen zu, und wenn nicht, dann wusste er nachzuhelfen, indem er sich dorthin begab, wohin ihm die Leser gern folgten, fort von den schäbigen Wirklichkeiten des Alltags, in poetische Gefilde, für die es keinen kundigeren Führer gab als den Ausnahmeautor aus Kärnten.

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Im Nachhinein ist die Egozentrik augenfällig. Empört über Fragen zu seinen serbischen Sätzen sagte Handke im Oktober 2019: »Ich bin ein Schriftsteller, komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes«. So hätte Ernst Jünger reden können und hat es vielleicht auch. Ich kann Handkes Werk ab 1980 nicht mehr beurteilen, weil es für mich offenkundig war, dass er sich weiter mit sich und seinen gut situierten Kreisen beschäftigen würde. Dass er kein Tolstoi werden würde.

Tolstoi und Cervantes haben keine Dichterromane geschrieben, sondern Gesellschaften abzubilden versucht. In ihren Büchern kommen keine symbolischen Oberförster vor, sondern solche, die es in der Wirklichkeit geben könnte. Was an ihnen wie Märchen erscheint ist realer als die märchenhaften Kombinationen von Jünger und, auf andere Art, von Handke. Märchenhaft sind Handkes Weltdarstellungen, insofern sie alles auslassen, womit der Dichter als Jet-Set-Bürger nie mehr, wie in seiner Jugend, in Berührung zu kommen braucht.

Vom Dreck des Alltags, den Jünger 1939 weg geschrieben hatte, hat Handke allem Anschein nach seit Ende der 1970er nicht mehr viel mitbekommen. Das ist keine Entschuldigung, sondern eine Erklärung für die Hybris, mit der er sich 1996 zum Krieg im zerfallenen Jugoslawien überhaupt einließ. Er hätte wie Jünger 1939 einfach den Mund halten können.

Tatsächlich hat Auf den Marmorklippen Jünger nicht geschadet, sondern gilt geradezu als sein Persilschein dafür, dass er nach 1945 nicht nur unangefochten, sondern hoch dotiert seine Dichterklause weiter bewohnen konnte. In dem, was ich von ihm gelesen habe, fand ich derart viele eitle Flunkereien, dass ich bezweifelte, ob es irgendein Lektor gewagt hatte, dem geistadligen Militär in die Parade zu fahren, bevor seine Ergüsse gedruckt wurden.

Mit Handke dürfte es sich, seinem Gebaren nach Verkündung des Nobelpreises zu urteilen, ähnlich verhalten. Er ist nicht von dieser Welt und der Kritik der Gemeinen enthoben. Die Anwürfe ob seiner Hochachtung für die serbischen Völkermörder konnte er leicht ertragen, solange seine Bücher weiter gedruckt wurden und Tantiemen einbrachten. Die Verfilmung eines seiner Werke hätte die peinliche Geschichte wieder aufgerührt, weshalb sie wohl unterblieb. Ansonsten konnte Handke sich unbefleckt fühlen.

Nun wird der Bewohner des Elfenbeinturms doch gemessen an dem, was er von sich gab, als er ihn verließ. Als er sich in die Niederungen herabließ, aber Blut und Dreck offenbar partout nicht sehen wollte, sondern in das Zwischenreich der Mythen abdriftete wie einst Jünger.

Man muss die Verantwortung der Literatur nicht überschätzen, und Autor*innen sind nicht verpflichtet, so weit zu gehen wie Susan Sontag, als sie Becketts Warten auf Godot 1993 in der belagerten bosnischen Hauptstadt Sarajevo inszenierte. Aber dass einer wie Handke den Nobelpreis erhält, besagt allerhand über die literarische Welt, den Literaturbetrieb und alle, die damit verbandelt sind. Über die Werte, für die sie einstehen und ihren Kopf hinhalten.

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»Man kann nicht Künstler der Gepanzerten und Bewaffneten sein; Kunst gilt ausschließlich den Nackten. Darum bin ich Schriftsteller. Aber ich komme nicht von Homer, Cervantes oder Tolstoi. Ich komme aus Bosnien«, formuliert Tuan Sila in der → taz. Schön gesagt und edel gedacht, aber auf der Gegenseite so idealistisch wie Handkes Haltung. Denn die Nackten kaufen keine Bücher, keine Zeitungen oder lesen im Internet über Literatur. Am Ende entscheiden die Eliten, die Oberbürger darüber, wer zu Lebzeiten als Schriftsteller herum laufen darf und wer sich anderweitig durchschlagen muss. Franz Kafka lässt grüßen.

