»Säuberungsaktionen« am Strand der Unterelbe
Plötzlich steht er über mir und erteilt im Kasernenhofton Anweisungen, bei denen er mich duzt: der Herr von Bassenfleth.
Er will, dass ich »eine Hose anziehe«. Irgendein »Bürgermeister« habe ihn damit beauftragt, »für Ordnung zu sorgen«, tönt er, als ich mir entschieden verbitte, von ihm gemaßregelt zu werden. Als der »Bürgermeister« allein nicht zu beeindrucken scheint, legt er nach und beruft sich auf das »Ordnungsamt«, für das er tätig sei. Ich bin weiter widersetzlich, also brüllt er mir entgegen: »Das ist ein Privatstrand!«
Befehle nähme ich nur von Polizei und Justiz entgegen, erwidere ich. Vielmehr würde ich, falls er mich nicht in Ruhe ließe, die Behörden einschalten und ihn wegen Belästigung anzeigen.
Schließlich schleicht er sich, sekundiert von zwei Männern, die seinen Anordnungen umstandslos Folge geleistet haben und Anstalten machen, über mich her zu fallen, weil ich mich dem Herrn nicht gebeugt habe.
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Eigentlich hatte ich statt »der Herr« schreiben wollen: »der Nazi von Bassenfleth«. Aber schlichte Gemüter könnten das missverstehen und als Beschimpfung oder Beleidigung auffassen – obwohl ich damit ein Charakterbild gezeichnet hätte, inklusive des Verhaltens der Gefolgsleute, das auf reichliche Studien zurück geht. (Siehe im Menü unter »NS-Geschichten«. »Unter uns leben Tausende von Himmlers«, diagnostizierte etwa der Psychoanalytiker Erich Fromm [Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1980].) 73 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs genügt es weiterhin, dass einer sich zum Führer aufwirft und Gehorsam einfordert, um willige Anhänger zu finden.
Die Konfrontation war absehbar gewesen. Seit einem Vierteljahrhundert halte ich mich außer im Winter oft am Strand der Elbe vor Bassenfleth auf. Seit drei Jahren marodiert dort Ernst-August Pape (78) als »Strandaufseher« und hat sich zur eigenen Legitimation nach Kräften bemüht, den Strand und seine Besucher in Verruf zu bringen.
Angefangen hat er mit »Müllbergen«, die er gesehen haben will. So kam er in eine Zeitung, die damit ihr Thema gefunden hat und immer wieder über ein »Müllproblem« am Strand zu berichten vorgibt, während sie lediglich nachplappert, was ihr der »Aufseher« souffliert.
Die Wirklichkeit ist das, was für Realität gehalten wird. Wer den Strand nur mit den Augen des »Aufsehers« und seiner Bauchrednerpuppen in den Zeitungsredaktionen wahrnimmt, muss allerdings an »Müllberge« glauben. Ich habe nie einen gesehen.
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Der Strand neben dem Atomkraftwerk wurde beschwiegen, als dieses noch keine Ruine war. 2002 wurde ein »Elbbadetag« ausgerufen; auf der Karte der Badestellen war die größte an der Unterelbe nicht verzeichnet. Touristen werden bis heute ferngehalten. Die Rechtslage für das Gebiet erschwert jeden vernünftigen Umgang mit der Realität.
Inzwischen sprach sich die Location herum, nach Hamburg sowieso und bis nach Bremen. An den heißesten Sommertagen entstand dann das Problem, von dem nie ein Wort in der Zeitung stand und für das der »Aufseher« sich nicht zuständig fühlt. Wenn der Parkplatz am Deich voll ist, wird entlang der Straße geparkt, bewährt rücksichtslos auf dem Bürgersteig, sodass für Fußgänger und Radfahrer kein Durchkommen ist und Anwohner nicht aus ihren Ausfahrten gelangen.
Die Anlieger drohten mit einer Bürgerinitiative, daraufhin wurde der Parkplatz erweitert. Er reicht trotzdem nicht aus, um an einer Anzahl von Tagen alle Autos von Fahrern aufzunehmen, die unbedingt mit geringstmöglicher Fußwegentfernung vom Strand parken wollen. Wenn diese Klientel den Strand aufsucht, sind zwei Abschleppwagen im Dienst, die ihre Beute neben der Einfahrt zur Ruine des AKW zwischenlagern.
