ÜBERSICHT Braune Bande. Neonazis in Niederdeutschland

Aus der Geschichte des Neonazismus in Hamburg und Niedersachsen

Das Attentat von Stephan K. im S-Bahnhof Veddel in Hamburg vom Dezember 2017 (Natülich kein Neonazi) hat an das Verbrechen erinnert, das er ein Vierteljahrhundert zuvor verübte. Der Tod von Gustav Schneeclaus in Buxtehude im März 1992 ist Teil eines Komplexes, der Ausschnitt eines größeren ist. Die Vorgeschichte und die Nachwirkungen, die vor allem die Laufbahn des Mittäters Stefan S. in Tostedt betreffen, werden hier dokumentiert.

Teil 1Landfriedensbruch — 24. Mai 2010 | Straftheater — 5. August 2011 | Kreuzungen im Netz — 20. August 2011 | Schandmale — 5. August 2011 | Blut am Busbahnhof — 18. März 1992

Teil 2Der Professor und der Skin — Februar 1992 | Bandenbildung — 1994 | Bürgergesellschaft — 1991/93 | Gespenstergeschichten — Juli/Dezember 1985 | Sündenböcke im Spiegel — 18. März 2012

Teil 3Befreite Zone — 1973–2012 | Fememorde — 2. Februar 1987 | Nachwuchsförderung — 1995–2011

Teil 4Bewährte Weisen — 1998/99 | Straßenshow — 2000 | Straßenschmuck — 2005–11 | »Klima der Bedrohung« — 23. Mai 2010 | Glaubensfreiheit — 2011/13

Braune Bande (Zeichnung: urian)

Bewährte Weisen — 1998/99

Was die Skins auf der mit staatlichen Mitteln unter den Augen der Sozialarbeiter erstellten Homepage in die Welt setzten, ist nicht überliefert, aber was sie in der Postille Hamburger Sturm schrieben: »Wir sind ein ansehnlicher Mob von 30 national gesinnten Mitstreitern und haben es auf norddeutscher Ebene zu unermesslichem Ruhm gebracht […] Zum Zeitvertreib geißeln wir linke Aushilfsterroristen durch den Ort«.

Der Titel des Blatts verweist auf eine Nachfolgegruppe der Hansa-Bande, die 2000 verboten wurde. An selber Stelle gaben 1999 »national-revolutionäre Zellen« ein »Interview aus dem Untergrund«: »Wir sind eine Gruppe von mehreren Personen, die in der NPD politisch tätig sind, aber mit dem NPD-Führungsstil unzufrieden geworden sind. Auch hat der Staat sein Übriges getan für unseren neuen Weg, den wir jetzt eingeschlagen haben. Unser Weg ist der aus dem Untergrund handelnde Aktivist. […] Man darf einfach nicht vergessen, dass wir im Krieg sind mit diesem System, und da gehen nun mal einige Bullen und sonstige Feinde drauf.«

Die Ansagen des Verfassungsschutzes missachtend hielten Sozialarbeiter, Polizei und der zuständige Staatsanwalt die Tostedter Bande für »Radaubrüder« und »Jugendliche, die nichts mit sich anzufangen wissen«. Das entsprach der »Stader Linie« der Staatsanwaltschaft im Umgang mit Neonazis, soweit man sie überhaupt wahrnahm, als Jugendliche. Rechtlich gesehen konnten das 21-Jährige sein; in Tostedt wurden noch Ältere »betreut«.

