Eine Schauergeschichte

Ein Nachbar bemerkte, wie Stefan K. gegen zehn Uhr früh das Haus verließ. Der Nachbar war krank oder gab vor, es zu sein, und verbrachte die längste Zeit des Tages am Fenster zum Hof, der von vier Gebäuden gebildet wurde, und den jeder durchqueren mussten, der die Häuser verließ oder betrat. Zwischen Bewohnern und Besuchern konnte der Nachbar nicht immer klar unterscheiden, aber bei K. war er sicher, dass er hier wohnte, weil er ihn mehrmals täglich mit einem Hund kommen und gehen sah. Zumal die Selbstverständlichkeit, mit der er sich im Hof aufhielt, während der Hund diesen in Ruhe beschnüffelte, bezeigte, dass auch er den Hof für sein Revier hielt.

Mehr war von dem Nachbarn nicht zu erfahren. So gut er die Gestalten kannte, die den Hof durchquerten, wusste er keinen Namen oder Beruf oder hätte mehr über sie angeben können, als er sich zu ihnen vorstellte.

Eine hohe Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass K. sich zu seinem Automobil begab, das er an verschiedenen Stellen in der nächsten Umgebung abzustellen pflegte. Er beklagte sich oft über die Parkplatzsituation in der Stadt und erklärte, wie er damit umging, so dass mehrere Aussagen dazu vorlagen, die Rückschlüsse erlaubten.

Das Automobil war ein so genannter „Vorstadtpanzer“, den K. nicht in eine Parklücke zwängen konnte. Auf dessen Größe angesprochen, soll K. erklärt haben, er brauche das Monstrum des Hundes wegen. Damit meinte er, dass er das Tier nicht in der Stadt ausführte, sondern mit ihm zum Ufer der Elbe fuhr, um sich dort zu ergehen.

Es ließ sich nicht feststellen, ob K. auch an diesem Tag seiner Routine folgte. Das GPS des Fahrzeugs war defekt; die letzten Aufzeichnungen waren drei Jahre alt. Sie ergaben allerdings ein Verhaltensmuster, das sich seither nicht geändert zu haben schien. Andere Hundeführer, die sich bestimmt am Strand aufgehalten hatten, erinnerten sich nicht genau, ob sie K. und seinen Hund an diesem oder einem anderen Tag sahen.

K.s Fahrverhalten wurde aus naheliegenden Gründen eingehender betrachtet. Die Lizenz hatte er mit 18 Jahren erworben, was insofern bemerkenswert ist, als es zu der Zeit noch nicht so selbstverständlich war wie es später werden würde. Außerdem hatte K. unverzüglich ein Fahrzeug angemeldet, was gleichfalls zwar nicht ungewöhnlich war, aber in die Richtung wies, die durch andere Indizien gestützt wurde.

Ende der 1950er auf dem Land geboren hatte K. eine weitgehend autofreie Kindheit erlebt. Mit dem Autofahren verband ihn anderes als bloß eine beschleunigte Fortbewegung. Aus den amtlichen Daten ergaben sich indes keine Auffälligkeiten. Die Quote der geahndeten Regelverstöße war durchschnittlich. Dass K. stets wegen erhöhter Geschwindigkeit verwarnt oder bestraft worden war, besagte nichts Besonderes.

Die Mitteilungen der Gewährsleute wiesen eine Unschärfe auf, die von den Fragestellern geteilt wurde. Sämtlich selbst Autofahrer fanden sie in K.s Fahrverhalten nichts Unvertrautes oder gar Absonderliches. Abweichungen vom Normalfall, die zur Aufklärung beigetragen hätten, wurden nicht gefunden. Hinsichtlich seiner Beziehung zu seinem Auto unterschied K. sich nicht von denen, die es nicht in der Weise gebrauchten wie K. an besagtem Tag.

Man weiß nicht, woher er kam, als er gegen 16 Uhr vermutlich vom Hafen her in die Fußgängerzone fuhr. Sein Tempo lässt sich schwer schätzen, und es scheint variiert zu haben. Einige meinten, er sei Schrittgeschwindigkeit gefahren; schneller als 20 Stundenkilometer war es niemandem vorgekommen.

K. bewegte sich gewissermaßen gemächlich durch die Gassen, die nicht für Autoverkehr geschaffen waren, aber seiner Jugend noch dazu genutzt worden waren. K. stieß Passanten an und um, sie fielen ihm vor die Räder oder prallten gegen die Stoßstangen.

Bis er den Pferdemarkt erreichte hatte er eine Spur von unterschiedlich schwer Verletzten hinter sich gelassen. Der erste Todesfall war eine alte Frau, die K. beim Abbiegen umwarf und mit einem Vorderreifen überrollte.