Wie gesagt, kein Wort davon in den Zeitungen. Seit diese vor einem knappen Jahrzehnt den verschwiegenen Strand als Sommerfotomotiv entdeckten, begnügen sie sich im Übrigen damit, die Stellungnahmen von Gemeindevorstehern zu wiederholen. Das Gelände kennen sie so gut, wie man es kennen lernen kann, wenn man lediglich hingefahren ist, um ein Foto zu machen.
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Der erwähnte »Elbbadetag« von 2002 sollte die Gewässerreinheit propagieren. Zumindest für die oberflächliche Ansicht davon kann ich mich verbürgen. Als ich bei Aufenthalten entlang der Elbe als Jugendlicher Mitte der 1970er wider besseres Wissen ins Wasser stieg, musste ich nachher Teerplacken von der Haut schaben.
Inzwischen trat ein anderes Gewässerproblem auf. Die »Fahrrinnenanpassung« von 1999, vulgo Elbvertiefung, hat Sog und Schwell vorbeifahrender Schiffe verstärkt. Das Phänomen hatte ich zu spüren bekommen, als ich beim Zurückschwimmen an den Strand fast nicht voran kam und nur mit Mühe so weit gelangte, um Boden unter den Füßen zu haben.
Im Sommer darauf kam es zu einem Rettungseinsatz, weil es jemand ebenso ergangen war, er den Weg zurück aber nur mit Hilfe eines anderen Strandbesuchers schaffte. Daraufhin wurde ein Schild aufgestellt, das auf die Gefahr recht unkonkret hinwies.
Die Beschilderung wurde aufgerüstet, nachdem das Problem in der Neuen Osnabrücker, der Hamburger Morgenpost, im Neuen Deutschland und endlich im Stader Tageblatt benannt worden war. Allerdings blieb man unentschieden zwischen »Baden verboten« und »vom Baden wird abgeraten«. Die Texte hatte ausnahmsweise jemand geschrieben, der den Strand nicht nur vom Fototermin und den Aussagen des »Aufsehers« kannte; sie stammten von mir.
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Ich hatte bis dahin nie ein Wort über den Strand verlauten lassen, weil ich befürchtete, was eingetreten ist: Zulauf von Automobilisten, die nur gerade die Strecke vom Parkplatz zum Wasser wahrnehmen und sich benehmen, als seien sie allein bei sich zu Hause. Dass sie einen halben Hausstand mitschleppen, von dem sie einen Teil als Müll zurücklassen, weil sie selbst sich so bald nicht wieder an selber Stelle blicken lassen werden, ist nur ein geringes und sichtbares Zeichen ihrer Rücksichtslosigkeit.

Die inzwischen berüchtigten und durch die mediale Aufmerksamkeit angefeuerten »Vatertagstouren« an den Strand gab es bereits, bevor der »Aufseher« die Beseitigung der Hinterlassenschaften zu seinem Ehrenamt erkor. Regelmäßige Strandbesucher beseitigten die Spuren, ohne sich dafür in der Zeitung hätscheln zu lassen. Dieser eine von 365 Tagen prägt indes, dem Herrn von Bassenfleth sei Dank, das mediale Strandbild, das die Realität verzerrt abbildet.
Die Zeichen der Rücksichtslosen finden sich vornehmlich an einem Abschnitt des rund einen Kilometer langen Strandes: wohin die fußlahmen Autofahrer vom Parkplatz zuerst gelangen und die Redakteure zum Fotografieren verweilen. Dort, wo ich mich aufhalte, bleibt an einem Dutzend Tagen im Jahr höchstens mal etwas liegen, das am nächsten Tag ganz ohne Aufsicht verschwunden ist.

Müll- oder Parkplatzprobleme tangieren mich bloß peripher. Das Ärgste, das ich erlebte, bis der »Aufseher« mich zum Insassen seines Gefängnisses erklärte, war an einem stillen Sonntagmorgen ein Hund, der sich wütend kläffend vor mir aufbaute. Ich bellte zurück, was ihn nur böser machte. Von Herrchen oder Frauchen lange keine Spur. Frauchen machte sich schließlich mit Gekreisch bemerkbar. Statt ihr unerzogenes Vieh zurück zu pfeifen, beschimpfte sie mich, was ich ihrem Hundchen antun würde.