Die Literaturgeschichte misst mit anderem Maß als das Nobelpreiskomitee. Maurice Maeterlinck zum Beispiel, Preisträger von 1911. Schon mal gelesen? Am bekanntesten ist die Vertonung seiner Pelléas et Mélisande durch Claude Debussy. Er hat Bücher über Blumen, Ameisen und Termiten verfasst. Zugleich mit Jean-Henri Fabres Erinnerungen eines Insektenforschers las ich Maeterlincks Leben der Bienen. Womit wir wieder bei Jünger als Entomologen wären, der er auf seine alten Tage wurde. Fabre, der Wissenschaftler, ist der überzeugendere Autor als die Dichter, die einem Spleen huldigen.

Man wird sehen, wie viel von Handkes bürgerlicher Insektenkunde in 100 Jahren noch außer von Literaturstudenten gelesen wird. Der Kaspar ist längst Schullektüre, und zwar vor allem deshalb, weil er so literarisch ist, dass das Politische darin aufgeht. Das verbindet ihn etwa mit Cervantes, von dessen Don Quichotte die zeitgenössischen Bezüge abgefallen zu sein scheinen, so dass es heute wie Jonathan Swifts noch drastischer politisch angelegter Gulliver als Märchenbuch geeignet ist. Indes ist der Kaspar weniger wirklichkeitshaltig und nur ein Spiel mit der historischen Konstruktion des → Kaspar Hauser. Dass Handkes Erstling den Hornissen gewidmet ist, verweist vielleicht schon auf das Spätere.

Tolstoi und Cervantes haben die Menschen verstanden, Handke versteht nur sich selbst und die Sprache. Er ist, auch als flanierender Weltbürger, so egozentrisch wie Roussel oder Poe, und seine Reise nach Serbien war ein Ausflug in eine fremde Welt, über die er offenbar nur befremdlich schreiben konnte.

»Handke im Bürgerkrieg« ist eine Posse, die seine Biografen vor eine Herausforderung stellt. Wer hat ihm nicht abgeraten, wer ihn ins offene Messer laufen lassen; hat ihn etwa wer angestiftet? Susan Sontag in Sarajevo ist ein stimmiges Bild. Wenn statt Handke irgendein Comedy-Star in Serbien aufgetaucht wäre, hätte das weniger absurd gewirkt.

Schließt man fremde Einflüsse aus, dann ist allein das Unterfangen ein Beweis für Handkes Hybris. Die Texte schließlich, die entstanden, sind allein aufschlussreich in Hinblick auf sein Fremdeln mit dem Sujet. Man hätte ihn 1996 für seinen Versuch als Kriegsberichterstatter einfach nur auslachen sollen statt ihn politisch ernst zu nehmen.

Der Vorwurf kann nicht lauten, dass Schriftsteller oder sonstige Künstler sich nicht in Politik einzumischen hätten. Vielmehr wird ihre gesellschaftliche Rolle überhaupt nur reflektiert, wenn sie es tun. Als verhielten sich ihre Erzeugnisse und vor allem ihre Erfolge nicht immer schon zur Politik. Thomas Bernhard war ein Dichter und ein politischer Autor. Handke ist nur ein Dichter – von seinem Serbien-Ausflug abgesehen. Bernhard hat das Bürgertum zugleich unterhalten und provoziert, Handke hat nur für sich und seinen Ruhm geschrieben.

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»Ethik und Ästhetik sind Eins«, heißt es in Satz 6.421 des Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein, eines anderen Österreichers. Darf Kunst unmoralisch sein? Wie moralisch kann sie sein, wenn der Künstler es nicht ist? Ernst Jünger ist nur einer von vielen Kriegern, die zugleich Dichter waren. Die getötet und geschrieben haben. Von anderen Verfehlungen abgesehen, die verziehen werden, da das Werk sie überstrahlt. Aber kann ein Werk sich von seinem Urheber ablösen lassen, wenn Ethik und Ästhetik eklatant im Widerspruch stehen?

