Stimmen zu H. P. Lovecraft

Menschen drängen sich in einem Zimmer. Möbel werden bewegt, Klicken einer Kamera. Es ist ungefähr 1990.

Polizist: Und wie haben Sie ihn gefunden? Ich meine, wie kamen Sie in seine Wohnung?

Hauswirt: Routineüberprüfung. Ein Sonderling, Sie wissen schon. Haben Sie die Batterie Flaschen und die Stapel Zeitungspapier gesehen?

Polizist: Was wissen Sie sonst von ihm?

Hauswirt: Nichts. Habe ihn ein paarmal gesehen – am Tage, also wahrscheinlich arbeitslos. Keine besonderen Vorkommnisse.

Polizist: Wie lange wohnte er hier?

Hauswirt: Da müsste ich nachsehen.

Polizist: Tun Sie das.

Der Hauswirt schlurft fort.

Erzähler: Ein Winkel in die Zeit. Freitag, 1. Januar 1937. Es war noch stockdunkel, als er aufstand, um Briefe zu schreiben.

Lovecraft spricht aus dem Tropfen und Schlürfen eines stygischen Gemäuers: Die Auseinandersetzung mit der Zeit scheint mir das mächtigste und ergiebigste Thema im Rahmen menschlichen Ausdrucksvermögens zu sein.

Erzähler: Danach musste er ausruhen. Er litt bei Kälte, doch dieser Winter war besonders mild, und er machte einen Spaziergang. Nach der Rückkehr las er die Lokalzeitung, schrieb und empfing Besucher. Mit einer Bibliothekarin sprach er über Katzen. Sam Perkins, sein Kater, hörte zu.

Autor: Heute weiß ich, dass es früher anfing, sehr viel früher. Aber für mich begann es im Oktober 2017 mit dem Brief eines Anwalts, der mich in seine Kanzlei bat.

Anwalt: Das Vermächtnis Ihres Großonkels! Ein Kollege, der den Nachlass verwaltet, hat mich beauftragt. Es kommt nämlich aus den USA.

Autor: Habe nie von dem Großonkel gehört.

Anwalt: Mehr weiß ich auch nicht.

Autor: Die Gegenstände und Fotos, die das Paket enthielt, besagten mir zunächst nichts. Ich überflog die Papiere: Zeitungsausschnitte, Fotokopien aus Büchern, Notizbücher und einige mit Schreibmaschine getippte Blätter. Zuerst versuchte ich, mehr über den ominösen Großonkel aus den USA zu erfahren. Die Kanzlei in New York, für die der heimische Anwalt tätig geworden war, antwortete prompt auf eine E-Mail. Aus ihren Unterlagen ergäben sich keine weiteren Informationen über den Erblasser. Weil das Mandat vor Jahrzehnten übernommen worden war, befand sich auch niemand mehr im Hause, der damit zu tun gehabt hatte. Arthur Akelei blieb für mich ein Name. Die Familie meines Vaters war 1945 durch Flucht und Vertreibung zerstreut worden. Dokumente gab es nicht; meine Großeltern waren verstorben, und mein Vater hatte von dem Onkel nie gehört. Aber ob er nun ein Bruder seiner Mutter oder seines Vaters war, hätte er nicht Akelei geheißen. Hatte er bei der Auswanderung nach Übersee seinen Namen geändert?

Polizist: Was sagen Sie, Doktor?

Arzt: Herztod, kein Zweifel. Wenn auch der Gesichtseindruck eigentümlich ist.

Polizist: Was meinen Sie?

Arzt: Kein Schrecken, sondern – ein Lächeln.

Polizist: Das Grinsen des Todes.

Arzt: Und außerdem sind seine Trommelfelle geplatzt.

Polizist: So?

Arzt: Dazu bräuchte es einen mächtigen Knall. Hier sind nicht einmal die Fensterscheiben beschädigt.

Polizist: Ich werde den Hauswirt danach fragen.

Arzt: In seinen Ohren stecken Kopfhörer. Vielleicht hat etwas aus dem Radio ihn getötet.

Polizist: Machen Sie eine Autopsie, wie es sich gehört.

