Über den Missbrauch der Kriminalität durch Politik, Polizei und Presse

Mit der Sorge um Sicherheit wird Politik betrieben, inbrünstig, lautstark und anhaltend. Unter Politikern und Medien ist ausgemacht, dass darüber nicht grundsätzlich gestritten wird. Einzelne Maßnahmen dürfen in Frage gestellt werden, wer aber das Konzept dieser „Sicherheit“ in Zweifel zieht, ist ein Volksverräter.

In meinen fast 60 Lebensjahren, von denen ich etliche in prekären Verhältnissen verbrachte, wurde meine Sicherheit an erster Stelle durch Autofahrer gefährdet, die mich nur zufällig nicht überfuhren. Ob als Fußgänger, Radfahrer, Fahrzeuglenker oder Beifahrer ist die statistische Wahrscheinlichkeit höher durch einen rasenden 18- bis 25-jährigen Automobilisten in Mitleidenschaft gezogen zu werden, als durch einen Terroristen. Gleichwohl vergeht kaum ein Tag ohne Meldungen über Terrorgefahren und die Bestrebungen zu ihrer Abwehr, während die Raserei im Auto und der Blutzoll, den sie fordert, höchstens alle Jubeljahre zum Thema werden.

Als Autofahrer werden die meisten Leser mir hier schon nicht mehr folgen wollen und können. So nachdrücklich die Gesellschaft mich als Raucher auf Gefahren hinweist, so beharrlich schweigt sie über sämtliche Risiken des Straßenverkehrs, die mir als Fußgänger ganz ohne Warnhinweise bewusster sind als je einem Autofahrer, dem ich begegnet bin.

Von dieser Besonderheit abgesehen, drohten mir die ernsthaftesten Gefahren stets von den Menschen in meiner nächsten Umgebung, durch Umstände, die nie Gegenstand irgendeiner Sicherheitsdebatte sind. Die persönliche Sicherheit kann sehr viel leichter und rascher durch Freunde gefährdet werden als durch Fremde. Die meisten Tötungsdelikte sind Beziehungstaten. Der Diebstahl im Laden kommt häufiger vor und mag strafrechtlich gleich behandelt werden, ist aber ein weniger schwer wiegendes Verbrechen als der Diebstahl in der Wohnung eines Bekannten.

Mit „Sicherheit“ ist offenbar lediglich ein Teil dessen gemeint, was das Wort bezeichnet. Aber auch die „Sicherheit vor Kriminalität“, an die in erster Linie gedacht wird, wird nur in Ausschnitten erörtert, die nicht nach sachlichen Aspekten bestimmt werden, sondern von politischer Opportunität.

Über die Bande, die in mehrere Häuser einbricht, wird berichtet, über Wirtschaftsverbrecher fast nie. Die Räuberbande stört den Frieden der Hausbesitzer; der Schaden von vielleicht einigen tausend Euro wird von der Versicherung ersetzt; nach einer Weile kann alles wieder gut sein. Der Wirtschaftsverbrecher zockt Millionen ab, und je nachdem wie sein Betrug funktioniert, kann er in die Existenzen seiner Opfer nachhaltiger eingreifen, als die Räuber vermögen, oder sie sogar zerstören.

Während die Leser dieser Zeilen eine genaue Vorstellung von Räuberbanden zu haben meinen, müsste ich erklären, was unter einem Wirtschaftsverbrecher zu verstehen ist. In der Geschichte des Landkreises von 100 000 Einwohnern, in dem ich lebe, wird es eine Periode von sechs Jahren gegeben haben, in denen die Medienkonsumenten und Wähler über Informationen zu Wirtschaftsstraftaten verfügen konnten. Es war die Zeit, in der ich rund 60 Verfahren vor der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts beobachtete.

Sofern die Räuberbande erwischt wird und die Möglichkeit besteht, Genaueres über ihre Verbrechen zu erfahren, wird sie vor das Landgericht gestellt, deren Verhandlungen im Visier der Medien stehen. Das Gros der Straftaten hingegen wird im Amtsgericht beurteilt, wohin sich im besagten Landkreis außer mir nie ein Berichterstatter verirrte.

