Anmerkungen zu Michel Houellebecqs Essay über H. P. Lovecraft
Es gibt die Unterhaltungsliteratur. Die Geschichten erzählt, um die Zeit zu vertreiben. Die betreffenden Bücher sind Wegwerfware und werden vergessen, nachdem die letzte Seite erreicht ist. Man nimmt sie nie wieder zur Hand oder erst nach langer Zeit, wenn die Erinnerung daran verblasst ist, sie gelesen zu haben.
Außerdem gibt es die Erbauungsliteratur. Deren Geschichten sollen aufklären, den Horizont erweitern, die Wirklichkeit kommentieren. Sie dienen dazu, die Menschen besser zu machen. Man empfiehlt sie anderen, weil man etwas daraus gelernt hat. Ihre Sätze werden zitiert, weil sie Wahrheiten zu enthalten scheinen.
Und dann gibt es eine Literatur, die weder erbaulich noch unterhaltsam ist. Bücher, die weder die Zeit vertreiben noch das Leben bereichern. Bücher, die für sich selbst und sonst nichts stehen.
Im Rückblick haben allein die Bücher der letzten Kategorie einen nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht. Bücher, die eine Welt für sich waren und mich dadurch faszinierten, dass sie keinen Alltag, keine erlebbare Wirklichkeit berührten. Bücher, die ich stets mit Zögern aber immer wieder zur Hand nehme, weil sie zu lesen bedeutet, aus der Alltagswelt zu treten.
→ Raymond Roussels Bücher zum Beispiel, die, wie man annehmen muss, aus Sprachspielen entstanden sind als Erzeugnisse purer Poesie. Eine Literatur wie im Traum. Oder Howard Phillips Lovecrafts Werke. Texte aus einer anderen Welt als der, über die man sich mit anderen verständigen kann.
Gegen die Welt, gegen das Leben heißt der Essay, den Michel Houellebecq dem Opus von Lovecraft gewidmet hat. Diese Formel gilt auch für Roussel und überschreibt die ganze Spielart der Literatur. Einer Literatur, die sich jeder Literaturkritik entzieht und nur insofern zur Literaturgeschichte gehört, indem sie deren Kategorien ignoriert.
Lovecraft hat zu einer bestimmten Zeit unter bestimmten Umständen geschrieben. Aber das spielt keine Rolle. Und so gewaltig das Interesse der Leserschaft an seiner Person ist, verschwindet diese im Werk.
Anders als die weltabgewandten Elaborate von Roussel haben Lovecrafts Erzählungen internationalen Kultstatus erreicht. Für Houellebecq liegt das daran, dass es bei Lovecraft etwas gibt, „das nicht wirklich literarisch ist“. Im Vorwort zur Neuausgabe seines Essays schreibt er: „Nach Lesungen kommen ab und zu junge Leute zu mir und bitten mich, dieses Buch zu signieren. Sie haben Lovecraft über Rollenspiele oder CD-ROMs entdeckt. Gelesen haben sie ihn nicht und beabsichtigen das auch nicht. Trotzdem möchten sie seltsamerweise – unabhängig von seinen Texten – etwas über seine Person erfahren und darüber, wie er seine Welt aufgebaut hat.“
In facebook-Gruppen um Lovecraft melden sich solche Leute zu Wort mit der Frage, welche seine Erzählungen sie zuerst lesen sollen. Sie immerhin wollen den Autor, zu dessen Anhängern sie bereits gehören, kennen lernen.
Dazu passt etwas, das „einzigartig in der modernen Literaturgeschichte“ ist: „Keiner hat jemals ernsthaft versucht, Proust fortzusetzen. Anders bei Lovecraft.“ Es gibt Scharen von Nachschreibern, die keineswegs nur parodieren und Hommages verfassen, sondern antreten, um das, was als „Cthulhu-Mythos“ gilt, weiter auszuformulieren als der Meister es getan hat.
