Zu den Vorwürfen gegen einen Mainzer Abgeordneten
Joachim Paul ist Vize-Fraktionsvorsitzender der AfD im rheinland-pfälzischen Landtag und Aspirant auf den Vorsitz des Landesverbandes seiner Partei. Mehrere Medien berichten, dass er im Verdacht steht, unter dem Pseudonym »Karl Ludwig Sand« für ein der NPD nahestehendes Magazin geschrieben zu haben. Paul bestreitet das.
Zum Pseudonym schreibt die → taz: »Sand war ein radikaler deutscher Burschenschaftler, der 1819 den liberalen Dichter August von Kotzebue ermordete.« Darin steckt eine schiefe Analogie: so wie damals greift einer der gegenwärtig als »rechts« angesehenen Burschenschaftler wie Paul heute die liberale Demokratie an.
Indes sind die historischen Verhältnisse nicht gar so eindeutig. Die Burschenschaften waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugleich ein Hort des antisemitischen Nationalismus, aus dem sich der Nationalsozialismus entwickelte, wie Vorreiter des Rechtsstaats. Sie waren Mitbereiter des Wegs in die Frankfurter Paulskirche.
Die Flugschrift, die als Fanal der Meinungs- und Pressefreiheit heute auf dem Stundenplan der nach Georg Büchner benannten Schulen steht, der Hessische Landbote, ist das Produkt einer Verschwörung unter Burschenschaftlern der Universität Gießen.
Wer eine Revolution der feudalen Verhältnisse anstrebte, musste aus deutschen Landen fliehen. Georg Büchner starb im Zürcher Exil. Andere seiner heute vergessenen Bundesbrüder wanderten nach Übersee aus und nahmen wie viele deutsche Aufrührer auf Seiten der Nordstaaten am US-Bürgerkrieg Teil.
Der Schriftsteller Kotzebue wiederum war kein Freiheitsheld und hätte ohne seine Ermordung keine Fußnote in der politischen Geschichte Deutschlands. Sands Wahl fiel nicht zuletzt deswegen auf ihn, weil er erreichbar und vollkommen ungeschützt war.
Brisant an der Wahl Sands als Pseudonym ist vielmehr, dass dessen Messerangriff auf den Dichter und Dramatiker in seiner Mannheimer Wohnung als das erste politische Attentat in dem Gebiet gilt, aus dem das heutige Deutschland werden würde. Sand verkörperte bereits den Typus, der dieser Tage in Kassel und Halle wieder begegnet. Er wurde schon vor seiner Hinrichtung als blonder engelsgleicher Jüngling idealisiert und fand glühende Bewunderer und Nachahmer. Freilich nicht unter den Burschen um Büchner.
Sands Attentat war politisch kontraproduktiv und verzögerte die Liberalisierung, die es scheinbar beschleunigen sollte. In seinem Bekennerschreiben gab sich Sand als Beauftragter der Burschenschaft in Jena aus. Die Herrschenden glaubten gern, was falsch war. (→ Büchners Kopf)
Auffällig ist, dass die AfD in ihrem Selbstverständnis die NS-Zeit weit überspringt und an die Epoche anschließt, in der sowohl die bürgerliche Demokratie wie das Nationalbewusstsein entstehen. Sie betreten damit ein Feld, das im Verständnis der breiten Öffentlichkeit fast nicht vorhanden ist und kaum an Gedenktagen in Erinnerung gerufen wird.
Alexander Gaulands Wort vom »Vogelschiss« der Geschichte, den die NS-Zeit darstelle, spricht gegen eine verbreitete Wahrnehmung an. Über die zwölf Jahre unter Hitler scheint alle Welt bestens und bis zum Überdruss orientiert. Der Rest dessen, was als deutsche Geschichte gelten kann, ist verschwommen bis schwarz.
Karl den Große oder Friedrich Barbarossa sind zwar bekannt – aber zur deutschen Geschichte im Sinne des 20. Jahrhunderts, als Nationalstaat, gehören sie nicht. Die fängt mit den Napeoleonischen Freiheitskriegen an, als die Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold entstanden durch die Uniform derer, die als Deutsche gegen die Franzosen ins Feld zogen.
Mit dem Rekurs auf das Hambacher Fest etwa (→ Das Auto der AfD) stößt die AfD in eine Lücke, in der sie ziemlich ungestört Punkte machen kann, weil sämtliche anderen Parteien auf historische Bezüge verzichten. Selbst die SPD mit der längsten eigenen Geschichte bringt diese kaum einmal zu Gedenktagen in den politischen Diskurs ein. »Nie wieder Faschismus!« ist die einzige Referenz, zu der sich die »Altparteien« verstehen. Zur Geschichte der bürgerlichen Demokratie in Deutschland bezieht allein die AfD Stellung: indem sie sich offensiv damit identifiziert.