Lange, leere Korridore.

Direktor: Er ist tot. Sie weiden ihn jetzt aus. Seine Milz soll ganz brauchbar gewesen sein.

Gast 1: Einem Schädeltrauma erlegen, heißt es.

Gast 2: Irgendwer wird ihn erschlagen haben, den Hund.

Direktor lacht: Ich bin es nicht gewesen. Ich habe nur sein Hirn in Verwahrung. Eingedellt zwar, aber abspielbar.

Ein Eimer schleift über Fliesen, ein Kühlschrank summt.

Gast 1: Ich höre den Eiter rascheln.

Gast 2: Unsinn, das ist die Leichenstarre.

Direktor: Wir haben nicht nur schöne Schädel im Museum, zwei große Säle, Schädel mit Gravuren, Schädel aller Rassen, mit merkwürdigen Wunden, auch eine Waldbevölkerung in Vitrinen, eine Rotwild-Galerie, Nager, Eulen, Frettchen – etwas finster freilich, staubig, die allzu vielen, allzu alten Präparate sind schadhaft, auch der Tod stirbt einmal, zwei Etagen mit kunstvoll der Zeit entrissenen Kadavern, in Gläsern, im Spiritus-Bad, auf Stecknadeln, mumifiziert, Schneewitchensärge für Getier mit blauen Glasaugen, die aus der Ewigkeit starren.

Gast 2: Von was man nicht alles ein Aufhebens machen kann.

Direktor: Wir haben auch ein Laboratorium für Hirnverdatung und Wiedergabe.

Gast 1: Dort führen Sie die grauen Zellen der alchymistischen Lösung zu, deren Wellenschlag Schwingungssensoren anregt, deren Daten in gewöhnliches Deutsch übersetzt werden, soweit die Denkfrequenzen gestatten?

Direktor: So ist es. Zu unserer Unterhaltung markiert die Maschine den Augpunkt nicht in der biotronisch üblichen Art, als unverständliches Pfeifen – er macht es vor: „Tekeli-li tekeli-li“ – sondern in der herkömmlichen Notation.

Gast 2: Privatmythologie also.

Der Kühlschrank summt.

Gast 1: Hören Sie das?

Gast 2: Nein.

Gast 1: Teile scharren.

Direktor: Wir haben Gedärm, Getier, Gehirn, die Flächen der Gehirnrinde, denen die einfachen Körperbewegungen zugeordnet sind, zeigen ein kleines, schematisches Bild des Menschen, den Homunculus. Man kann ihn paarweise, von links unten nach rechts oben buchstabieren: Eingeweide / Schlund, Rachen / Zunge, Zunge / Unterkiefer, Zähne / Lippen –

Gast 2: Ein wunderhübsches Spielzeug. Wird als Kinderpuppe in Mode kommen.

Gast 1: Und die beteiligten Personen?

Direktor: Werden nacherzählt, wofern sich nicht Bruchstücke in der Gehirnmasse erhalten haben.

Gast 2: Bruchstücke! Immer nur Bruchstücke!

Gast 1: Wenn Sie das Ganze hätten, hätten Sie alles.

Gast 2: Das Gehirn als Abbild des Kosmos.

Gast 1: Oder Spiegel. Oder Zerrspiegel.

Direktor: Zerrspiegel, allerdings. Auch beim Umriss des Homunculus sind die Proportionen verschoben: weit offener Mund, winzige Ohren, ein gigantischer Daumen.

Schleifen auf den Kacheln.

Gast 1: Hören Sie das?

Gast 2: Rase nicht Erle.

Gast 1: Eine Formel? Wogegen?

Gast 2: Böse Ahnungen aller Art.

Gast 1: Glauben Sie, es ist ansteckend?

Gast 2: Warum haben Sie gerade dieses Hirn für die Projektion ausgewählt?

Direktor: Ich habe nicht gewählt.

Stahltüren öffnen einen luftdicht verschlossenen Raum. Leises „Tekeli-li tekeli-li“.

Direktor: Lassen Sie sich von dem Gepränge nicht beeindrucken.

Gast 1: Hören Sie?

Gast 2: Das sind die Dämonen.