Bis dahin war K. anscheinend gleichmäßig gefahren. Nun hielt er an. Ihm war eine Welle der Aufregung unter den Passanten gefolgt, die auf dem Platz um sich griff. Während er wie wartend da stand, wurde er als Quelle der Unruhe markiert. Einige flohen, andere verharrten in der Entfernung. Manche suchten Zuflucht auf einem Gemäuer, das vor einem Angriff des Autos geschützt schien. Man drängte sich in die umliegenden Läden. Um K.s Auto bildete sich eine Bannmeile.

Plötzlich fuhr er an und raste auf die Holzstraße zu, von wo sich weiter Passanten näherten, die sich bis dahin allenfalls wundern würden, warum am Eingang zum Pferdemarkt alle stehen geblieben waren. Diese stoben nun panisch auseinander und bildeten eine Gasse für das heran rasende Auto.

Auch wenn K. fuhr, als säße er in einem Panzer, verhielt sein Auto sich nicht entsprechend. Die An- und Überfahrenen allein brachten es nicht sehr aus der Spur, aber das geringste Zittern des Steuerrads in Verbindung mit der vergleichsweise hohen Geschwindigkeit und der Vielzahl von Hindernissen wie Bänken, Kaffeehaustischen oder Auslagen der Geschäfte wirkte sich auf die Fahrweise aus. Man kann nichts Genaues über K.s Verfassung in diesem Moment wissen, aber ein fahrerisches Problem, das er zu anderer Zeit gelöst hätte, mochte ihn nun überfordert haben.

Jedenfalls durchschlug er am Ende der Straße die Scheiben eines Cafés, preschte durch den Gastraum und die ebenfalls verglaste Wand auf der anderen Seite. Angeblich soll er sogar beschleunigt haben, als er auf das Café zuhielt. Vorwiegend wird jedoch ein Fahrfehler angenommen.

Indem K. durch die Scheiben des Cafés sprang, verließ er die Fußgängerzone und geriet er in den regen Verkehr auf der Ringstraße. Er wurde zwischen den anderen Autos hin und her geschleudert und bildete schließlich den Kern einer Massenkarambolage, bei der fast so viele Autofahrer starben wie K. Fußgänger getötet hatte.

Er kam in seinem Auto um. Seines war das letzte, zu dem die Rettungskräfte vordrangen; er war am tiefsten unter Metall eingeklemmt und begraben.

Allein das öffentliche Interesse hat die Behörden eine Untersuchung anstrengen lassen, die sonst unterblieben wäre. Mit K.s Tod war ihr Aufklärungsinteresse erloschen. Das hielt die Medien nicht davon ab, sich einen Reim zu machen. Mehr Tatsachen brachten sie nicht heraus.

Der Lebenslauf von Stefan K. ist eingehender beschrieben worden als der bedeutenderer Persönlichkeiten. Mit mehr oder weniger Witz wurde versucht, einen Schlüssel für das Geschehen zu finden. Aber keine der vorgeschlagenen Lösungen überzeugt.

Es gibt kein benennbares Motiv für die Amokfahrt. Kein Ereignis scheint als Auslöser in Frage zu kommen. Vielleicht gibt es eines, das nur K. selbst hätte angeben können.

Gewiss ist nur, dass ein Mann in seiner Lage und mit seinen Möglichkeiten stets die geeignete Waffe zur Hand hatte. Mit dem Messer aus seiner Küche hätte er nicht annähernd so viel Schaden angerichtet, bis ihm Passanten oder die Polizei in den Arm hätten fallen können. Eine Schusswaffe wäre zu beschaffen gewesen – aber für einen Normalbürger wie K. extrem schwierig. Medienpsychologen waren der Ansicht, dass K. an dieser Hürde gescheitert wäre. Sie gehen davon aus, dass die Verfügbarkeit des Autos als Waffe im Verein mit der geringen Anstrengung, die ihr Einsatz erfordert, K. zu seiner Tat befähigt haben. Sie halten sein Potential an Wut oder irgendeiner anderen Leidenschaft für so niedrig, dass es nie etwa für eine Messerattacke ausgereicht hätte.

K. habe das Auto freilich nicht wie eine Waffe empfunden, sondern wie eine Erweiterung seines Selbst. Er war gleichsam in seinem eigenen Panzer unterwegs. Man kann solche wie ihn täglich erleben. Als rücksichtslose Auto- und Radfahrer oder Fußgänger, die andere zu erhöhter Achtsamkeit zwingen. Gemeinhin hält sich der Schaden, den sie verursachen, in ihren eigenen Grenzen. Sofern nicht rabiate Autofahrer auf Radfahrer und Fußgänger treffen oder rabiate Radfahrer auf Fußgänger, deren Rücksichtslosigkeit höchstens in Rempelei ausarten kann. Manche werten den Fall K. daher weniger als Amoktat denn als ein Triumph der Achtlosigkeit.

K.s Hund blieb übrigens verschwunden. Er muss ihn irgendwo ausgesetzt haben.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, realen Ereignissen oder Verhältnissen wäre purer Zufall.