Mancher Wirtschaftsverbrecher wurde zunächst für die Schaffung von Arbeitsplätzen belobigt, während niemand eine Bestandsaufnahme vornahm, nachdem sein Schwindelunternehmen zusammen gebrochen war. Historiker werden zwar die Lobeshymnen in den Medien lesen können, aber ihren üblichen Quellen nichts über den Zusammenbruch des Unternehmens entnehmen können. Bereits das Wissen, das Zeitgenossen sich verschaffen können, ist äußerst bruchstückhaft; schon ein Jahrzehnt später bleibt von der Wirklichkeit über weite Strecken nur der Zuckerguss des Lokalanzeigers in Erinnerung, während die dunklen Seiten nie ausgeleuchtet wurden und es schließlich scheint, als hätte es sie nie gegeben.

Man täusche sich nicht: die Wirtschaftsverbrechen, die Skandal machen und das Bild davon prägen, sind stets Großverbrechen. Daran, wie der systematische Betrug von Volkswagen bei den Dieselabgasen zunächst als „Trickserei“ verharmlost wurde und die Staatsanwaltschaft zum Jagen getragen werden musste, zeigt sich, wie auch dabei verwässert wird. Dass die Pleite einer kleinen Firma mit einem Dutzend Beschäftigten auf kriminelle Machenschaften zurückgeht, steht in keiner Zeitung. Gerüchte gehen um, aber Gewissheiten wird es über einen kleinen Kreis von Betroffenen und Beteiligten hinaus nicht geben.

Was ich darüber weiß, habe ich nicht nur in den Sitzungen der Wirtschaftsstrafkammer erfahren, sondern nebenbei im Amtsgericht, wenn ein Unternehmer angeklagt war, keine Sozialangaben für die von ihm Beschäftigten abgeführt zu haben – eine Straftat, die leicht entdeckt werden kann, während andere Untersuchungen mangels Personal bei den Verfolgungsbehörden unterbleiben.

Zur tatsächlichen Dunkelziffer kommt der Schatten hinzu, der durch die Ausblendung im öffentlichen Bewusstsein auf diese Verbrechensvariante geworfen wird. Bestens im Bilde über die Terroristen, die sie fast nichts angehen, empfinden sich die Bürger nicht als Opfer von Bank- und Börsenbetrügern. Und falls doch, machen sie dafür eine Verschwörung verantwortlich, etwa die des „Finanzjudentums“. Das scheint leichter zu ertragen, als die Systematik der Ausbeutung zu begreifen.

Einmal im Jahr erhalten die Einwohner des Landkreises Stade eine Übersicht der Verbrechen, die in ihrer Mitte begangen wurden. Diese Verlautbarung der Polizei sind alles, was über Kriminalität gesammelt vorgelegt wird. Die Aufmerksamkeit, die ihr gewidmet und das Gewicht, das ihr beigemessen wird, steht ihr sachlich nicht zu. Sie stellt einen Ausschnitt dar, der fälschlich für das Ganze genommen wird.

Das Zusammenspiel von Polizei, Presse und Politik ist seit Jahrzehnten eingeübt. Es handelt sich um institutionalisierte Desinformation. Ein Foto zeigt fünf Männer um einen Tisch – zwei von der Polizei und drei von der Presse –bei der Vorstellung der Polizeistatistik. Bei dieser nicht, aber bei anderen Gelegenheiten habe ich mich überzeugen können, wie die Mauschelei vonstatten geht, bei der sich die Herrschaften darüber abstimmen, was sie der Bürgerschaft über Kriminalität weismachen werden.

„Die erfolgreiche Arbeit der Polizei im Landkreis Stade der letzten Jahre hat sich auch im abgelaufenen Jahr fortgesetzt.“ Damit beginnt die Polizei und lässt keinen Zweifel daran, dass es ihr nicht eine realistische Bestandsaufnahme sondern um Selbstlob geht. Von den Journalisten ist schon gar keine kritische Betrachtung der Polizeiarbeit zu erwarten, weil sie über diese nur wissen, was die Polizei sie wissen lässt. Ihre Berichterstattung über Kriminalität besteht fast ausschließlich darin, die Pressemitteilungen der Polizei abzuschreiben.