Neonazis kannte die Staatsanwaltschaft überhaupt nicht, nur »Rabauken« und »Rowdys«. Der damals verantwortliche Staatsanwalt gehörte zu einer Juristenrunde, die sich allmorgendlich zum zweiten Frühstück in einem Café in der Inneren Stadt traf. Selbstverständlich nur Zufall, dass mit am Tisch ein Rechtsanwalt saß, der niedersächsischer Landesvorsitzender und Bundestagskandidat, Stadtrats- und Kreistagsabgeordneter der NPD war und als Verteidiger der Hansa-Bande gewirkt hatte. (→ Sanners Schelmenroman)

Die »akzeptierende Jugendarbeit« gab den Skins, wonach sie begehrten, damit sie sich halbwegs anständig betrugen und nicht durch Schläge weitere Schlagzeilen produzierten, die den Ort in Verruf brächten. Die Rechnung ging nicht auf. Die jüngsten Berichte über sie beantworteten die Skins damit, sie hätten die Verletzung ihrer Opfer nicht gewollt, aber: »Auch künftig wird man in Tostedt mit dem Schlimmsten rechnen müssen.«

Auf die unverhohlene Drohung reagierte die Politik auf »bewährte« Weise: »Damit sie sich nicht mehr beweisen müssen, und um sie aufgrund von psychophysischer Stärke schließlich zum Sanft-Mut zu befähigen« wurde der nationalsozialistische Nachwuchs künftig auf Staatskosten in Karate ausgebildet: »Kampfkunst als Therapie«.

In Tostedt wie anderswo beruhigten sich die Gemüter damit, dass es sich um Jugendliche handelt, deren Gesinnung sich herauswüchse. Neonazismus als Jugendirresein. Und man spekulierte auf interne Konflikte. Angeblich gab es einen Machtkampf zwischen einem langjährigen Anführer, der seine Tostedter Kameradschaft mit dem Aktionsbüro Norddeutschland und Blood & Honour vernetzte, und einigen Jungspunden. Falls es so war, weiß man inzwischen, wie es ausgegangen ist. »Stefan S.«, wie er damals noch in der Presse hieß, hat das Ruder übernommen.

Nicht die Politik hat schließlich ein Einsehen, sondern die Skins selbst beendeten die Betreuung. Sie fanden, »dass eine dauerhafte Arbeit mit national denkenden Jugendlichen in Tostedt nicht gewollt beziehungsweise gefördert wird« und kündigten an, »wieder mit altbewährten Mitteln unsere Interessen in die Gesellschaft einbringen«. Gewalt sei unter diesen »altbewährten Mitteln« natürlich nicht zu verstehen, meinte die Polizei. Ein Sozialpädagoge glaubte, sie würden »ihre politische Arbeit im Untergrund forcieren«. Doch sie gingen nicht in den Untergrund, sondern auf die Straße.

Straßenshow — 2000

Die Jugendlichen wurden erwachsen, und neue Jugendliche wuchsen nach. Anfang April 2000 wurde eine Demonstration der NPD noch von einem »massiven Polizeiaufgebot« verhindert. Die Genehmigung eines Aufmarsches zu Ostern wurde vor dem Oberverwaltungsgericht erstritten, und die Polizei schützte die 100 Neonazis, die »Deutschland den Deutschen« und »Ausländer raus« riefen, gegen alle, die ihnen entgegen treten wollten.

Vorne weg marschierte einer aus der Hansa-Bande, Christian Worch. Er führte auch die rund 250 Teilnehmer der von den Jungen Nationaldemokraten angemeldeten Demonstration im August. Förmlicher Anlass war die Auflösung eines Konzerts im Juli in Holvede unweit von Hollenstedt, wo einer der Organisatoren gewohnt hatte: Stefan S.

»Die Politiker sprechen immer noch von Jugendbanden, obwohl viele Skinheads inzwischen älter als 25 Jahre sind«, wunderte sich eine Zeitung. S. war 26, Worch sogar 44 – aber der war ja auch nicht von hier, sondern aus Hamburg. »Für unser Image ist das verheerend«, kommentierte der Leiter des Tostedter Ordnungsamtes den Aufmarsch. »Jeder denkt jetzt, wir wären eine Nazi-Hochburg. Dabei stammen die wenigsten Demonstranten aus Tostedt selber.«

Verantwortlich waren andere: die Gerichte, die zugunsten der NPD entschieden, und die große Politik, die die Partei nicht verbot. Wie schon im April schikanierte die Polizei die 100 Gegendemonstranten. Die Neonazis zogen derweil gesittet und geordnet durch die Straßen und boten eine »perfekte Medien-Show«.