Die Weltverachtung von Lovecraft zeigt sich in seinem Leben wie seinem Werk durch die Abwesenheit der beiden Realitäten, die das Tun und Treiben der übrigen Menschheit bestimmen: Sex und Geld. Bis auf zwei Ausnahmen (Träume im Hexenhaus und Das Ding auf der Schwelle) kommen Frauen in Lovecrafts Erzählungen ebenso wenig vor wie Hinweise auf geschlechtliche Aktivitäten. Houellebecq weist darauf hin, dass es in die Irre geht, daraus auf eine latente Homosexualität des Autors zu schließen. Liebe, ob seelisch oder körperlich verstanden, ist kein Teil von Lovecrafts Welt. „Die einzigen menschlichen Gefühle, die er gelten lässt, sind Verwunderung und Furcht.“
Mit den Frauen, die in Lovecrafts weitestgehend ereignislosem Leben eine Rolle spielen, die Mutter und zwei Tanten, verbindet ihn kein Sex. Den hatte er mutmaßlich mit der Frau, mit der verheiratet war. Mutmaßlich, weil er in Abweichung von seiner sonstigen Geschwätzigkeit in Briefen (um die 100.000 sind bekannt) darüber kein Wort verliert. Die knapp zwei Jahre, die Lovecraft mit Sonia Greene als Mann und Frau verbrachte (förmlich verheiratet waren sie länger), sind die prägenden seines Lebens: Indem er den Geschlechtsverkehr ausübt und sich um Geldangelegenheiten kümmern muss. Um das also, was er vorher wie nachher komplett ausblendet und am meisten verachtet. „Es ist ermutigend“, stellt Houellebecq fest, „in einer Epoche des fantastischen Merkantilismus jemanden zu sehen, der sich hartnäckig weigert, ‚sich zu verkaufen‘.“
Entscheidend aber für Lovecrafts literarischen Kosmos ist, dass seine Erfahrung als Ehemann mit einem Aufenthalt in New York zusammen fällt. Nach dem Scheitern der Beziehung zu Sonia Greene und seiner Rückkehr in seinen Geburtsort Providence beginnt er ab 1926 jene Geschichten zu schreiben, die seinen Nachruhm begründen. Inzwischen nämlich hat er in „Babylon“ das erlebt, was ihm als Inkarnation des Fremden und Bösen erscheint: andere „Rassen“.
Im Anschluss an ein langes Zitat aus einem Brief, in dem Lovecraft die „Javamenschen und Amöben“ schildert, die New York als einer Stätte von „Auflösung und Verfall“ bevölkern, vermerkt Houellebecq: „Der Rassenhass ruft bei Lovecraft jenen poetischen Rauschzustand hervor, in dem er in einem rhythmischen und verrückten Trommelfeuer von verfemten Sätzen sich selbst überschreitet.“
„Holocaust“ hat Houellebecq den Abschnitt überschrieben, den er der Fantasie vom Untergang widmet, um die Lovecrafts Werk kreist. Lovecraft war Antisemit, aber seine Ehefrau war Jüdin. Das ist nur dann ein Widerspruch, wenn man Lovecrafts Rassenhass als persönliches Attribut und nicht als ontologische Annahme begreift. „Er bewahrt sein ganzes Leben lang die typisch aristokratische Haltung der Verachtung für die Menschheit im allgemeinen, verbunden mit einer außergewöhnlichen Liebenswürdigkeit gegenüber den einzelnen Individuen.“ Dass die Welt dem Untergang geweiht ist, ist kein Grund, seine guten Manieren zu vergessen.
Die Massenmordfantasien Lovecrafts sind eben das: Fantasien. Eine anfängliche Begeisterung für Hitler hat er abgelegt. Vielleicht, weil er erkannte, dass dessen Fantasien nur verwirklichbar waren, indem sie grölende und gewalttätige Massen benötigten. Als Teil eines antisemitischen Mobs ist Lovecraft nicht vorstellbar. Und man darf annehmen, dass er den von ihm verabscheuten „Negern“, die er persönlich traf, mit ausgesuchter Höflichkeit begegnete.
Lovecrafts „große Leidenschaft, die sein Werk mit Leben erfüllt, liegt vielmehr auf der Ebene des Masochismus als des Sadismus“, notiert Houellebecq. In seinen Erzählungen werden nicht die Juden vernichtet, sondern puritanische Gentlemen, wie er selbst einer war.
„Warum beschäftigt ihr euch so sehr mit der Zukunft einer verdammten Welt?“, zitiert Houellebecq die Antwort Robert Oppenheimers, des Schöpfers der Atombombe, auf eine Journalistenfrage nach den Folgen des technischen Fortschritts. In einer Zeit wie der Gegenwart, in der die „Rettung des Planeten“ die politische Agenda bestimmt und alles daran gemessen wird, wie der Untergang durch die Klimakatastrophe abzuwenden wäre, ist Lovecrafts Stimme ein Skandal. Zugleich aber bringt sie die Ängste auf den Punkt, die als Schatten über der Zeit liegen. Wer „mit einer schnellen und genauen Sonde etwas über den Stand unserer Denk- und Anschauungsweisen erfahren will, für den ist der Erfolg von Lovecraft für sich genommen schon ein Symptom.“
Jene, die Literatur nach ihren politischen Tagesanschauungen beurteilen, müssten Lovecraft aus den Bibliotheken verbannen. Zumindest würden sie einen Text wie Grauen in Red Hook absatzweise zensieren. Dabei brächten sie sich freilich um jene Erkenntnisse, die nur Literatur vermitteln kann, indem sie den Horizont des Alltagsverstandes überschreitet und Welten erschafft, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat.
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Michel Houellebecq: Gegen die Welt, gegen das Leben. H. P. Lovecraft [1991], 3. Aufl. Köln 2021
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Siehe auch
→ Schöner Schrecken. H. P. Lovecrafts kosmischer Rassismus
→ Fantastische Reisen der Schrift. Antarktis-Erzählungen von Poe, Verne, Lovecraft
→ Die Antarktis, das Alien und die Angst
→ Von Junzt: Das Buch vom Buch, das kein Buch war

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