Gotthold Ephraim Lessings Heirat in Jork 1776
Er war hin- und hergerissen. Ein alter Hagestolz ergibt sich nicht so einfach in den Ehestand. 46 war er – zu alt vielleicht, um einen neuen Weg zu beschreiten? Der Zustand der Verlobung, der schon fünf Jahre währte, hätte seinethalben andauern können. Doch Eva drängte und hatte mittlerweile alles arrangiert für eine verschwiegene Hochzeit auf dem Lande.
Es gab Gründe für das Zaudern des Junggesellen. Wie in seinem Lustspiel Minna von Barnhelm ging es zu, worin der arme Major von Tellheim sich der reichen Erbin unterlegen fühlt. Eva war allerdings vermögend, Witwe eines Hamburger Seidenfabrikanten. Und er selbst konnte sich zur Hochzeit nicht einmal einen neuen Rock leisten.
Gotthold Ephraim Lessing war ein in Europa klangvoller Name. Doch ein gesichertes Auskommen hatte sein Ruhm ihm nicht eingebracht. Seit sechs Jahren war er beim Herzog von Braunschweig als Bibliothekar in Wolfenbüttel angestellt. Aber mit der Bezahlung haperte es. »Ich sollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen«, seufzte er.
1767, in seinem 38. Jahr, war Lessing von Berlin nach Hamburg umgezogen und Dramaturg des neu gegründeten Nationaltheaters am Gänsemarkt geworden. War Berlin seinerzeit eine muffige Provinzresidenz, atmete Hamburg Weltluft. Hier schrieb Lessing die Hamburgische Dramaturgie, in der er das Wort vom »Theater als moralische Anstalt« prägte.
Hier lernte er die sechs Jahre jüngere Eva kennen. Damals war sie noch die Gattin des Kaufmanns Engelbert König. Vier Kinder hatte sie mit ihm; Lessing wurde Taufpate des jüngsten Sohnes.
Bevor König 1769 eine Reise nach Venedig antrat, sagte er zu Lessing: »Wenn mir etwas Menschliches begegnen sollte, so nehmen Sie sich meiner Frau und der Kinder an.« Tatsächlich starb König bald nach seiner Ankunft in Italien. Zwei Jahre später verlobte sich seine Witwe mit Lessing.
Da war aus dem Schauspielleiter bereits der Bibliothekar geworden, der einsam unter Schwarten lebte. »Es ist nie mein Wille gewesen«, klagte er, »an einem Orte wie Wolfenbüttel, von allem Umgange, wie ich ihn brauche, entfernt, Zeit meines Lebens Bücher zu hüten.«
Die Verlobten sahen sich selten. Ihre Beziehung spielte sich wesentlich in Briefen ab, die wenig von Liebe, umso mehr vom »hinlänglichen Auskommen« handelten.
Das letzte Mal vor der Heirat trafen sie sich in Wien. Lessing wurde als Theater-Fachmann von der Herrscherin Maria Theresia empfangen; Eva plagte sich mit Geschäften. Mehrmals weilte sie in Wien, um den Verkauf einer Seidenfabrik zu bewerkstelligen.
Ihr geschäftlicher Beistand war seit 1772 Johannes Schuback, dessen Bruder Jakob mit ihrem verstorbenen Mann und mit Lessing befreundet gewesen war. Nikolaus Schuback, beider Vater, war Senator und Bürgermeister in Hamburg. Die Familie stammte aus Jork.
In der Freien und Hansestadt als Kaufleute zu Erfolg und Ansehen gekommen, nutzten die Schubacks ihren Altländer Hof als Sommersitz. Oft war Eva dort zu Gast, zuletzt im Juni 1776.
Eben zurück von der Reise nach Wien litt sie an Diarrhöe. »Ich kann mich gar nicht erholen«, schrieb sie an Lessing, »und will also auf Anraten des Medicus versuchen, ob ich auf dem Lande meine Kräfte wieder sammeln kann.«
Am 1. Mai war Johannes Schubacks zweijährige Tochter gestorben; seine Frau Anna bat Eva um ihre Gesellschaft. Bei dieser Gelegenheit wurde von den beiden Frauen die Hochzeit für den Oktober verabredet.
Lessing tat wenig, um die Heirat zu befördern. Vielmehr wich er bis zum Schluss aus. »Machen Sie also, mein Lieber, dass ich wenigstens weiß, ob es mit dem York Ihr Ernst ist, oder nicht?«, forderte Eva. »Bliebe es dabei, dass Sie auf den York kommen wollten, so richtet sich Madame Schuback danach ein – die alle Tage danach fragen lässt«.