Für Handke mag darüber die Literaturgeschichtsschreibung entscheiden, der mehr Quellen zur Verfügung stehen werden als den Mitlebenden, noch dazu im fernen Publikum. Idealiter könnte die Literatur die Stimme derer ohne eigene Stimme sein, der »Nackten«; realiter spricht sie für die, die sie bezahlen. Das wird durch den Nobelpreis für Handke markiert.

Seine mindestens gleichgültige Haltung gegenüber den Massakern von Slobodan Milošević und Konsorten ist von der literarischen Welt hingenommen worden, und sie war kein Ausschlusskriterium für das Nobelpreiskomitee. Handke steht als Buhmann stellvertretend für alle, die ihn bis 2019 unterstützt haben. Die seine Haltung nicht nur tolerieren oder akzeptieren, sondern für ausgezeichnet halten.

Ethik und Ästhetik wären idealiter Eins. Tatsächlich sind in die schönsten Dinge stets Widerwärtigkeiten gemischt. Und wie sich die Anschauungen des Schönen verändern, wandeln sich die Begriffe des Bösen. Zum Beispiel ist für die Ästhetik des Strukturalismus das Werk des Marquis de Sade von erheblichem Gewicht. Und das schildert ein Universum, in dem moralische Richtlinien außer Kraft gesetzt sind.

Ich würde weder ästhetisch noch moralisch ein Urteil über Peter Handke fällen können noch wollen. Aber ich erkenne, zu welchem politischen Urteil das Nobelpreiskomitee in Schweden gekommen ist, das eben erst seiner eigenen Korruption wegen abgelöst worden war: hehre Dichtung schlägt alles aus dem Feld, Moral wie Politik.

Handke ist nicht Homer. Schon deshalb nicht, weil er keine Schlachtszenen so schön schildert, dass die Kulturindustrie sich heute noch daran orientiert. Handke ist lediglich als Ästhet über Leichenfelder gegangen. Die Preisverleiher störte das nicht nur nicht; vielleicht haben sie sogar den schöngeistigen Gestus angesichts von Massenmorden als Beweis für Geistadel genommen.

Wie es sich mit Olga Tokarczuk verhält, die den Preis nachträglich für 2018 erhalten hat, kann ich nicht sagen. Vordergründig ist mit ihr eine Liberale in einem zunehmend autoritären Polen ausgezeichnet worden. Wenn hier das Politische anders gewichtet wurde, dann wäre die Auszeichnung für Handke ein Ausgleich dafür, und beide Preise zusammen würden den Versuch bezeichnen, es allen irgendwie Recht machen zu wollen. In Europa wenigstens.

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Statt also eine Hymne zu verfassen auf einen Autor meiner Jugend, dessen Solipsismus sich mir so einprägte, dass ich einige Zeilen aus Die Unvernünftigen sterben aus noch heute aufsagen kann:

»Manchmal wachte ich auf in der Nacht
und alles was ich für den nächsten Tag wollte
kam mir so lächerlich vor
Wie lächerlich das Hemd zuzuknöpfen
Wie lächerlich euch in die Augen zu schauen
[…]
Manchmal lag ich wach
und alles was ich mir vorstellte
machte mir alles nur noch unvorstellbarer
[…]
Bleibt alle weg von mir
Es ist die Zeit nach meinem Tod
und was ich mir gerade seufzend als Leben vorstellte
sind nur jene Blasen auf meinem Körper
welche seufzen wenn sie platzen« –

statt also in Erinnerungen zu schwelgen, muss ich die Wahl Handkes als Menetekel nehmen. Ich könnte keinen alternativen Kandidaten nennen; dazu bin ich nicht bewandert genug in der literarischen Welt der Gegenwart. Aber gerade, weil ich Handkes Werke einmal geliebt habe, geht mir auf, dass er der falscheste Kandidat zur falschen Zeit ist, auch ohne seine serbischen Sätze.

Jedenfalls in Hinblick auf die deutschsprachige Literatur, und dabei gibt es in Rücksicht auf das Politische zwischen Österreich und Deutschland seit dem 20. Jahrhundert mehr Übereinstimmungen als mit der Schweiz, und gegenwärtig vielleicht ähnlich viele wie vor 1938.

Dass Handke einmal erklärt hatte, den Preis ablehnen zu wollen, hätte zu dem schräg und fremd in der Welt stehenden Dichter gepasst, als der er mir vor Augen stand, und den er offenbar auf der Bühne des Lebens auch gegeben hat. So wie in Serbien ist er auch darin aus der Rolle gefallen.

