Zu einem Geschichtsbild der „Alternative für Deutschland“

Das Material für seine Wahlkampfauftritte transportiert der Kreisverband Stade der AfD mit einem blauen Lieferwagen, dessen Hintertüren ein Bild und der Schriftzug „Direkte Demokratie!“ zieren.

Manchem Passanten mag das Bild bekannt vorkommen; den meisten besagt es nichts, und sie klärt auch nicht die darüber stehende Zeile auf: „Das Hambacher Fest am 27. Mai 1832“.

Gemeine Deutsche, zumal jene, die unbekümmert auf ihr Deutschtum stolz sein zu wollen reklamieren, kennen sich in Nationalhistorie nicht aus. Gerade die Epoche, die sie am liebsten aus dem Gedächtnis verbannen möchten, ist oft diejenige, von der sie am meisten wissen.

Ich verkehre in Stade nicht in intellektuellen Kreisen, weil es keine gibt; in meinen Kreisen konnte niemand etwas mit dem Hambacher Fest anfangen. Und obwohl ich mich im Zuge von Studien zu Georg Büchner eingehend mit der Zeitspanne befasst habe, erschließt sich auch mir nicht unmittelbar, wie sich die AfD mit dem Hambacher Fest und dieses mit „direkter Demokratie“ in Verbindung bringt.

Freiheitskampf

1832 gab es kein „Deutschland“, sondern einen Flickenteppich von Staaten. 39 bildeten den lockeren Deutschen Bund, voran Österreich und Preußen, gefolgt von Königreichen wie Hannover und Sachsen, über Großherzog- und Fürstentümer, die vergessen sind, bis zu den Freien Städten Lübeck, Hamburg, Bremen und Frankfurt am Main.

Das geknechtete Volk darbte. Wiederkehrende Hungerkatastrophen führten zu einer Massenauswanderung nach Übersee.

Ausgerechnet der Kaiser von eigenen Gnaden Napoleon Bonaparte legte mit dem in seinen früheren Besatzungsgebieten eingeführten Code Civil die Basis für bürgerliche Staatsverfassungen, auf die sich die Monarchen nach und nach einließen.

Im Schatten der Pariser Revolution vom Juli 1830 kam auch in deutschen Landen Unruhe auf, wurde aber rasch niedergeknüppelt. „Revolutionäre“ forderten an erster Stelle die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ein, für deren Ausübung sie verfolgt wurden. Gerichte wandten noch die Folter an.

Die Burschenschaften – als Speerspitze dessen, was damals unter Demokratie verstanden wurde – hatten zu dem Fest auf einem Hügel mit Burg aufgerufen, an dem vom 27. bis 30. Mai 1832 30 000 Menschen teilnahmen. Zur Antwort auf die Hambacher Rufe nach Freiheit drehte der Kopf des Deutschen Bundes, Fürst Metternich in Wien, stärker an der Repressionsschraube.

Liberale und Demokraten, wie die Hauptrichtungen hießen, wurden mundtot gemacht. Statt die analphabetischen Massen zu begeistern, gingen die Freischärler in den Untergrund.

Fanatismus mit Messer

Viel weiß man nicht. Die Geheimgesellschaften blieben okkult. „So verwunderlich es scheint“, heißt es in einer neueren Abhandlung, „die Forschung hat den damals gehäuft europaweit auftretenden Terrorismus der politischen Gesinnungstat bisher nicht einmal ansatzweise als zusammenhängendes Phänomen ernst genommen. Es existiert keine Geschichte der europäischen Attentate und der Wahrnehmung der gezielt angegriffenen Dynastien.“

Allein durch ein Attentat wird dieser Aspekt der deutschen Demokratiegeschichte illustriert. Ihm war das Vorbild für das Hambacher Fest vorausgegangen, die Feier auf der Wartburg am 18. Oktober 1817.

Luther wurde geehrt und gegen Juden gehetzt; Symbole der Militärherrschaft kamen auf Scheiterhaufen, aber auch Bücher. „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“, kommentierte Heinrich Heine 1821 diese Art Freiheitsdrang.

Carl Ludwig Sand hatte am Wartburgfest teilgenommen und sogar ein paar Sätze auf dem Podium gesprochen, die Metternich zitierte, um mit den Karlsbader Beschlüssen die eingeforderten Freiheiten noch stärker als bis dahin zu fesseln.

Das Muster erscheint vertraut: Ein junger Mann, Student, radikalisiert sich und fasst den Entschluss zum Fanal. Am 23. März 1819 stach Sand einem ebenso berühmten wie berüchtigten Schriftsteller in dessen Mannheimer Wohnung ein Messer in das Herz.

Sand trug einen Zettel bei sich: „Todesurteil an dem Verräter August von Kotzebue, vollzogen nach den Beschlüssen der Universität Jena“. Die Universität hatte nichts beschlossen, so wenig wie die dort ansässige Ur-Burschenschaft.

Metternich frohlockte: Was sind das für Liberale, die das Prinzip der Pressefreiheit durch den Mord an einem Schriftsteller verteidigen! Sand wurde hingerichtet, als blondgelockter Jüngling zum Märtyrer und Freiheitshelden verkitscht und fand Nachahmer, die mit Messer oder Dolch auf Zelebritäten los gingen.