Lessing hätte es am liebsten gehabt, wenn die Trauung sogleich nach seiner Ankunft »in aller Geschwindigkeit« vonstatten ginge, »sollte es auch im Haus des Predigers sein, ohne alle die Gäste abzuwarten, die Herr Schuback gebeten«. Nach der Zeremonie wollte er gleich wieder fort.
Eva war sauer: »Es ist wohl nicht Ihr wahrer Ernst, wenn Sie vorschlagen, vor mir abreisen zu wollen. Was sollte mich wohl in York halten, wenn Sie nicht mehr da wären!«
In seinen Briefen an die Gattin in spe türmte Lessing die Probleme: Das Haus, das ihm der Herzog für seine Familie angewiesen hat, gefiel ihm nicht; außerdem beklagte er sich, dass die Hochzeit »verplaudert« worden war, sogar in Wolfenbüttel wusste man davon. Die Heiratspapiere beschaffte er erst in letzter Minute.
Um keine Ausrede war er verlegen: »Ich weiß nicht einmal, wo der York liegt, und ob ich über den Zollenspieker muss oder nicht«, schrieb er noch zwei Wochen vor dem anberaumten Termin. Vom Zollenspieker, dem Zollspeicher auf Kirchwerder, ging die am meisten genutzte Fähre über die Elbe.
Geduldig beschrieb Eva also ihrem Liebsten den Weg: »Die Route auf dem York gehet bei guter Jahreszeit, wenn der Weg trocken, über Harburg, sodann durch die Marsch nach dem York, der vier Meilen von Harburg liegt. Diesem Weg ist aber gegen den 6ten Oktober wohl nicht mehr zu trauen. Folglich gehen Sie von Zelle aus gerade nach Buxtehude, das eine Meile von York liegt.« Evas Schwager, der Postmeister Fritz König, fuhr dem Bräutigam schließlich bis Harburg entgegen.
Soweit es den Dichter der Aufklärung betraf, standen die Zeichen ungünstig. Kaum in Jork eingetroffen, soll er während eines Spaziergangs mit Eva beim Überspringen eines Entwässerungsgrabens, einer Wettern, abgerutscht und in den Schlamm gefallen sein.
So wird es in diversen Büchern über das Alte Land kolportiert. Die Quelle: eine Verwünschung in Albrecht Wittenbergs Pamphlet gegen Lessings Anti-Goeze: »so wünsche ich, aus zärtlicher Fürsorge für Ihren bisherigen Ruhm, dass Sie, als Sie an Ihrem Hochzeitstage in die Elbe, oder in einen zur Elbe führenden Graben stürzten, Ihr teures Leben vielmehr eingebüßt hätten«.
Die lokale Überlieferung hat diese Bemerkung begierig aufgegriffen. Auf Dichter hat man im Alten Land nie etwas gegeben. Da passt es, dass einzige, der je mit Jork zu tun hatte, in den Graben gefallen sein soll.
Jedenfalls soll Lessing kräftig gewettert haben und konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, sofort wieder abzureisen. Allen Fährnissen zum Trotz fand die Trauung am Dienstag, den 8. Oktober 1776 statt. Der Eintrag im »Kopulationsregister« des Pfarramtes zeugt davon. Entgegen Lessings Eile blieben die Neuvermählten bis zum 14. Oktober in Jork, ehe sie nach Wolfenbüttel abreisten.
Die Ehe dauerte nur ein Jahr. Im Dezember 1777 wurde Eva von einem Sohn entbunden. Das Kind starb und kurz nach ihm die Mutter.
»Ich sollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen«, bilanzierte Lessing. »Meine Frau ist tot: und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht«, schrieb er. »Ich freue mich, dass mir viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen; und bin ganz leicht.«
Ihm selbst blieben noch drei Jahre, in denen er sein »dramatisches Gedicht« Nathan der Weise verfasste. Am 15. Februar 1781 starb Lessing bei einem Besuch in Braunschweig.
Das Schubacksche Sommerhaus wurde 1883 durch einen Brand zerstört. Eine Sparkasse erwarb das Grundstück für ihren 1973 errichteten Neubau, vor dem seit 1980 ein Stein an die Eheschließung des Schriftstellers und Philosophen erinnert.
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Literatur ▪ G. E. Lessing: Meine liebste Madam, München 1979 | Lessing in Jork, Jork 1980 | U. R. in Hamburger Abendblatt 4.7.1997
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