H. P. Lovecrafts kosmischer Rassismus
Fantastische Literatur ist ein Spiel mit Stereotypen, Zerrüttung ihr Ziel. Sie jongliert mit der „ältesten und stärksten Empfindung des Menschen“, der „Angst vor dem Unbekannten“ – so Howard Phillips Lovecraft in seiner Studie Supernatural Horror.
Durch eine vordergründige Erzählweise, die pedantische Chronik seltsamer Vorkommnisse, erschleicht die Fantastik sich das Einverständnis des Lesers. Für die Dauer der Lektüre soll etwas glaubhaft werden, das es innerhalb der bekannten Grenzen der Wirklichkeit nicht geben dürfte.
Von H. P. Lovecraft, Edgar Poes Enkel und Stephen Kings Großvater, seit seiner Entdeckung durch Jean Cocteau und H. C. Artmann auch in Europa ein Gigant des Genres, stammen einige der hinterhältigsten Horrorgeschichten, die den Spielraum der Gattung erweitert haben. In den Spätwerken At the Mountains of the Madness, The Case of Charles Dexter Ward oder The Shadow out of Time bereitet er aus billigen Zutaten ein Menü, das auch verwöhnten Geschmäckern mundet.
Versagende Vernunft
Der unverwechselbare Lovecraft-Ton ist die zitternd um Objektivität ringende Stimme eines wissenschaftlich gebildeten Ich-Erzählers. Schreibend versucht er dem Schrecken standzuhalten und vor dem Eindringen in die Zone des Ungewissen zu warnen.
Sich durch den Bericht unumstößlicher Tatsachen vortastend, zaghafte Anspielungen wiederholend, zögert der Erzähler, das Wesentliche zu benennen. Je näher er der Enthüllung kommt, desto brüchiger wird seine Stimme, bis sie sich endlich in Gestammel auflöst.
Lovecrafts Eigenart sind seine Lautmalereien: „Pth’thya-l’yi“ und „Y’hantlei“, „Iä-R’lye! Cthulhu fhtagn! Iä! Iä!“ heulen die Helden in höchster Angst. Die komplexeren Geschichten setzen solche Sprachverwirrungen dramaturgisch ein. Sie häufen sich und nehmen an Exzentrizität zu, lateinische Zitate mischen sich mit pseudo-arabischen Formeln, um in Notationen für Gaumengymnastik zu explodieren, sobald der äußerste Wahnsinn erreicht ist.
Das Letzte ist namenlos, dem absolut Ungeheuerlichen antwortet nur Schweigen. „Cthulhu“ heißt der oberste von Lovecrafts schlafenden Göttern in den Untiefen der Alpträume – das heißt nichts, ein Wort wie Rotz zwischen den Lippen. Die angestrengte Benennung betont die Unaussprechlichkeit.
Der Paravent der Vernunft, der das nackte Chaos des Kosmos abschirmt, und den die traditionelle Gruselgeschichte wie zum Happyend immer wieder aufrichtet, klappt bei Lovecraft unwiderruflich um. Statt die Weltordnung vor dem Irrationalen zu retten, versagt der Verstand kläglich angesichts dessen, was hinten hockt: ein blinder Idiotengott, der seine Panflöte aus Knochen in Blut tunkt, bevor er sie bläst.
„Die größte Gnade auf dieser Welt“, lautet Lovecrafts Credo, „ist das Nichtvermögen des menschlichen Geistes, all ihre inneren Geschehnisse miteinander in Verbindung zu bringen. Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Unwissens inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt, diese weit zu bereisen.“
Totaler Schrecken
Der leidenschaftliche Chemiker, ein „mechanistischer Materialist“, den seine Freunde als wandelnde Enzyklopädie wahrnehmen, ein Mann der Wissenschaft also, visiert als Autor die Ohnmacht des Menschen an. Lovecraft schreibt in dem „Gefühl, dass die Welt des Greifbaren nur ein Atom in einem unermesslichen und bedeutungsschweren Gewebe ist und dass unbekannte Kräfte die Sphäre des Bekannten an jedem Punkt bedrängen und durchdringen“.
Seine Protagonisten sind Beobachter oder Opfer, nie aber Täter. An der Klimax umfängt sie gnädige Bewusstlosigkeit. Die „logischen Helden“ der Geschichten sind mithin „Naturerscheinungen, nicht aber Personen“.
Für die großartigste fantastische Erzählung hielt Lovecraft Algernon Blackwoods The Willows, worin ein Abschnitt der Donau bei Wien ein gestaltloses Grauen geradezu ausdünstet. In Lovecrafts eigenem Meisterstück ist der Schrecken ähnlich schleierhaft, eine Farbe, die sich über die Landschaft legt, The Colour out of Space.