■
Im Fall des Abgeordneten Paul gibt es einen deutlicheren Hinweis auf seine Anschauungen als möglicherweise unter einem zwielichtigen Pseudonym verfasste Texte im NPD-Umfeld: das Thema seiner abgebrochenen Doktorarbeit. »Die Bedeutung der Untersuchung der frühneuzeitlichen Hexenprozesse im Ahnenerbe und dessen personelle Verflechtungen« klingt nur wie eine seriöse Forschungsarbeit, und der Professor, der die weitere Betreuung schließlich ablehnte, hätte auch zu beantworten, warum er sie überhaupt akzeptierte.
Heinrich Himmler hatte das »Ahnenerbe« 1935 als Verein gegründet, später aber als eigene Abteilung in seinen Organisationsstab eingegliedert und ihm bis zum Ende besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das »Ahnenerbe« war das fünfte Glied des SS-Apparates neben Allgemeiner SS, Waffen-SS, Polizei und Sicherheitsdienst, die Kultursektion der Schwarzen Schergen.
1974 legte der Kanadier Michael H. Kater die erste und bis heute uneingeholte Untersuchung des »Ahnenerbe« vor, die nachwies, wie Himmlers Gehilfen ihre Wissenschaften korrumpierten, Fachgebiete erfanden und oft genug Wunschträume als Forschung ausgaben – um letztendlich wie von ihnen angestrebt, beim Massenmordbetrieb wenigstens ideologisch zu Diensten sein zu können. Einige tauchten bei ihren akademischen Bestrebungen schließlich auch die Hände in Blut. (→ Der letzte Mordbefehl)
»Himmlers Hexenkarthotek« ist längst wissenschaftlich ausgewertet. Was kann einen Romanistik-Professor, der selbst über Spanien und Lateinamerika geforscht hat, dazu bewogen haben, eine Dissertation dazu anzunehmen?
Was das »Ahnenerbe« auf Himmlers Befehl unternahm, ist weitestgehend wissenschaftlich wertlos. Die »Bedeutung der Untersuchung[en] […] und dessen personelle[r] Verflechtungen« läge heute allenfalls noch auf historischer und dabei genauer auf sozialpsychologischer Ebene. Indes wäre es müßig und würde den Personen mehr Gewicht verleihen, als ihnen zukommt, ihre Motive als Himmlers Gefolgsleute noch näher zu betrachten, als Michael Kater und andere es bereits getan haben.
Allein die Einordnung des Themas unter Romanistik ist absurd. Außerdem hätte der Doktorvater von Anfang an wissen können, was er erst im Lauf der Zeit bemerkt haben will: dass sein Schützling sich auf ein Sujet verlegt hatte, das mitten ins Herz des Neonazismus zielt.
»No Inquisition« steht auf einem in der Szene verbreiteten T-Shirt. Ein Neonazi, der einen Laden betrieb, in dem derartige Accessoires verkauft wurden, verteidigte sich 2011 in einem Prozess wegen Landfriedensbruch mit einer Berufung auf die Hexenprozesse. (→ Das Nest in der Nordheide)
Himmlers privater Hauptfeind waren weniger die Juden als die Katholiken im Speziellen und das Christentum an sich. Die Verfolgung der Hexen durch die Kirche war ihm ein Beleg für deren Verkommenheit. Er sah Parallelen zwischen der Ächtung der Nationalsozialisten nach dem Putschversuch von 1923 und dem Hexenwahn. Indem er das »Ahnenerbe« dazu in Marsch setzte, sollte es die Hexen als weise Heilerinnen in sein neugermanisches Weltbild einfügen.
Neuheidentum? Davon hatte der Romanistik-Professor vermutlich so wenig gehört wie die Mehrheit der Bevölkerung, die nun mit AfD-Enthüllungen beliefert wird, in denen die Religion, die Himmler vor allem mithilfe des »Ahnenerbes« stiftete, gar nicht vorkommt. (→ Neudeutsche Theologie)
Da gäbe es noch allerhand zu forschen, aber eher von Soziologen und Politologen, die dazu derzeit fast nichts zu sagen haben. Mit der Wahl seines Themas hatte Joachim Paul jedenfalls klar gemacht, dass er seine wissenschaftliche Berufung darin sah, die Arbeit von Himmlers Gehilfen im »Ahnenerbe« gewiss nicht kritisch zu würdigen, sondern fortzusetzen.
Eigentlich schade, dass die Dissertation nicht beendet wurde. In Anbetracht dessen, dass die AfD sich mit dem Hambacher Fest und Joachim Paul selbst vielleicht mit Karl Ludwig Sand in Schattenzonen des kollektiven Gedächtnisses einrichtet, hätte der Text eines Landtagsabgeordneten über das »Ahnenerbe« ein unmissverständliches Schlaglicht auf das geworfen, wofür die Partei steht. Gegenüber allen, die so viel vom Thema wissen wie der Doktorvater, kann die AfD so tun, als handele es sich bei den Vorwürfen gegen Paul um Verleumdungen. Tatsächlich ist der Abgrund, in den die Affäre blicken lässt, tiefer als die Presseveröffentlichungen zeigen.
1 Pingback