Über Physiognomik, Selfies und Denunziation
Vor 250 Jahren ließen die Reichen und Mächtigen sich in Zeichnungen, Kupferstichen und Gemälden porträtieren; ebenso mancher Gelehrte, der sich sein Bildnis vielleicht nicht leisten konnte, aber mit dem Künstler befreundet war. Für alle übrigen war die Silhouette, der Scherenschnitt des Profils, eine erschwingliche Form, den eigenen Kopf abzubilden.
Im Sommer 1777 wurde Niedersachsen „von einer Raserei für Physiognomik befallen“, stellte Georg Christoph Lichtenberg in seinem Göttinger Taschen-Calender fest. Mit den Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe hatte der Schweizer Johann Caspar Lavater 1775 einen Boom ausgelöst, der ihm selbst in den Status eines Wunderheiligen versetzte. Aus ganz Europa pilgerte man zu ihm, um ihn anhand eines Scherenschnittes den Charakter und das Schicksal des Abgebildeten deuten zu lassen.
100 Jahre später kam eine eingeschränktere Irrlehre in Umlauf, die des Cesare Lombroso, der Verbrecher am Bau ihrer Schädel erkennen zu können glaubte. Bis heute ist der Glaube verbreitet, aus den eingefrorenen Gesichtszügen Schlüsse auf den Charakter oder sonstige Verhältnisse ziehen zu können.
Inzwischen ist das Selbstbildnis kein Privileg mehr und bedarf keines Porträtmalers oder -fotografen, sondern wird als Selfie von jedem allzeit hergestellt. Die Aussagekraft des Gesichts ist dadurch nicht größer geworden, aber die entsprechenden Vorurteile haben sich womöglich vervielfältigt und verfestigt.
Selfies sind natürlich nicht neu, sondern lediglich ihre massenhafte Produktion ist üblicher geworden. Als Reporter hatte ich seit Anfang der 1980er stets eine Kamera bei mir (handlich und mit einer Linsenbrennweite, die sie für Nahaufnahmen wie Porträts besonders geeignet machte), und unter meinen zahllosen Fotos sind etliche, auf denen ich meinen Kopf mit Selbstauslöser, am ausgestreckten Arm oder in einem Spiegel abgelichtet habe. Dass es diese Aufnahmen gibt, als Inszenierungen, besagt wohl etwas über mich; aber die Einzelbilder verraten nichts von dem, das Lavater oder Lombroso den Physiognomien zu entnehmen zu können behaupteten.
Freilich können Portraitfotos von kundiger Hand vielerlei besagen, tun das aber kaum je ohne ihren Kontext. Ohne den Namen des Abgebildeten zu kennen oder einen Anhaltspunkt dafür zu haben, weshalb er porträtiert wurde, ist es unmöglich, zu unterscheiden, ob der Dargestellte ein Verbrecher oder ein Dichter ist, ob das Schicksal seine Züge geprägt hat oder eine körperliche Vererbung, die sich unabhängig ist von seiner geistigen Entwicklung zur Geltung brachte.
Ich bestreite nicht, dass sich Zusammenhänge finden lassen zwischen der Physiognomie und dem Charakter. Diese sind jedoch so subtil und variabel, dass es wie Sterndeuterei oder Lavaters Silhouettenlektüre wäre, zu glauben, sie aus einer Aufnahme allein verbindlich herzustellen zu können.
Gleichwohl tun alle das ständig, indem sie etwa entscheiden, ob ein Gesicht sympathisch oder unsympathisch ist. Und wir können die Erfahrung machen, uns zu täuschen, weil die Interpretation einer Momentaufnahme, anhand derer wir geurteilt haben, bei näherer Betrachtung mehr über unsere eigenen Reflexe besagt als über die Person, über die wir Aussagen zu treffen meinen.
An einer Wand meiner Wohnung hängt der mit einem Schwarzstift bearbeitete Abzug eines vor 30 Jahren entstandenen Fotos. Es ist charakteristisch für die abgebildete Person, aber ich kann nicht annehmen, dass dies für den Betrachter erkennbar wird oder gar den Gesichtszügen zu entnehmen ist.