Lovecrafts Geschichten kennen kein Gerumpel in der Kammer, keine zutraulichen Gespenster, die mit Zaubertricks in ihre Gräber zurückgescheucht werden können. Die Bilder des Entsetzens sind von eschatologischer Totalität. Sie fügen sich zu einer systematischen Gegenwelt des naturwissenschaftlichen Kosmos, einem Paralleluniversum der schwarzen Magie und des schlechthin Unbegreiflichen.
Der Kurzroman Berge des Wahnsinns, angelegt als Fortsetzung von Poes Artur Gordon Pym, führt eine geologische Expedition zu einem Felsmassiv in der äußersten Antarktis, höher als der Himalaya, hinter dem sich, unabsehbar bis an den Horizont und tief unterm Eis vergraben, eine prähistorische Stadt erstreckt.
Die Bedrohung, vor der der Ich-Erzähler warnt, gilt nicht der Seelenruhe der Bürger und ihrem von einer begrenzten Abnormität verstörten Alltag. Den Schlaf hinter den Bergen zu unterbrechen bedeutet, Verderben über den gesamten Globus heraufzubeschwören. Die Zyklopenstadt im ewigen Eis ist der schiere Widersinn der Naturgeschichte.
Nicht einzelne Spukhäuser, sondern ganze Städte fallen dem Bösen anheim; nicht ein Monster, sondern Legionen von ihnen lauern bereit zum Ausbruch. Der ultimative Horror sind die „Schoggothen“: „eine formlose Masse protoplasmischer Blasen, schwach lumineszierend und mit Myriaden vergänglicher Augen“.
Die Übermacht eines Grauens, das im Begriff steht, Raum und Zeit zu überschwemmen, und in dem Archaisches und Science-Fiction zusammenfallen, ist Lovecrafts eigenste Zutat zum Genrespiel. Auf sein Konto geht die von Leuten wie Däniken und Buttlar pseudo-wissenschaftlich ausgestattete „Prä-Astronautik“, die den UFO-Glauben in die Historie zurückprojiziert.
Lovecrafts literarischem Privatmythos zufolge kam in vormenschlicher Zeit die „große Rasse“ von einem sterbenden Stern weit außerhalb der Galaxis. Sie schuf Städte mit nicht-euklidischer Geometrie, in deren Ruinen in der Antarktis, der australischen Wüste oder versunken im Südpazifik, schlafende Monstra warten, um durch die unvorsichtige Annäherung des Menschen geweckt zu werden. Geheimkulte halten das Wissen um diese Vorzeit wach, und Bücher, die Prozeduren und Formeln bewahren, sind dementsprechend gefährlicher als Superwaffen.
Schauderhafter Ramsch
Der Einsiedler und panische Briefschreiber, der den Tag hinter zugezogenen Vorhängen und die Nacht auf Friedhöfen verbrachte, selbst eine Schauergestalt, hat das amerikanische Publikum erst nach seinem Tod für sich einnehmen können. In seiner Unterwelt ist Neu-England, die älteste Region der USA, das Negativ des „American Way of Life“.
Bevorzugte Brutstätte des Bösen ist sein Geburts- und lebenslanger Wohnort, das puritanische Providence. Ganze Landstriche der Ostküste sind von Widerwärtigkeiten verseucht, schleichender Verfall ist allgegenwärtig. Fortschritt und technologischer Aufbruch sind kontraproduktiv. Statt die Welt beherrschbar zu machen, beschleunigen sie die Machtergreifung durch das Grauen.
Beinahe unheimlicher als seine Geschichten ist der Umgang mit ihnen. Allenfalls zwei Dutzend seiner rund 60 Erzählungen sind keine erkennbar des Honorars halber verfasste Trivialliteratur. Gleichwohl wird er von seinen Verlegern und Bewunderern wie ein Großschriftsteller behandelt, von dem nicht nur jedes Fragment veröffentlicht wird. Außerdem liegen mehrere Bände vor mit Storys, die durch den Namen Lovecraft veredelt werden: Texte, die er für andere bearbeitet hat, beziehungsweise die sein Nachlassverwalter August Derleth posthum „vollendet“ hat, teilweise schauderhafter Ramsch.
Ohnehin richtet sich die Aufmerksamkeit seiner Kommentatoren weniger auf das Werk selbst als auf dessen Zusammenhang mit dem Lebensumständen des Verfassers. Stärker als bei vergleichbaren Genreautoren, die zu ihren Sujets Distanz wahren, ist Lovecrafts Schreiben immer auch Therapie, Bekenntnis, Selbstdarstellung.
Der Ruf der Vulva
„Sie baten mich zu erklären, weshalb ich mich vor einem kühlen Luftzug ängstige; weshalb ich beim Betreten eines kalten Zimmers mehr als andere erschauere und angeekelt und abgestoßen wirke, wenn der Abendfrost durch die Wärme eines milden Herbsttages kribbelt.“ So beginnt Cool Air, die Erzählung von der Begegnung mit einem Arzt, dessen Körper über den Tod hinaus durch eine Anmoniakkühlanlage konserviert wird.