Gast 1: Na servas.

Geräusche setzen während des Erzähler-Textes ein.

Erzähler: Vor dem Fenster zum Hof ballten sich dröhnend die Geräusche. Die Passage zur Herdstarrgasse wirkte als Trichter für den Lärm des Viertels: Schnalzende Autoreifen auf dem Kopfsteinpflaster, knurrende Schäferhunde, das „Hasi, Hasi“-Gehechel der Huren, Lieder zu Drogenlieb und -leid aus den Musicboxen der Kneipen, streitende Nachbarn, orientalische Litaneien und bierseliges Gelalle, ein wütend pfeifender Teekessel, den niemand von der Herdplatte nahm, bis kein Dampf mehr durch das Ventil entwich, Katzenfauchen und Kinderschreie, fernes Zischen und Scharren auf den Docks und gelegentlich eine Schiffssirene.

Autor: Endlich ein Zimmer, das meiner Armut, wenn auch nicht meiner Einsamkeit zuspricht. Meine grüne Zelle liegt an einem Hinterhof im Rotlicht-Viertel. Im Fenster kann ich den Himmel nur sehen, wenn ich auf der Scheibe mit der Stirn einen Schweißfleck hinterlasse.

Erzähler: Und Hämmern, gnadenloses Hämmern aus verschiedenen Winkeln des Hofs, wo ein Bewohner stak und mit dem Hammer philosophierte, Schlag um Schlag ein Ding bestrafte für die eigene Wut, Verzweiflung, Sinnlosigkeit, Leere und Langeweile.

Autor: Glocken der Unterwelt.

Erzähler: Ein perkussives Gebet, das bloß die Ohren der anderen Elenden erreichte, die die stotternde Botschaft vervielfältigten.

Lärm der Herdstarrgasse.

Hauswirt: Nur dreihundertfuffzig im Monat. Aber Sie müssen sich sofort entscheiden; die Nachfrage ist groß.

Erzähler: Versuche, den Schrecken im Schlaf zu stören. Nur selten kann er das leise Rauschen der Wasserleitungen und das Knacken im Heizkörper hören.

Hauswirt: Büschen eng ist es schon.

Erzähler: Ohne Hoffnung auf Absatz brütete er an einem Essay über Lovecraft.

Hauswirt: Tägliche Kündigungsfrist.

Autor: Okay, ich nehme es.

Im Zimmer, fern der Lärm der Herdstarrgasse.

Autor: Nie hatte er mich heftiger heimgesucht als in der dreckigen und hellhörigen grünen Zelle, wo ein Junggeselle für bunte Magazine schrieb, während sich rings das Grauen aufstaute. Die bunten Magazine sind die Poesie dieser Tage. Poesie, nicht wahr, ist die ewige Wiederkehr. In den bunten Magazinen kehrt alles wieder. Kehrt auf und um und immer wieder. In den bunten Magazinen wiederholt sich die ganze Zeit immer wieder dieselbe Geschichte.

Nur Lärm.

Erzähler: Um die Herdstarrgasse wohnten die Behämmerten. Zwei Nervenkliniken, wurde gesagt, müssten neu eröffnet werden, wollte man das Viertel „sanieren“.

Autor: Wie die typische Ausgangssituation einer Lovecraft-Geschichte.

Erzähler: „Cool Air“. Oder vielmehr „Dreams in a Witch-House“.

Lovecraft spricht aus dem Tropfen und Schlürfen eines stygischen Gemäuers: Die Empfindlichkeit seines Gehörs steigerte sich in einem übernatürlichen und unerträglichen Ausmaß, und er hatte längst die billige Uhr auf dem Kaminsims angehalten, deren Ticken ihm allmählich wie Kanonendonner vorgekommen war. In der Nacht trugen die gedämpften Geräusche, die aus der schwarzen Stadt zu ihm heraufdrangen, das unheimliche Getrappel der Ratten in den wurmstichigen Trennwänden und das Knarren unsichtbarer Balken in dem jahrhundertealten Haus dazu bei, ihm das Gefühl zu geben, er sei ringsum von unerträglichem Höllenlärm umgeben. Die Dunkelheit war immer von einem Durcheinander unerklärlicher Geräusche erfüllt, und doch zitterte er manchmal vor Furcht, die Geräusche, die er hörte, könnten verstummen und bestimmte andere, schwächere Geräusche an sein Ohr bringen, die er hinter dem Lärm verborgen wähnte.

