Der Irrglaube ist weit verbreitet, das menschliche Wissen wachse und gedeihe in einem Fort(schritt). Vielmehr muss man den Eindruck haben, jede Generation erlerne die Welt von Neuem, und was von der Mehrheit gewusst wird, ist stets meilenweit entfernt von dem, das gewusst werden könnte.
In dieser Lücke nistet die militante Ignoranz, die sich heuer gern als Verschwörungstheorie ausgibt und an Ufologen und Spiritisten die Hand zur Séance reicht.
Von Chemtrails hörte ich mit Bewusstsein erstmals 2004, als eine Dame aus ökologisch-fundamentalistischen Kreisen mich um eine Recherche im Internet bat. Mein Befund fiel eindeutig aus, und so gab ich ihn weiter: Mumpiz. Ich hatte allerhand Hirngespinste über Himmelserscheinungen gelesen und Fantasien über Wetter-und Bewusstseinsbeeinflußung, aber keine Zeile, die einem Beweis auch nur ähnlich gesehen hätte.
Die notorische Behauptung staatlicher oder freimaurerischer Unterdrückung irgendeiner Information hebt sich bei vervielfachender Publikation selbst auf. Wenn die Chemtrails eine Masche der CIA sind, dann sollen sie offenbar die Verblödung fördern.
Der Wunsch besagter Dame nach Glauben war stärker als das Bedürfnis nach Wissen, und ich hätte mir die Nachschau im Web sparen können.
Vor 13 Jahren betrafen die allermeisten Einträge so genannte Beobachtungen in den USA. Das konnte auf Dauer nicht reichen, um den Bedarf zu befriedigen, und das Wachstum des Flugverkehrs verhalf bald jederfrau dazu, sich allerorten vom Himmel verfolgt fühlen zu dürfen.
Im selben Jahr 2004 kam ich zufällig wieder auf das Thema zurück, als im Jenisch-Haus in Hamburg Wolkenbilder ausgestellt wurden und meine Liebste mir ein Buch über Luke Howard schenkte, den Entdecker der Wolken.
Tatsächlich brauchte die Menschheit ziemlich lange, um zu erkennen, dass sich die Gebilde, die täglich über ihren Köpfen hängen, wissenschaftlich erfassen lassen. Genauer: bis vor gerade einmal 215 Jahren.
1802 stellte der Chemiker Luke Howard in London das System vor, mit dem er die Wolken klassifiziert hatte. Er unterschied drei Grundformen: cirrus, die höchste und leichteste Wolke, die abgesonderte halbkugelige cumulus-Wolke und stratus, ein leichter oder dichter Nebel.

Außerdem vier Mischformen: cirro-cumulus, cirro-stratus, cumulo-stratus und cumulo-cirro-stratus oder nimbus, die Regenwolke.
Kondensstreifen von Düsenflugzeugen gab es seinerzeit lange noch nicht, aber Luke Howards Wolkenkunde ist unverändert gültig. So sieht der „Fortschritt“ also aus: die Menschheit schaut an den Himmel, erkennt nichts von dem, was sie längst wissen könnte und projiziert ihre Ängste an das Firmament wie sie zuvor die Götter erfand, um sich in der Natur zurecht zu finden.
Über Chemtrails kann man so wenig streiten wie über Allah, Jahwe oder Re. Während ich aber durchaus bereit bin, religiöse Anschauungen zu respektieren, kann mir niemand abverlangen, etwas zu glauben, über das der Gläubige gerade einmal so viel zu wissen glaubt, wie er in ein paar Posts aufgeschnappt hat. Diese Art Glauben ist unglaubwürdig.
Gott ist meine Vernunft gleichgültig; damit kann ich leben. Von den Chemtrails wird mein Verstand verhöhnt; das kann ich nicht leiden.
Nichts gegen Unwissenheit. Ignoranz hingegen ist eine Charakterschwäche: nicht einmal das zur Kenntnis nehmen, was man wissen kann, aber besser über ein beliebiges Phänomen Bescheid zu wissen vorgeben als jeder, der nur einmal mit wachem Verstand eine Beobachtung dazu gemacht hat.
Noch wurde keine Hexe für einen Chemtrail verbrannt – einen harmlosen Unglauben aber gibt es nicht. Eben stand der Jude nur am Brunnen rum, schon soll er ihn vergiftet haben.
© Uwe Ruprecht
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