Die Zahlenangaben der Polizei sind, wie gesagt, die einzige einschlägige Informationsquelle, und das Rechtssystem macht eine Überprüfung nahezu unmöglich. Den Zahlen der Polizei müssten Zahlen der Justiz gegenüber gestellt werden, um ein vollständiges Bild zu erhalten. Solche gibt es aber nicht. Ein Fall, den die Polizei für abgeschlossen hält und in der Tabelle abhakt, kann sich vor Gericht anders darstellen. Was die Polizei als Mord verbucht, wird als Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt; der Tatverdächtige, den die Polizei an die Staatsanwaltschaft übergibt, wird freigesprochen – und zwar vielleicht deshalb, weil die Polizei nicht gründlich genug war und sich mit Zeugenaussagen begnügt hat, die vor Gericht zusammenbrechen. Tatsächlich lässt sich nicht einmal angeben, wie hoch der Anteil der Fälle ist, in denen die Justiz die Einschätzung der Polizei korrigiert und aus einem Diebstahl ein Raub wird oder umgekehrt.

Gestützt auf 25 Jahre professioneller Beobachtung von Polizei und Justiz kann ich immerhin behaupten, dass es Differenzen gibt und sie häufiger vorkommen, als Polizei, Presse und Politik vorspiegeln. Hinsichtlich des Neonazismus ist die Unzuverlässigkeit der Polizeistatistiken weithin bekannt. Konkret hieß das, dass ich im Amtsgericht Verhandlungen gegen aktenkundige Neonazis beiwohnte, die eine einschlägige Straftat begangen hatten, die von der Polizei nicht als solche registriert war. Bekannt wurde etwa, dass Fälle, die in einer Statistik des Landeskriminalamtes aufgeführt waren, in der der zuständigen Polizeiinspektion nicht auftauchten.

Die Medien und ihr Publikum behandeln die Jahresbilanz der Polizei wie ein realistisches Abbild der lokalen Kriminalität, während sie lediglich eine Stellungnahme dazu darstellt, deren Parteilichkeit sie gar nicht verhehlt.

Unlängst ließ sich studieren, wie das System funktioniert. Ein CDU-Bundestagsabgeordneter, der sich seit je mit Angstmache hervorgetan hat, forderte ein schärferes Durchgreifen gegen Einbrecher, pauschal und ohne jeden Bezug auf die juristische Realität, die er mutmaßlich so wenig kennt wie seine Wähler. Der Lokalanzeiger sekundierte und startete eine Serie von Berichten über Einbrüche. Auch die Polizei machte mit und vermeldete vermehrt Einbrüche auf ihrer Homepage.

Mit der Verängstigung hatte es sein Bewenden. Hauptsache, dass Sicherheitsgefühl wird zerrüttet, damit Helfer herbei eilen können. Nur wer sich nicht blenden ließ bemerkte, dass die Zahlen rückläufig sind, ganz ohne verstärkte Abschreckung durch höhere Strafen. Ob die Abschreckung überhaupt greift, wenn man die Motive der Täter in Betracht zieht – so weit ging die politisch-propagandistische Aufbereitung selbstverständlich nicht. Soziale Hintergründe von Straftaten? Bitte nur, wenn es Flüchtlinge, Ausländer und sonstige Ausgesonderte betrifft.

Es mag hingegen, dass Politik und Polizei sich als Parteien in der Debatte komplexeren kriminologischen Betrachtungen verschließen. Verheerender ist, dass die Presse ihre vorgeschützte Unabhängigkeit umstandslos vergisst, sobald „Sicherheit“ auf der Tagesordnung steht. Statt den hysterischen Projektionen zu widersprechen, macht sie sich, nach Auflage schielend, zum Handlanger. In dem Sektor waren die Rechtspopulisten immer schon im Vorteil, und ein erheblicher Teil des Erfolgs der AfD verdankt sich den so genannten Sicherheitsdebatten, die lange vor der Parteigründung geführt wurden.

© Uwe Ruprecht