Herdstarrgasse. Im Zimmer.

Stimme durch die Wand: Wenn ich dich noch einmal in der Herdstarrgasse erwische, bist du des Todes!

Autor: Ich las „At the Mountains of Madness“.

H. P. Lovecraft, At the Mountains of Madness (Zeichnung: urian)

Stimme: Bist du des Todes, das sage ich dir!

Autor: Clara machte mir Vorwürfe.

Ein Garten am Fluss. Vögel und ferne Kinderrufe.

Clara: Mit Drogen und Musik in das Erbgedächtnis zurücktauchen! Ich hörte, die Fremdenpolizei habe ich inzwischen aufgegriffen. Er hatte sich in diesem verfluchten Mansardenlaboratorium eingeschlossen und behandelte seine Wunden mit Aluminiumpulver. Mir wollte er weismachen, er sei beim Fahrradfahren gestürzt!

Pause. Sie nimmt einen Schluck aus ihrer Teetasse.

Clara: Nacht für Nacht hockte er vor einem winzigen Monitor und hackte Buchstaben ins Glas. Diese Junggesellenmaschine, das ist so eine Art Männerkrankheit. Wenn man ihn so sah, konnte man sich gar nicht vorstellen, wie linkisch er war. Vielleicht ist er wirklich beim Fahrradfahren gestürzt?

Lärm brandet auf.

Erzähler: Lovecraft war ein eintöniger Erzähler, always the same blues, ein schmaler Umfang an Variationen derselben Stimmung, eine böse Melodei, mit der er sich sich selbst in Schlaf sanf, geborgen im altbekannten Wiegen am Abgrund.

Autor: In Zeiten von Unsicherheit und Angst griff ich auf diese apokalyptischen Gesänge zurück wie auf den Trost eines Breviers. In Lovecrafts Lebenslauf, seiner einzelgängerischen Versponnenheit und zwanghaften Zurückhaltung, fand ich eigene Absonderlichkeiten gespiegelt.

Stimme durch die Wand: Ich reiss dir den Sack ab, du Arsch.

Autor: Ich höre Stimmen, rief er sich zu.

Erzähler: Nein, erwiderte es ihm, das sind nur deine Ohren, die rauschen.

Lovecraft spricht aus stygischem Gemäuer: Es ist ein Missgriff, sich das Grauen als untrennbar mit Dunkelheit, Stille und Einsamkeit verwoben vorzustellen. Es begegnete mir am helllichten Nachmittag, im Getöse einer Metropole und inmitten des Gewimmels eines schäbigen und hundsnormalen Logierhauses mit einer prosaischen Hauswirtin und zwei wackeren Männern mir zur Seite. Im Frühjahr hatte ich mir irgendeine öde und unerträgliche Arbeit für ein New Yorker Magazin an Land gezogen; und da ich keine gediegene Miete aufbringen konnte, begann ich von einer billigen Pension in die nächste zu ziehen, auf der Suche nach einem Zimmer, das möglichst die Eigenschaften anständiger Reinlichkeit, erträglichen Mobiliars und eines sehr vernünftigen Preises in sich vereinte.

Herdstarrgasse.

Erzähler: Die Nachbarn verstummten allein im Schlaf, den sie unregelmäßig nahmen wie er selbst. Unter den fremden Stimmen war seine verschüttet, und bisweilen tippte er automatisch die Sätze der Nachbarn ein.

Stimme durch die Wand 1: Bist du verrückt?

Stimme 2: Ich muss noch Geld bezahlen!

Stimme 3: Die haben soviel Schiss schon, die Franzosen!

Stimme 2: Ihr werdet’s erleben!

Stimme 1: Die haben alle Angst vor der Wiedervereinigung, weil die Angst um ihre Posten haben, im Moment ist doch alles doppelt.