Christian Worch genoss es, im Blickpunkt von Fernsehkameras zu stehen, und war um keine Antwort verlegen. Angesprochen auf seine insgesamt knapp vier Jahre Strafhaft, verglich er sich mit Nelson Mandela: »Jeder gute Oppositionspolitiker sollte einmal im Gefängnis gesessen haben.«

Im nächsten Monat zog ein »Wandermahnmal« durch Tostedt. Auf einem schwarzen Holz-Obelisk wurden 120 »Opfer des Neofaschismus« aufgezählt. Das jüngste Datum war der 26. Juli, als an einem S-Bahnhof in Düsseldorf zehn jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion durch eine Bombe verletzt wurden – ein damals und lange noch ungeklärtes Attentat, zufällig richtig zugeordnet als Tat aus dem NS-Untergrund. Die Liste begann 1997.

»40 Daten, 40 Schicksale und 40 Gründe, auf die Straße zu gehen und ein Zeichen zu setzen gegen die rechte Gewalt«, schrieb eine Zeitung und ließ ebenfalls den besten Grund aus. Der »Neonazi von nebenan«, als der er 12 Jahre später porträtiert wurde, blieb für die Bluttat von Buxtehude 1992 ungemahnt. (→ Teil 1)

Pressespiegel Tostedt
Pressespiegel Tostedt

Straßenschmuck — 2005–11

Ab 2005 betrieb Stefan S. Streetwear. Im Sortiment des Ladens vor allem Musik, der wichtigste Kitt der Braunen Bande: Höllenfahrtskommando, das neueste Album von »Lunikoff«, dem Sänger der 2003 als »krimineller Vereinigung« verbotenen Band Landser. Für Michael Regener, benannt nach einer DDR-Wodka-Marke, kamen drei Jahre und vier Monate Haft heraus für seine Texte: »Wir sind die Bomben in diesem Käfig voller Narren / Terroristen mit E-Gitarren«.

Und immer wieder ganz alte Töne. Die Skins von Buxtehude sangen 1992: »Wetzt die langen Messer auf dem Bürgersteig, / lasst die Messer flutschen in den Judenleib. / Blut muss fließen knüppelhageldick. / Und wir scheißen auf die Freiheit dieser Judenrepublik«. 1978 hatte die Hansa-Bande gejohlt: »Lasst die Fahrtenmesser blitzen und die Sozischweine flitzen« und »Wir scheißen auf die Freiheit der Bundesrepublik«. Das Judenblut, das vom Messer spritzt, bejubelte schon die Sturmabteilung der NSDAP, wenn sie in die Saalschlacht zog.

Auch sie hatte plagiiert: »Schmiert die Guillotine ein mit Fürstenfett. / Blut muss fließen knüppeldick. / Vivat hoch die freie deutsche Republik!« So ging eines der vielen Lieder, die Friedrich Hecker ehren, der in Baden die demokratische Revolution anführte und 1848 in die Schweiz entkam: »Er hängt an keinen Baum, / er hängt an keinem Strick, / sondern an dem Traum / der deutschen Republik.«

Weiter im Sortiment: Kleidung von Thor Steinar. Die Aufdrucke verweisen leicht verschlüsselt auf das Dritte Reich. »No Inquisition« prangt auf einem Kapuzenpullover und spielt auf die religiöse Verfolgung an, der sich die Szene ausgesetzt sieht. Das Emblem des Adlers, der einen Fisch in den Fängen hält, hatte sich Jürgen Rieger für die Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesengemäßer Lebensgestaltung schützen lassen: der Fisch, das Symbol für Jesus, als Beute des Neuheiden im »rassenbedingten, antichristlichen Kampf«.

Außerdem im Angebot: Pfefferspray und Handschuhe, die für wuchtigere Schläge mit Quarzsand gefüllt sind. S.s Laden ist »als Neonazi-Kristallisationspunkt in ganz Norddeutschland bekannt«.