In einer Zeit der geistigen Kriegsvorbereitung den esoterischen Dichtertypus auszuzeichnen, den entrückten Wanderer zwischen den Welten, könnte ein Signal sein, ist aber kaum so gemeint, sondern ein Zeichen von Verleugnung und Verdrängung wie es Auf den Marmorklippen zu schreiben darstellte. Insofern dieser weltfremde Geehrte sich aber außerdem Aufsehen erregend an die Seite von Massenmördern gestellt hat, ist seine Auszeichnung ein Signal der literarischen an den Rest der Welt: ein ausgestreckter Mittelfinger.

Auch wenn die Österreicher Differenzen geltend machen können, teilen sie nationalsozialistisches Ahnenerbe mit den Deutschen. Als Jahrgang 1942 gehört Handke noch zu den Erlebnisgenerationen, die allmählich aussterben. Handke hat sich mit der NS-Zeit befasst, aber wie seine Stellungnahmen zum Serbienkrieg belegen, ist er dabei nicht sehr weit in die Innenwelt der Außenwelt vorgedrungen. In einer Epoche wieder erstarkenden Nationalsozialismus und Faschismus ihn zum Heros der Literatur zu küren, ist gottlob in den deutschen Medien umstritten.

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Knut Hamsun, Preisträger 1920, muss einem einfallen, der später mit den Nationalsozialisten kollaborierte. Abgesehen davon, dass er ausgezeichnet wurde, bevor er sich zu den Mördern gesellte, war er ein anderer Typus von Schriftsteller. Weder Konstruktivist noch Solipsist, aber wie Handke glaubte er, Dichter seien besondere Menschen.

Formal ist sein autobiografischer Roman Hunger von 1890 ähnlich brüchig wie Handkes Erzählungen aus den 1970ern, aber er zeigt nicht den Schriftsteller, der seinen Seelenzuständen nachspürt, sondern die existenzielle Krise, in der er sich als Schriftsteller behauptet. Für Weltfremdheit ist da kein Platz, weil der Dichter sich in einer feindlichen Umwelt befindet. Ich muss keines von Handkes späteren Büchern gelesen haben, um zu wissen, dass diese Bedrohung darin so wenig vorkommt wie in den 1970ern.

Was seine politische Haltung anbelangt, ist Hamsun notgedrungen komplexer. Im Wissen um sein späteres Verhalten scheint es in Hunger bereits vorzuscheinen. Zumal die Emphase des Dichtertums, die Erhabenheit gegenüber anderen, der Geistadel, ist das Einfallstor für die Versuchung, der Ezra Pound ebenso nicht widerstehen konnte wie die Ärzte Gottfried Benn und Louis-Ferdinand Céline. Und natürlich ist sie in ihren Werken enthalten und nicht daraus zu streichen.

Die expressionistischen Satzgebilde in Benns Gehirne sind zugleich schaurig und schön. Im Bewusstsein des Lesers können sie Vorstellungen hervorrufen, die später von den Nationalsozialisten in Realität umgesetzt und noch an Grausamkeit übertroffen wurden. Benn hat das Grauen weder vorausgesehen noch daran mitgewirkt. Er und die übrigen Expressionisten, von denen einige später ihr Auskommen im NS-Regime fanden und aus der Literaturgeschichte verschwanden so wie jene, die unter Hitler zu Ruhm und Ehren kamen, nie wieder gelesen wurden, verarbeiteten ihre Erfahrungen im Ersten Weltkrieg stellvertretend für die übrige Bevölkerung.

Die Faszination des Faschismus, der Susan Sontag 1974 in einem legendären Essay nachging, wirkte bereits vor 1933. Benn war kein Nazi, weil im NS-System nicht die Elite, die Geistadligen herrschten, sondern der Pöbel. Der vom eigenen Ruhm berauschte Typus des Literaten, der sich zu Höherem berufen fühlt, hat nie aufgegeben, eine Sonderstellung für sich zu beanspruchen und sich erhaben zu geben über Blut und Kot des Alltags. Und er hat stets Jünger in den Feuilletons gefunden, die seine Sendung herausstrichen.

Der Nobelpreis für Handke wirft ein Schlaglicht auf die moralische und politische Verkommenheit der literarischen Welt.