Stimme 3: Nicht sagen, dass wir aus der Ostzone sind, wenn wir rausgehen. Wir sind Westdeutsche, wir sind was Besseres!

Alle: Kohl, Nastrowyeah!

Erzähler: Lovecraft wurde 1890 in der US-Provinzstadt Providence auf Rhode Island geboren. Dort verbrachte er seine sechsundvierzig Jahre – bis auf eine Ausnahme, die als Vorbild ultimativen Horrors in Geschichten wiederkehrt. Mit dreiunddreißig heiratet er; die Hochzeitsnacht vergeht beim Abtippen einer Story für den Zauberkünstler Harry Houdini, „Imprisoned with the Pharaos“, die im Zug verloren geht.

Kleines Zimmer.

Sonia während sie eine Geschichte abtippt, für sich: Immer wenn wir uns in den buntgemischten Menschenmengen befanden, die für New York charakteristisch sind, wurde Howard blass vor Wut. Er schien fast den Verstand zu verlieren. Und wenn ich die Wahrheit sagen soll, es war seine Einstellung gegenüber Minderheiten und sein Verlangen, ihnen zu entrinnen, das ihn schließlich nach Providence zurücktrieb.

Tante 1: Howie!

Tante 2: Howie!

Sonia: Die verfluchten Tanten. Sie waren sein Verhängnis. Sie haben ihm ermöglicht, der kleine Junge zu bleiben. Vielmehr das kleine Mädchen, das er nach dem Willen seiner Mutter hätte sein sollen. Beide Eltern waren durchgeknallt. Der Vater hate Syphilis, und die Mutter … Ich kaufte ihm neue Kleider und musste ihn erinnern, dass ich eine russische Jüdin bin, wenn ihn der Fremdenhass wieder einmal überkam. Ich sei ja eine Ausnahme, beteuerte er dann.

Lovecraft stygisch: Er hatte sich durch irgendeine dunkle Art von Selbsthypnose in ein vergangenes Zeitalter versetzt, und am Schluss konzentrierte er offenbar all seine Kräfte darauf, jene alltäglichen Dinge der modernen Welt zu meistern, die so vollständig aus seinem Gehirn getilgt worden waren.

Lovecraft stygisch: Ich hatte den kindlichen Einfall, mich ganz und gar in die Vergangenheit zu versetzen, und so wählte ich mir nur solche Bücher, die sehr alt waren, und datierte alles, was ich schrieb, um zweihundert Jahre zurück – 1697 statt 1897, und so weiter … Bevor ich’s wusste, hatte das achtzehnte Jahrhundert mich ganz und gar gefangengenommen, und stundenlang brütete ich auf dem Dachboden über den Büchern, die aus der Bibliothek unten verbannt worden waren … ich glaube, ich bin wahrscheinlich der einzige lebende Mensch, dem das alte Idiom des achtzehnten Jahrhunderts tatsächlich die Muttersprache für Prosa und Lyrik ist.

Lovecraft stygisch: Die älteste und stärkste Gemütsbewegung, die die Menschheit kennt, ist die Angst; und die älteste und stärkste Art von Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.

Lovecraft stygisch: Er selbst bezeichnete sich als psychisch hypersensitiv. Die nüchternen Bewohner der alten Handelsstadt taten ihn einfach als verrückt ab. Von Kindheit an hatte er Aufmerksamkeit auf sich gelenkt durch die seltsamen Geschichten und merkwürdigen Träume, die er für gewöhnlich erzählte.

Bibliothek.

Lovecraft stygisch: „Hermes Trismegistus“ in Mesnards Ausgabe, die „Turba Philosophorum“, Gebers „Liber Investigatonios“ und Artephorus‘ „Stein der Weisheit“ – keines dieser Werke fehlte; und dicht neben ihnen standen der kabbalistische „Zohar“, Peter Jamms mehrbändige Ausgabe von Albertus Magnus, Raymond Lullys „Ars Magna et Ultima“ in Zetsners Ausgabe, Roger Bacons „Thesaurus Chemicus“, Fludds „Clavis Alchimiae“ und Trothemius‘ „De paie Philosophico“. Ein besonders schöner Band mit der auffälligen Aufschrift „Qanoon-é-Islam“ enthielt das verbotene „Necronomicon“ des verrückten Arabers Abdul Alhazred.