Christian Worch meinte Männer wie den Gewalttäter, Gang-Leader und Geschäftsmann Stefan S., als er die »neuen Helden für Deutschland« pries, eine »neue Generation von Kämpfern«. Sie denken sich in einen Widerstandskampf gegen das »System«, auch oder gerade in Tostedt, wo es sich nachgiebig zeigte. Nach dem Totschlag von Buxtehude hatte S. 1999, 2001 und 2005 weitere Justizkontakte: Verwendung verbotener Kennzeichen, Volksverhetzung, unerlaubter Waffenbesitz und Widerstand gegen die Staatsgewalt.

Er arbeitete als Saalschützer. Im Zusammenhang damit wurde er in Flensburg wegen Körperverletzung zu 15 Monaten Haft auf Bewährung bis 2004 verurteilt, die er einhielt. Im folgenden Jahr war er beim Prozess gegen Combat 18 Pinneberg mitangeklagt, wurde aber freigesprochen. Im Oktober 2003 war die Polizei in Schleswig-Holstein gegen die Gruppe vorgegangen, fand bei Durchsuchungen Waffen, Anleitungen zur Herstellung von Sprengsätzen und Dossiers über »Feinde der nationalen Bewegung«.

Seit dem Verbot von Blood & Honour gab es reichlich Hinweise auf Aktivitäten von C 18 in Norddeutschland: wie die Morddrohungen gegen einen Gewerkschaftsfunktionär in Elmshorn, die mit einem Transparent an einer Autobahnbrücke verkündet wurden. Über einen ehemaligen Landesvorsitzenden stand die Pinneberger Gruppe in Kontakt zur NPD, war eng verbandelt mit einer althergebrachten Anlaufstelle, dem Club 88 – The very last resort in Neumünster, und mit dem Aktionsbüro Norddeutschland, an das auch die Tostedter angeschlossen waren.

Uwe Ruprecht in Elmshorn (Foto: unbekannt)
Der Autor auf einer Demonstration in Elmshorn Juli 2001

Stefan S. schützte Konzerte und Veranstaltungen nicht nur, er organisierte sie auch, mal mit mehr, mal weniger Polizeibeobachtung, Verbotsverfügungen, Gerichtsentscheiden und Medienecho. 2005 feierten in Tostedt 100 Banditen und Freunde unter Polizeischutz in einer Gaststätte. Das vierjährige Bestehen von Streetwear beging S. im November 2009 mit einem Konzert in Königsmoor.

Für seine jüngeren Kameraden ist er, in den Worten des Staatsschutzes, ein »Übervater«. Seine Straftaten erhöhen im Kameradenkreis seinen Nimbus und schüchtern alle anderen ein. »Wir müssen aufpassen, dass er hier nicht eines Tages für den Samtgemeinderat kandidiert«, warnte ein Tostedter Lehrer, und eine Zeitung fragte: »Sitzt S. bald im Elternrat?« In einer Schulzeitung konnte er für seinen Laden bereits werben, bis es Auswärtigen auffiel.

Das Krafttraining absolviert er lange nicht mehr im Jugendzentrum, sondern zwei Mal die Woche beim Todtglüsinger Sportverein. »Der Mann hat sich in seiner langjährigen Mitgliedschaft nie vereinsschädigend verhalten. Uns sind die Hände gebunden«, heißt es aus dem Vorstand. »Wenn wir ihn hinauswerfen, kann er vor Gericht ziehen«, sagt der Vorsitzende. Nicht, dass er daran denkt, den Vereinsgenossen zu verstoßen. »Nach unseren Erkenntnissen«, so ein Ratsherr der Linkspartei, »spricht S. beim Krafttraining in dem Verein gezielt Leute an, um sie für seine Sache zu gewinnen.«

Wenigstens einer seiner Fitnesskameraden, ein 33-jähriger Versicherungskaufmann aus Handeloh, war am Landfriedensbruch vom Pfingstmontag 2010 beteiligt und wurde mit einem Strafbefehl bedacht. »Ich kam da zufällig vorbei«, sagte er als Zeuge vor Gericht; ein Polizist nahm ihn als »Wortführer« wahr.