Unterdrückte Wahrheit

Das Fanal der Meinungsfreiheit jener Epoche, die von der AfD in Stade auf ihrem blauen Auto beschworen wird, fällt aus heutiger Sicht in den Sommer 1834, als der Hessische Landbote unter konspirativen Bedingungen geschrieben, gedruckt und verteilt wurde.

Einer der Verschwörer verriet das Unternehmen. Dessen Kopf, Friedrich Ludwig Weidig, wurde verhaftet und starb unter den Haftbedingungen und der Folter mit dem Ochsenziemer. Der Co-Autor konnte fliehen und starb im Exil. Nach diesem seinerzeitigen „Hochverräter“ und „Staatsfeind“ sind heute hunderte Schulen in Deutschland benannt, und seine Stücke gehören zum Standardrepertoire der Theater.

Den Landboten könnte mithin jeder kennen. „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ steht da zwar, aber das Gefährliche dieser Kampfschrift waren nicht Revolutionsrufe oder die Bibel-Auslegungen des Pfarrers Weidig, sondern die Informationen über Staatsfinanzen und Verwaltungsvorgänge: der, wie es heute hieße, journalistische Anteil des Textes.

Er unterscheidet ihn von anderen zeitgenössischen Pamphleten mit eben solchen biblischen Verwünschungen und Klagen über die Willkür der Herrschenden. Diese fürchteten Meinungsäußerungen wie Hassposts weniger als Mitteilungen von Tatsachen, die sie verschweigen wollten: die Wahrheit.

Der Landbote war ein Flop. Das Gros der Auflage wurde beschlagnahmt. Die Botschaft blieb ungehört.

Traditionslinien

Was will die AfD damit zu tun haben? Stellt in ihrem historischen Vergleichsbild Angela Merkel den Fürsten Metternich dar? Versammlungs- und Pressefreiheit sind gegenwärtig gegeben; bisweilen werden sie bedroht, aber sie müssen nicht erkämpft werden.

Von „Demokratie“ redete oder schrieb im Vormärz niemand auch nur annähernd so wie es heute verstanden wird – allenfalls die von Marx verachteten Sozialutopisten machten sich davon Vorstellungen, die an die politische Gegenwart anschließbar wären.

Eine Rückbesinnung um mehr als 180 Jahre, auf die Epoche der Entstehung der Demokratie, ist intellektuell gewiss fruchtbar – weshalb ich sie selbst vorgenommen habe, als ich mir Büchners Schicksalsjahr 1834 vergegenwärtigte. Aber dann sollte man seine Lektion auch lernen.

Wenn die AfD meint, eine Neuauflage des Hambacher Fests sei angesagt, diesmal unter dem Motto „Direkte Demokratie“, hat sie nichts verstanden von dem, worauf sie sich als „Tradition“ beruft.

Wie ihre Neuauflage des Hessischen Landboten aussieht, weiß man. Sie haben keine der Mühen zu bewältigen und Fährnisse zu bestehen wie Büchner, Weidig, Becker, Minnigerode, Schütz, Zeuner und andere, keine Festungshaft und keine Todesstrafe zu befürchten. Vielmehr werden die Petrys, Gaulands und Weidels in öffentlich-rechtliche Sendeanstalten eingeladen und dürfen jeden Ort ihrer Wahl besetzen, um ihre Botschaft unters Volk zu bringen.

Ihr Landbote enthält Hasspredigten und Anklagen zuhauf gegen die Fürsten – aber nicht ein Wort der Wahrheit, die denen wirklich gefährlich werden könnte.

Vergleichslast

„Demokratie und Nationalbewusstsein“, heißt es in einer AfD-Publikation zum Hambacher Fest (die im Internet frei zugänglich ist), „gingen dabei nicht nur selbstverständlich Hand in Hand, sondern bedingten sich gegenseitig: erst der revolutionäre Gedanke, die Nation nicht mehr über ein Herrscherhaus, sondern über das Volk zu definieren, ermöglichte im nächsten Schritt die Forderung nach Volksherrschaft, d. h. Demokratie.“

Den Nationalgedanken mit dem Ursprung der Demokratie in Deutschland zu verbinden, hat seine Berechtigung, aber nichts mit dem Hambacher Fest zu tun. Es war „europäisch“, mit wesentlichen französischen, polnischen und griechischen Impulsen.

Und wären Demokratie und Nation in Deutschland noch so eng verbunden – sollte diese Tradition umso weniger fortgeführt werden. Am wenigsten von den geschichtsvergessenen Gestalten, die ich unlängst in Buxtehude beobachtete. Das später fürchterliche deutsche Nationalbewusstsein hat vor allem preußische Wurzeln und spielte in Hambach jedenfalls noch keine Rolle.

„Demagoge“ wurde 1832 genannt, wer Freiheitsrechte forderte. Demagogen sind heute Leute, die Einschränkungen behaupten und anprangern, die nicht bestehen und darob die Staatsverfassung in Frage stellen.

1832 sprachen Demagogen Wahrheiten über die Herrschaftsverhältnisse aus. 2017 möchten sich die Demagogen der AfD mit Lügen über die Herrschaft die Macht erschleichen. Das verbindet sie mit den Demagogen von 1932.

1832 gab es Staatsterror. Sollte es den nach Ansicht der AfD heute ebenso geben – höre ich mit dem Vergleichen auf, bevor die Attentate an die Reihe kommen müssten.

© Uwe Ruprecht