Autor: Stimmen drangen in den Raum ein und überfluteten ihn. Nicht gleichmäßig; verschieden große Luftblasen verblieben, die taktartig gegliedert auf- und vergingen, Ansammlungen, Felder, Schwärme bildeten, den Raum geometrisch und grammatikalisch durchkreuzten, sich überschnitten und vermischten, unvermutet aufplatzten oder reglos verharrten, tanzten oder taumelten, so dass keine Ruhe war auf den Wellen, die gegen den Raum brandeten, ihn überspülten, zurückschlugen, Gischt warfen und, ehe sie schwiegen, von neuem anrollten. Im Gestrüpp der Luftblasen waren Wellen nicht zu erkennen; ihre gleichförmigen Durchgänge verriet nur ein stetes Grollen oder weißes Rauschen am Grund der Geräusche. Die Stimmen kamen aus allen Richtungen, und ihre Schwingungen verwirrten die Atmosphäre wie die Luftblasen den Raum. Wände waren kein Hindernis für sie, ihre feinen Frequenzen perlen berührungslos durch den Mauerstaub. Kein Winkel und Bannfluch schützte vor ihnen, sie waren immerzu anwesend, lautlos mit unsichtbaren Lippen wispernd, auch wenn kein Gehirn sie anzog und empfing, um ihren Klang zu übertragen.

Schallplatten-Aufnahme. Undefinierbare Geräusche. Eine Waldlichtung in den Bergen.

Eine kultivierte Menschenstimme: … ist der Herrscher des Waldes, sogar zu… und die Gaben der Menschen von Leng … also von den Quellen der Nacht bis zu den Abgründen des Raumes, und von den Abgründen des Raumes bis zu den Quellen der Nacht, auf ewig die Lobpreisung des Großen Cthulhu, des Tsathoggua und von Ihm, dessen Name nie genannt sein soll. Auf ewig Ihre Lobpreisung, und Überfluss der Schwarzen Ziege der Wälder. Iä! Schab-Niggurath! Die Ziege mit den tausend Jungen!

Eine summende Imitation menschlicher Sprache: Iä! Schab-Niggurath! Die Schwarze Ziege der Wälder mit den tausend Jungen!

Mensch: Und es geschah, dass der Herrscher der Wälder, der … sieben und neun, die Onxystufen hinab … (Tri)but Ihm in dem Abgrund, Azathoth, Ihm, von dem Ihr uns Wunder gelehrt ha(bt) … auf den Schwingen der Nacht über den Raum hinaus, über d… zu Dem, dessen jüngstes Kind Yuggoth ist, einsam rolend am Rande des Schwarzen Äthers …

Ausserirdischer: … gehe hinaus unter die Menschen und finde Ihre Wege, damit Er in dem Abgrund es wisse. Nyarlathotep, dem Mächtigen Boten, müssen alle Dinge gesagt werden. Und Er wird sich bekleiden mit der Gestalt der Menschen, der wächsernen Maske und dem Gewand, das verbirgt, und herabkommen aus der Welt der Sieben Sonne, um Spott…

Mensch: … (Nyarl)athotep, Großer Bote, der du Yuggoth große Freude bringst durch die Leere, Vater der Millionen Bevorzugter, Einherschreitender unter …

Aufnahme bricht ab.

Ein Zimmer mit flackerndem Kamin. Wilmarth spricht zu einem stummen Zuhörer.

Wilmarth: Zugegeben, ich habe bis zum Schluss nichts unmittelbar Schreckliches gesehen. Zu behaupten, ein seelischer Schock sei die Ursache meiner Schlussfolgerung gewesen, hieße jedoch, offenkundige Tatsachen zu ignorieren. Gewiss, Akeleys Verschwinden besagt gar nichts. Als man später sein Haus untersuchte, sah alles so aus, als habe er es für einen Ausflug verlassen und sei noch nicht zurückgekehrt. Nein, beweisen kann ich nichts.