»Klima der Bedrohung« — 23. Mai 2010

In der »befreiten Zone« müssen vor allem »Linke« sich vorsehen. Wiederholt wurde ein Haus in Wistedt attackiert, wo die Braune Bande eine »Zecken-Wohngemeinschaft« ortete. Auch auf die Tostedter Polizeistation flogen Steine. Und nicht nur vor der eigenen Haustür wurde gegen Feinde vorgerückt – wie im Oktober 2009 bei einem Angriff auf das Jugendzentrum in Delmenhorst. (→ Unsterbliche)

Am 23. Februar 2010 paradierten 30 Neonazis mit Fackeln am Jugendzentrum in Tostedt vorbei und rühmten Horst Wessel. Der SA-Mann aus Berlin-Friedrichshain war 1930 von seiner Bekanntschaft aus dem Rotlicht-Milieu erschossen worden. Joseph Goebbels, Gauleiter der Reichshauptstadt, stilisierte ihn zum Opfer von »Rotmordbanditen« und zum Märtyrer. Das Wessel-Lied wurde Parteihymne: »Die Fahne hoch! / Die Reihen dicht geschlossen!«

Schließlich überfielen 15 Neonazis das Haus in Wistedt. Zwei Schwerverletzte; ein Spaten wurde als Waffe eingesetzt; »der ganze Flur war voller Blut«, sagen die Bewohner. Vorher waren mehrfach Drohungen gebrüllt und die Fenster eingeworfen worden. Die Polizei ließ die Angreifer laufen und schrieb Anzeigen wegen Körperverletzung gegen die Angegriffenen.

Der Öffentlichkeit wurde dasselbe wie seit 20 Jahren weisgemacht: »Wir haben in Tostedt eine Rechts-Links-Problematik«. Die Opfer sind selbst Schuld, dass sie aufs Korn genommen werden. Ohne Antifa hätte Tostedt keine Sorgen. »Tostedt ist bunt. Braun ist auch eine Farbe«, ließ sich der Polizeichef des Landkreises vernehmen.

Dass Opfer zu Tätern umgedeutet werden ist gewöhnlich. Der Ehemann, der seine Frau erschlagen hat, versteht sich darauf, anschaulich zu schildern, was sie ihm zuvor angetan hat; wer betrogen wurde, hat seinen Teil dazu beigetragen; der Vergewaltiger sieht sich als Verführter. Im Politischen geht die Umkehrung ebenso leicht von der Hand. So wurden die Opfer des NSU zu Kolalateralschäden von Ausländerkriminalität.

Im Fall Wistedt wurden die Ermittlungen gänzlich eingestellt und niemand für irgendetwas zur Rechenschaft gezogen: die Bewohner nicht für das Unheil, das sie angezogen haben sollten, und die Neonazis nicht für das tatsächlich Angerichtete.

Melden sich Stimmen gegen die Braune Bande, müssen sie sich vorsehen. Als im Februar 2011 ein angesehener journalistischer Kenner über »Neonazis in der Nordheide« referieren sollte, habe die Polizei »ein Klima der Bedrohung geschürt«, beklagte sich die innenpolitische Sprecherin der Linken im niedersächsischen Landtag. Die vorgesehenen Räume standen nicht mehr zur Verfügung, nachdem die Polizei den Vermieter gewarnt hatte, es könne zu Zusammenstößen kommen.

Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, und wenn Neonazis nahen, geht man ihnen besser aus dem Weg. Die Polizei in Tostedt sieht es anscheinend nicht als ihre Pflicht, jene zu schützen, die über Neonazis aufklären. Diese ließen sich nicht einschüchtern und wichen auf die Straße aus. Der Vortrag hieß »Braune Schatten«. Sie fallen von der Bande um Stefan S. auf sein bürgerliches Umfeld.

