19 Uhr ist die Hochzeit der Poltergeister. Das ist ein durch leidvolle Erfahrung gesichertes Datum. Warum es gerade diese Zeit ist, kann ich nur rätseln.
Poltergeister nenne ich die Hausbewohner, die sich nicht bewusst sind, dass sie nicht im eigenen Heim hausen. In meinem gegenwärtigen Apartment bin ich die längste Zeit verschont geblieben. Jetzt hat sich ein Poltergeist einquartiert und macht sich in meinem Leben breit.
Er stellte sich mit stundenlangem Einsatz der Schlagbohrmaschine vor. Keine Ahnung, was er in der Wohnung zu bohren hatte; dem Lärm nach ein sehr großes Loch. Beim Einzug sind handwerkliche Verrichtungen verständlich und verzeihbar. Poltergeister sind jedoch immer am Einrichten.
Inzwischen heult die Bohrmaschine nur noch gelegentlich auf. Aber etwas zu hämmern findet der Insasse der Zelle über meinem Kopf alle Tage. Zu hämmern und zu trampeln, zu schieben und zu rücken. Von Musik und Gegröl ganz zu bjschweigen.
Außerdem herrscht reger Besucherverkehr. Junge Männer, die durchs Treppenhaus rennen und die Haustür knallen lassen; Frauen, die aus ästhetischen Gründen Stöckelschuhe tragen, sich auf ihnen aber so unsicher bewegen, dass ihr Marsch über die Treppe quälend lange dauert und ich die Stufen zählen könnte, auf die sie sorgfältig mit den Absätzen einhacken, manchmal sogar zwei Mal.
Poltergeister halten sich überhaupt viel im Treppenhaus auf, wo ihre Stimmen weit hallen und sie alle, die es nicht interessiert, an ihrem Geschwätz teilhaben lassen können.
„Ich geh dann jetzt mal.“
„Hast du auch alles?“
„Ich hatte ja nichts dabei.“
„Man kann ja nie wissen.“
„Ich muss dann jetzt mal.“
„Sehen wie uns morgen?“
„Wenn ich es schaffe.“
„Komm gut nach Hause. Und du hast nichts vergessen?“
„Glaube nicht. Ich bin dann also weg.“
„Hast du das übrigens von XXX gehört?“
„Nein, was ist denn damit?“
„Aber nur kurz. Also…“
Der Poltergeist ist verwandt mit denen, die am Handy gern brüllen. Die gab es übrigens schon, als die Telefone noch Fernsprecher hießen und eine laute Stimme tatsächlich manchmal zu einer besseren Verbindung beitrug.
Es hat keinen Sinn, Poltergeister auf ihren Lärm anzusprechen. Sie verstehen den Sachverhalt nicht. Da sie selbst unablässig poltern, kennen sie die Stille nicht. Es entzieht sich ihrem Begriffsvermögen, dass ihre Lebenslaute jemanden, der zufällig mit ihnen im selben Haus wohnt, stören könnten. Sie werden nie durch Lärm gestört.
Ich müsste sie übertönen, damit sie sich selbst nicht mehr hören und merkten, wie es wäre. Aber ich verfüge weder über Bohrmaschine noch Hammer und empfange keinen Besuch von Frauen in Stöckelschuhen, die ich bitten könnte, um Mitternacht durchs Treppenhaus zu staksen.
Leben bedeutet für Poltergeister Lärm. Vermutlich haben sie seit ihrer Kindheit nicht aufgehört, Krach zu schlagen. Entweder standen sie immer bedingungslos im Mittelpunkt und konnten tun und lassen, was sie wollten in Entwicklung ihrer freien Entfaltung. Oder es hat sie damals niemand beachtet, so sehr sie auch krakeelten, und so poltern sie lebenslang herum, weil sie mit nichts außer Geräuschen Aufmerksamkeit erreichen können.
Manche Poltergeister haben ihre Ruhezeiten. Aber noch jeder, den ich kennen lernte, erlebte um 19 Uhr seinen Höhepunkt. Es geht gegen 18 Uhr los, steigert sich, entlädt sich und klingt auf 20 Uhr zu ab. Früher hätte ich vermutet, dass sie dann brav vor der Tagesschau sitzen wollen, um über das unterrichtet zu werden, was ihnen als wichtig zu gelten hat. Doch die Zeiten sind vorbei, oder?
Mein aktueller Poltergeist kennt keine Ruhe zu keiner Zeit, dennoch gibt es gegen 19 Uhr ein Crescendo. Der Biorhythmus vielleicht, den alle Poltergeister teilen?
Ich habe mal eine Weile auf Hamburg-St. Pauli über einer Kneipe gewohnt und den Segen der Wachskügelchen entdeckt, mit denen sich die Ohren verschließen lassen.
Nachtrag 6.4.
Die Nachbarn mit ihren Stöckelschuhen und Hammer-Schlaganfällen bedrohen inzwischen nicht nur meine Seelenruhe. Eben erhalte ich ein Schreiben der Hausverwaltung, „2. Abmahnung“ betitelt (von einer ersten ist mir nichts bekannt), in dem mir die fristlose Kündigung angedroht wird – wenn ich keine Ruhe gebe.
Der Sachverhalt: der Schutz des Ohropax versagte, und das Hämmern riss mich aus dem Schlaf. Ich verlor die Beherrschung, knallte ein paar Mal mit der Zimmertür (das einzige, das mir einfiel, um mich dem Behämmerten bemerkbar zu machen) und brüllte hinauf. Das Hämmern stockte, offenbar war ich gehört worden. Doch dann ging es noch eine dreiviertel Stunde weiter, und ich schwieg.
Auch die vorerst weiteren beiden Attacken am Nachmittag des nächsten und zwischen 18 und 19 Uhr des übernächsten Tages beantwortete ich, indem ich das Wachs tiefer in die Gehörgänge drückte.
Offenbar gibt es im Haus einen Denunzianten, der zwar mich, aber nicht den Hammer gehört hat und damit zur Hausverwaltung geeilt ist. Dazu könnte mir bei Gelegenheit gewiss noch mehr einfallen. Zeigen, wo der Hammer hängt, wie man so sagt.

22.6.
Um 19 Uhr war nichts, aber mein Poltergeist ist den zweiten Tag um 23.30 Uhr aktiv. Klingt, als würde er seine Wohnung umdekorieren: Sofa dichter ans Fenster, Sessel in neuem Winkel zum Bildschirm … oder besser doch den Tisch dort hinüber?
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