Er trinkt einen Schluck.

Wilmarth: Soweit es mich betrifft, fing die Sache mit den Überschwemmungen in Vermont am 3. November 1927 an. Ich war schon damals Lehrbeauftragter für Literatur an der Miskatonic-Universität in Arkham, Massachusetts. Nebenbei studierte ich die Volkskunde von Neu-England. Die Überschwemmungen waren wahrhaft verheerend, ein Jahrhundert-Hochwasser nannte es die Presse. Ja, aber nachdem die Berichte über die Notlage der Bevölkerung und die Hilfsmaßnahmen längst aus den Zeitungsspalten verschwunden waren, blieben die Schauermärchen ein Thema. So nannte ich sie damals, und eben auch öffentlich. Weil man um meine Kompetenz in Sachen Volkskunde wusste, wurde ich um eine Stellungsnahme gebeten, und daraus erwuchs die Kontroverse, die schließlich … Also, es ging um sonderbare Objekte, die von verschiedenen Zeugen in den angeschwollenen Flüssen gesehen worden waren. Leichen, sagten die Zeugen, seien es nicht gewesen, auch keine Tiere, jedenfalls nicht von der Art, die in Vermont vorkommen. Die Objekte seien rosa und nicht ganz zwei Meter lang gewesen, hätten krustenartige Körper mir zwei riesigen Rückenflossen oder Flügeln gehabt und mehrere Paare Gliedmaßen wie Insekten; dort, wo ein Kopf zu vermuten gewesen wäre, hätte sich ein ellipsenartig zusammengerolltes Gebilde befunden, das von zahllosen kurzen Fühlern bedeckt gewesen sein soll. Es war schon verblüffend, wie genau die Zeugenaussagen übereinstimmten. Ich schloss daraus, dass die Zeugen, allesamt Hinterwälder, zerschundene und aufgedunsene Leichen von Menschen oder Tieren gesehen hatten und in ihrer Einbildung ihre Wahrnehmung mit den in der Gegend verbreiteten Sagen in Übereinstimmung gebracht hatten. Diese Sagen sind allerdings faszinierend. Kurz zusammengefasst drehen sich diese Geschichten um eine verborgen lebende Rasse von Monstren, die sich irgendwo in den hintersten Bergen von Vermont verstecken. Es gab seltsame Abdrücke von Füßen oder Klauen im Schlamm der Bachufer und seltsame Gruppen kreisförmig angeordneter Steine, in deren Umgebung kein Gras wuchs. Es gab Höhlen von rätselhafter Tiefe, die von Flelsblöcken verschlossen waren, um am schlimmsten waren die Beobachtungen, die vorwitzige Bergsteiger im Zwielicht der hintersten Täler der dichten, steil abfallenden Wälder gesehen hatten. Der gebräuchliche Name für die Wesen, die in den Bergen wohnten, war „die Alten“. Ich nahm an und schrieb das auch, dass es sich hierbei um die Anverwandlung alter indianischer Geschichten und ihre Verquickung mit den keltischen Sagen der schottisch-irischen Neusiedler handelte. Die Einwohner von Vermont, wo ich nie gewesen war, wehrten sich allerdings gegen meine vernünftigen Erklärungen ihrer liebgewordenen Legenden. Es war eine Zeit, in der das Irrationale Konjunktur hatte. Jedenfalls füllten die Leserbriefe, in denen ich teils angegriffen, teils verteidigt wurde, für Wochen die Lokalpresse. Und dann, Anfang Mai 1928, kam Akeleys erster Brief.

Akeley: Sehr geehrter Herr, mit großen Interesse las ich im „Brattleboro Reformer“ den Nachdruck Ihres Beitrags über die Geschichten von seltsamen Körper, die vergangenen Herbst in den über die Ufer getretenen Flüssen trieben.

Lovecraft stygisch: Die größte Gnade auf dieser Welt ist das Nichtvermögen des menschlichen Geistes, all seine Inhalte miteinander in Verbindung zu bringen. Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Unwissens inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt, diese weit zu bereisen. Die Wissenschaften – deren jede in eine eigene Richtung zielt – haben uns bis jetzt wenig gekümmert; aber eines Tages wird das Zusammenfügen der einzelnen Erkenntnisse so erschreckende Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, dass wir durch diese Enthüllung entweder dem Wahnsinn verfallen oder aus dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters finden werden.