Glaubensfreiheit — 2011/13

Ein in Verfahren um »befreite Zonen« versierter Advokat aus Leipzig vertritt S. in seiner Berufsverhandlung vor dem Landgericht Stade um den Landfriedensbruch vom Pfingstmontag 2010. Eingestellt auf ein Gericht, das über die Hintergründe des Falls im Bild ist, geht sein Plädoyer ins Leere, als es auf die gesellschaftliche Relevanz des Prozesses abhebt.

Er stellt seinen Mandanten als Verfolgten dar und weist auf die Unbeständigkeit des Rechts hin, auf dessen politische Verfügbarkeit; er nennt den Hexenhammer. Der Malleus malificarum der Inquisitoren Sprenger und Institoris von 1487 war das Handbuch der Hexenverfolgung und schuf ein Recht, das heute als Unrecht gilt. Der Anwalt reklamiert eine Art Religionsfreiheit: »No Inquisition«. Genau ein Jahr später wird in Russland die künstlerische und politische Demonstration einer Punk-Band als religiöse Beleidigung mit Lagerhaft bestraft.

Die Antifa habe Streetwear »platt machen« wollen, und die Justiz verwirkliche dieses »operative Ziel«, indem es S. ins Gefängnis schicke, appelliert der Anwalt. Überhaupt fordert er die Einstellung des Verfahrens auf Grund eines Rechtsfehlers. Für sein Verhalten am Pfingstmontag sei S. zwei Mal bestraft worden. Dafür, dass er auf der Straße die Vogelschreck-Sportwaffe inklusive Munition bei sich trug, war ein Strafbefehl über 15 Tagessätze gegen ihn ergangen – bevor ihm für den Landfriedensbruch der Prozess gemacht wurde. Der Anwalt geht von »Tateinheit« aus: der landfriedensbrecherischen Lage wegen war S. bewaffnet.

Ins Gefängnis wird der Angeklagte allerdings nicht geschickt. Das Urteil des Amtsgerichts wird aufgehoben. S. habe zwar »mit Freude die Auseinandersetzung gesucht«, befindet der Vorsitzende Richter, so schwerwiegend sei der Landfriedensbruch aber nicht gewesen, denn das Messer habe er nicht gegen die Polizisten, die Staatsmacht, sondern gegen seine linken Feinde gerichtet. Den Unterschied kennt das Gesetz nicht.

Landfriedensbruch wird definiert als »Gewalttätigkeit gegen Menschen oder Sachen oder Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden«. Ein »besonders schwerer Fall« liegt vor, wenn der Täter »eine Schusswaffe« oder »eine andere Waffe bei sich führt, um diese bei der Tat zu verwenden«.

Wen S. mit Messer und Pistole angreifen wollte, sollte keine Rolle spielen. Auch »linke« Demonstranten gelten dem Gesetz so gut als Menschen wie Polizisten.

Nach der Verurteilung durch das Amtsgericht habe S. sich »offener und kooperativer« gegenüber der Polizei verhalten und sei »auf uns zugegangen«, hatte eine Staatsschutzbeamtin ausgesagt. Das dient dem Gericht dazu, eine »positive Sozialprognose« zu erstellen. Dass S. bis zu der von ihm selbst angestrengten Berufungsverhandlung bei der Polizei den Kratzfuß machte, besagt freilich nicht viel.

Er wird zu neun Monaten verurteilt, die für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt werden. Als Bewährungsauflage soll er binnen eines Vierteljahrs sein Geschäft schließen.

Die Bedingung ist anfechtbar. Dass in seinem Laden »junge Menschen systematisch mit rechtextremen Gedankengut infiziert werden«, wie in der Zeitung steht, ist weitgehend Spekulation. S.s Bande stand als solche nie vor Gericht. Keine Akte enthält Angaben darüber, ob und welche Straftaten in dem Laden verabredet wurden.

Der Protest gegen das Geschäft samt Unruhe auf der Straße ist dem Inhaber nur bedingt zuzurechnen. Mit selbem Recht könnte die Schließung einer Diskothek oder Gaststätte verlangt werden, sobald diese häufiger zum Tatort wird und Polizeieinsätze erforderlich macht; kein Fußballspiel könnte mehr stattfinden.