Das Klischee ist alles andere als willkürlich, der durchschnittliche Einfall verspiegelt ein Selbstporträt, die Gänsehaut ist unerwartet echt. Denn der Autor hatte wahre Todesangst vor der Kälte. Lovecraft litt an der seltenen Krankheit Poikilothermie, durch die der Organismus die Fähigkeit verliert, die Körpertemperatur konstant zu halten.
Wie bei Reptil und Fisch findet eine Anpassung an die jeweilige Umgebung statt. Schon ein Spaziergang im Winter ist lebensgefährlich. Tod und Eisesstarre waren für Lovecraft nicht nur metaphorische Geschwister, die er um des Effekts willen montierte.
In Julia, oder die Gemälde übersetzte Arno Schmidt Lovecrafts The Call of Cthulhu mühelos in eine Darstellung von dessen erstem Geschlechtsverkehr im Alter von 34 Jahren. „Ich war der Aggressor“, sagte seine sieben Jahre ältere Frau später. Cthulhu, das schleimige, saugende Monster, das der zölibatäre Held in der Tiefsee aufstöbert, beschreibt Schmidt als Angstparodie der Vulva. Dass es grün ist, versteht sich von selbst: Lovecrafts Frau hieß Greene.
Fantastischer Faschismus
Neben solchen eher harmlosen Beziehungen zwischen Leben und Werk wird ein Aspekt von den Interpreten hartnäckig heruntergespielt: Lovecrafts Faschismus, sein Glauben an auserwählte Eliten und die Überlegenheit der weißen Rasse.
Hilflos hält man ihm zugute, dass er „in Wahrheit“ ein freundlicher, zurückhaltender Mensch war und gar nicht martialisch. Dass seine Frau Jüdin war, soll seine antisemitischen Ausfälle entschuldigen. Indes war sein Rassismus nicht einmal nur bloße Privatmeinung. Als Präsident der United Amateur Press Association, einer bundesweiten Organisation von Hobbyautoren, hat er seine Hetze auch in offizieller Funktion verbreitet.
Nicht zuletzt aber ist der rassistische Gedanke ein geradezu konstituierendes Merkmal seiner Erzählungen. Das Böse ist immer auch ausländisch, jüdisch, durch Vermischung degeneriert. Den Vorurteilen des Menschen Lovecraft entsprechen die Bilder des Schriftstellers. Von „verschlagenem Rattengezücht aus dem Ghetto“ spricht er in Briefen und Erzählungen nahezu gleichlautend.
Freilich ist auch der Widerspruch im Werk derselbe wie im Leben. Wie er als Antisemit Freundschaften mit Juden hat unterhalten konnte, sind viele seiner Protagonisten, Identifikationsfiguren für die Leser und kaum verhüllte Selbstporträts, ihrerseits Abkömmlinge verachteter Rassen und Familien.
Lovecrafts Hoffnung auf die arische Rasse, die „Creme der Menschheit“, gilt in seinem Werk nichts. Wenngleich dort dieselbe Angst wirksam ist, die aus dem lebenslangen Muttersöhnchen, das seine Autobiografie Anmerkungen zu einer Null betitelte, einen rhetorischen Rassisten machte, ist der Kampf vom ersten Satz an entschieden.
Das Böse, Fremde und Blasphemische triumphiert unweigerlich. Zwar enden die fischähnlichen Wesen in Shadow over Innsmouth im Konzentrationslager. Die Pointe aber ist, dass der Erzähler selbst dazu gehört – die Erbanlagen brechen durch, ihm wachsen Schwimmhäute, und er entkommt in ein ewiges Leben unter Wasser: der Idealfall einer Identifikation mit dem Angreifer.
Die rassische Erlösung bleibt in Lovecrafts Erzählungen aus und macht sie als faschistische Propaganda unbrauchbar. Dem imperialen Traum stellt er seinen Alptraum vom globalen Verfall entgegen. Den „Großen Alten“, den Außerirdischen, der Rasse des Bösen, ist der Sieg vorherbestimmt. Die Vorsehung (Providence) ist auf ihrer Seite.
Lovecrafts Ruhm setzte im Zweiten Weltkrieg ein, als die USA gegen eine Nation antrat, die sich für die älteste und aller übrigen Menschheit überlegene Rasse hielt. Für die Landser wurde eine „Übersee“-Auswahl gedruckt.
die tageszeitung 29.9.1989 © Uwe Ruprecht
2:28 min. in bewegten Bildern zu Lovecraft auf meinem Kanal bei YouTube. Ebendort Illustrationen zu einer Lovecraft-Story: The Haunter of the Dark
→ Fantastische Reisen der Schrift. Antarktis-Erzählungen von Poe, Verne, Lovecraft
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Siehe auch
→ Treffpunkt Phantastik
Tummelplatz deutschsprachiger Sekundärliteratur zur phantastischen Literatur
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