Erzähler: Mit dem Versagen, literarisch wie persönlich, so vertraut wie Poe und daher in anderer Weise prädestiniert für eine Variation auf den „Pym’ ist Howard Phillips Lovecraft. Gleich Verne vergötterte er Poe.

Lovecraft stygisch: Und dann stieß ich auf Edgar Allan Poe! Es war mein Untergang; im Alter von acht Jahren sah ich das blaue Firmament von Argos und Sizilien verdunkelt von den Seuchendünsten des Grabes.

Erzähler: Dass Poe kurz vor seinem Tode eine Frau aus Lovecrafts Heimatstadt Providence umwarb, gab diesem Gelegenheit zur Legendenbildung. Seine Besucher führte er regelmäßig nachts zu einem Friedhof, auf dem Poe sich angeblich herumgetrieben haben sollte; in eine Straße, die „der Meister des Schrecklichen und Bizarren“ passierte, wenn er seine Geliebte besuchte, verlegte er ein Spukhaus. Der leidenschaftliche Chemiker und Astronom Lovecraft, der sich selbst einen „mechanistischen Materialisten“ nannte, der „keinen intellektuellen Standpunkt außer dem allerfortgeschrittensten ertragen“ könne, und den seine Freunde als wandelnde Enzyklopädie beschreiben, visiert als Autor die Ohnmacht des Menschen an. Lovecraft schreibt in dem „Gefühl, dass die Welt des Greifbaren nur ein Atom in einem unermesslichen und bedeutungsschweren Gewebe ist und dass unbekannte Kräfte die Sphäre des Bekannten an jedem Punkt bedrängen und durchdringen.“ Seine Protagonisten sind Beobachter und Opfer, nie aber Täter. An der Klimax umfängt sie gnädige Bewusstlosigkeit. Die „logischen Helden“ der Geschichte sind mithin „Naturerscheinungen, nicht aber Personen“. Lovecrafts Bilder sind von eschatologischer Totalität. Sie fügen sich zu einer systematischen Gegenwelt des naturwissenschaftlichen Kosmos, einem Paralleluniversum der schwarzen Magie und des schlechthin Unbegreiflichen. Der Mensch steht in dieser Welt auf ähnlich verlorenem Posten wie die Figuren in Giovanni Battista Piranesis weltüberwölbenden „Carceri d’Invenzione“, den erfundenen Gefängnissen, Gefängnissen der Einbildung.

Lovecraft stygisch: They must know / it was the rats; / the slithering scurrying rats / whose scampering will never let me sleep; / the daemon rats / that race behind the padding in this room / and beckon me down to greater horrors
than I have ever known; / the rats they can never hear; / the rats, / the rats in the walls …

Straßenlärm dringt durch ein offenes Bürofenster herein. Alles ganz normal. Vielleicht etwas zu aufdringlich.

Polizist: Was hast die Autopsie ergeben, Doktor?

Arzt: Ich bin ratlos. Todesursache ist eindeutig eine Art Überdruck oder Unterdruck oder ein misslungener Druckausgleich.

Polizist: Das klingt überhaupt nicht eindeutig.

Arzt: Das Ergebnis ist dasselbe.

Polizist: Und wie soll das vor sich gegangen sein?

Schleifen auf den Kacheln.

Gast 2: Das Gehirn als Abbild des Kosmos.

Gast 1: Oder Spiegel. Oder Zerrspiegel.

Direktor: Eine trauliche Vorstellung.

Stade 1995 / 2004 / 2019

Siehe auch

Schöner Schrecken. H. P. Lovecrafts kosmischer Rassismus
Fantastische Reisen der Schrift. Antarktis-Erzählungen von Poe, Verne, Lovecraft
Die Antarktis, das Alien und die Angst. Anmerkungen zu Klima und Horror am Beispiel von H. P. Lovecrafts Mountains of Madness

Verfluchter der Finsternis