Diese Karte muss S.s Anwalt gar nicht ziehen, um das Urteil anzufechten. Er moniert gegenüber dem Oberlandesgericht in Celle wiederum die »Doppelbestrafung« und erhält Recht. Das Urteil des Landgerichts wird im Dezember 2011 aufgehoben und das Verfahren mit Hinweis auf den »Strafklageverbrauch« eingestellt. Die Justiz hat einen Bock geschossen zugunsten des Braunen Banditen. Noch nie sei er über ein Urteil so enttäuscht gewesen, sagt der zuständige Oberstaatsanwalt, der im Urlaub war.

Nicht zum ersten Mal lachen Neonazis schallend über ihre Richter. In der Antifa wird geargwöhnt, S. sei ein »Vertrauensmann« der Behörden und deshalb straflos davongekommen. Das »System« scheint ihn zu unterstützen. Die Parteien im Tostedter Rat, Kirchen, Vereine und Verbände bekunden »Fassungslosigkeit und Empörung«. Im Februar 2012 demonstrieren sie zum wiederholten Male gegen die Geister, die sie riefen und nicht loswerden.

S. ist ein achtbarer Mann, dem im Januar 2013 von der Presse attestiert wird, er sei »auf dem Weg vom Saulus zum Paulus«. Ihm wird eine Wandlung zugute gehalten, ohne dass er je mehr zum Tod von Gustav Schneeclaus gesagt hätte als: »und dann ist das mit der damaligen Straftat passiert«. In dem Artikel, der ihn lobt, kommt die Tat vom Busbahnhof gar nicht vor.

Zum 1. Februar schließt S. seinen Laden aus unerklärten Gründen, und schon wird der Neonazismus in Tostedt als erledigt ausgerufen. »Solange ich persönlich angegriffen werde oder meine Familie, werde ich mich weiter verteidigen«, wird S. zitiert. Das ist sein gutes Recht. »Er räumt aber ein, in der Situation übers Ziel hinaus geschossen zu haben.«

Geschossen hat er nicht am Pfingstmontag. Er hat ein Messer gezogen. Und selbst wenn er es hätte stecken lassen, hätte er Landfriedensbruch begangen, wenngleich keinen »schweren«. Die Justiz hat ihn laufen lassen, und in der Presse und im Internet werden ihm Entschuldigungen hinterher geworfen. Bei Neonazis ist man schnell mit der Verzeihung bei der Hand. Sie brauchen nicht einmal darum zu bitten.

Quellen und Literatur

Bewährte WeisenHamburger Abendblatt 2./3.5.1998 | T. Grumke / B. Wagner (Hg.): Handbuch Rechtsradikalismus, Opladen 2002 | Stader Tageblatt 24.2.1998 | Kreiszeitung Wochenblatt 8.7.1998 | »Tostedter Skinheads kündigen altbewährte Mittel an«, »Skinheads kündigen Zusammenarbeit mit Reso-Fabrik auf«: Hamburger Abendblatt [Privatarchiv, o. D., 1998/99; nicht im Online-Archiv des Abendblatt]

StraßenshowHamburger Abendblatt 9.8.2000,12.3.2012 | Kreiszeitung Wochenblatt 12.8., 6.9.2000

Straßenschmuck — A. Röpke / A. Speit (Hg.): Braune Kameradschaften, Berlin 2004 | A. Speit: Mythos Kameradschaft, Braunschweig 2005 | J. Pomorin / R. Junge: Die Neonazis, 6. Aufl. Dortmund 1979 | Kreiszeitung Wochenblatt 16.11.2011 | Hamburger Abendblatt 12.3.2012 | Harburger Anzeigen und Nachrichten 14.3., 15.3.2012

Klima der Bedrohungrecherche-nord.com | zeit online 15.7.2010 | Kreiszeitung Wochenblatt 19.2.2011

GlaubensfreiheitKreiszeitung Wochenblatt 2.2.2012, 12.1.2013

© Uwe Ruprecht

TEIL 1

ÜBERSICHT Braune Bande. Neonazismus in Niederdeutschland