Das Bild ist eines von denen, die ich im Verlauf einer Reportage für eine Zeitung machte, aber obwohl es mir das bezeichnendste schien, gehörte es nicht zu denen, die gedruckt wurden. Mir waren in konventionellem Sinn bessere Schüsse gelungen.
Auf dieser Aufnahme kam jedoch das Hauptproblem des Fotografen mit dem Porträtierten am markantesten zum Ausdruck. Der Mann hasste es, fotografiert zu werden, und in seinem damals neuen Buch Mein Standort widmete er dieser Idiosynkrasie ein ganzes Kapitel.
Als Erster Bürgermeister von Hamburg eine Aversion gegen Fotos zu haben, ist ein hartes Los. Es ergab sich, dass ich an jenem Tag der einzige Reporter war, der Klaus von Dohnanyi auf seiner Tour durch den „Sozial-Standort“ begleitete. Und so wie ich ihn immer im Blick hatte, war er sich stets bewusst, wo ich mich mit der Kamera aufhielt.
Auf dem Foto, das meiner Erinnerung nach (ein Exemplar des Artikel besitze ich nicht) die Hauptabbildung meines Textes wurde, beugt er sich über die offene Motorhaube eines Autos und lässt sich von einem Auszubildenden etwas erklären. Da hatte ich ihn erwischt, als er mich für einen Moment vergessen hatte. Mit dem Auslöserklicken erntete ich prompt wieder einen vernichtenden Blick.
Bei der Inspektion des Motors stand ich ziemlich in der Nähe. Im Übrigen machte ich vor allem Aufnahmen aus der Entfernung, bei denen ich abdrücken konnte, bevor er mich die Kamera vors Auge heben sah. Bei der oben gezeigten stand ich zwar abseits, aber er bemerkte mich dennoch so rechtzeitig, um nicht erst nach dem Klicken zu mir zu schauen.
Ich war so diskret wie möglich, weshalb ich keine Aufnahme habe, bei der er unverkennbar wütend aus der Nähe in die Kamera schaut. Das wäre vielleicht charakteristisch, aber zugleich eine Verzerrung, weil es gerade diese Person in einer Situation zeigte, in der das Abgebildetwerden einen besonderen Punkt berührt.
Auf das Recht am eigenen Bild, das jeder Bürger hat, müssen Personen des öffentlichen Lebens aus guten Gründen verzichten. Ein Aspekt des Rechts geht dahin, sich vor einer denunziatorischen Verwendung eines Bildes schützen zu können – vor dem, wogegen sich Klaus von Dohnanyi nicht überhaupt nicht schützen konnte, der das Abgelichtetwerden an sich verabscheute. In seinem Blickwinkel ist jedes Foto ein Übergriff – wenngleich er kaum so weit gehen würde, dass ihm wie gewissen „Primitiven“ mit dem Bild die Seele geraubt würde. Womit wir wieder bei Lavater wären, der das Gesicht für eine Chiffre der Seele hielt.
Das Gegenteil des abbildungsunwilligen Dohnanyi ist der Prominente, der sich gezielt darauf hin verhält, dass und wie Kameras ihn festhalten. Der mit denen rechnet, die sein Image mit seinem Selbst verwechseln.
Bildrechte einzuklagen ist eine Angelegenheit gerade jener, die in der Öffentlichkeit stehen und keinen unbedingten Schutz genießen. Allen anderen ist nur zu raten, sich selbst zu schützen durch einen sorgsamen Umgang mit der Publikation im weltweiten Netz. Und scharf achtzugeben wie Klaus von Dohnanyi, wer einen wo und wie fotografiert oder filmt.
Derzeit gibt es ein Video von mir, das unter radrasenden Kids aus der Spießbürgerschaft von Stade kursiert. Ich habe es selbst nicht gesehen und weiß nur, dass es zu meiner Identifikation auf der Straße geeignet ist. Dass es als Charakterbild taugt, bezweifle ich, gewiss aber wird es vom Denunziantennachwuchs als solches rezipiert. (Die Geschichte hatte ein Nachspiel, nachdem ich dies schrieb; siehe hier.)
© Uwe Ruprecht
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