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Nach seiner hysterischen Projektion von »Müllbergen« und deren gelungener medialer Zurschaustellung hat der »Aufseher« ein weiteres Objekt für »Säuberungsaktionen« gefunden. »So etwas gibt es nicht an meinem Strand«, wurde er zitiert, als er einer Zeitung eine seiner Geschichten zum Besten gab.
So hatte ich ihn auch verstanden, als er keifte: »Das ist ein Privatstrand!« Solange die Rechtslage den vernünftigen Umgang mit der Realität verhindert, bleibt das Feld solchen wie ihm überlassen.

»Sie haben es direkt am Strand gemacht, am helllichten Tag«, umringt von einer Gruppe lachender Männer, erzählt der »Aufseher«. Und dann: »Die ›Nackedeis‹, wie er sie nennt, hätten da, wo Kinder spielen, nichts zu suchen.«
So viel ist an dem Gewäsch richtig: die Twielenflether Zwangsmoral gilt nicht an einem Abschnitt des Strandes. Tatsächlich sind die Leute unbekleidet, und manche bringen ihre Kinder mit. Eines »Aufsehers« bedurfte es nie in all den Jahren, in denen die Gemeindevorsteher so taten, als existiere der Strand nicht oder sich für unzuständig erklärten.
Falls es nennenswerte Vorkommnisse gibt, von denen ich nichts weiß, würde ich gern mal Polizeiberichte oder Gerichtsakten sehen. Als einzige Quelle wäre mir der »Aufseher« nicht nur prinzipiell nicht ausreichend.
Vielleicht sollte ich mal Geschichten erzählen. Wie jene vom 15. September 2016, an die er sich gewiss erinnert. Dass er bei seinen »Säuberungsaktionen« von »syrischen Flüchtlingen« sekundiert wird, wie die Zeitung verkündet, verschlägt mir endlich die Sprache.
29. Juni
Stader Tageblatt: »Der Strand in Bassenfleth bleibt offen – Wie jedes Jahr feierten Schüler am Vorabend der Zeugnisvergabe am Bassenflether Strand. Doch erstmals [?] war am Morgen danach eine Sperrung kein Thema mehr. Denn im Sand lag weniger Müll als befürchtet.«
Der gesamte Strand sollte gesperrt werden, weil in einem Abschnitt mit »Müllbergen« gerechnet wurde? Von wem? Vom Strandaufseher, der sich wieder einmal wichtig machen wollte? Und wieso sollte ich an einem Strandbesuch gehindert werden, weil der Nachwuchs meiner Nachbarn sich daneben benimmt?
Falscher Alarm, hysterische Projektion, keine »Müllberge«. Sage ich doch die ganze Zeit.
16. Juli
Es war nur eine Frage der Zeit (siehe oben): am Strand wurden die Leichen von zwei jungen »Erntehelfern« gefunden, denen die Gefahren eines Bades in der vertieften Elbe offenbar nicht bewusst waren.
18. Juli
Am Tag, nachdem die ertrunkenen Erntehelfer geborgen wurden, musste ich mir anhören, was das gemeine Volk mit ihren in Vorurteilen schwimmenden Gehirnen aus den Berichten gemacht hatte (die es selbstverständlich nicht gründlich gelesen hatte; 20 Zeilen sind 18 zu viel Lesestoff für feuchte Bregen) – und das ich hier gewiss nicht wiederholen werde.
Offenbar aber gehört heraus gestrichen, wovon die Berichte schweigen: das Baden in der Elbe vor Bassenfleth ist nicht erst seit gestern gefährlich, und nur Lebensmüde schwimmen dort einfach darauf los.
Was immer sich exakt am Strand zugetragen haben mag (Polizeiberichte sind keine unbedingt zuverlässige Quelle) – die Ignoranz der Behörden, die lieber einen »Strandaufseher« und die Presse von imaginären Müllbergen schwafeln lassen, hat diese Unfälle begünstigt.
»Nicht weiter hinaus auf den Strom als man Grund unter den Füßen hat« – mit einem Satz wie diesem auf einem Schild könnte echte Vorsorge beginnen. Stattdessen wird geschwankt dazwischen, ob vom Baden »abgeraten« oder es »untersagt« wird. Solche Schilder nimmt niemand ernst.
»Lebensgefährliche Strömung« ist irgendwie richtig und ist es nicht. Aber daran wollen die Herren Kommunalpolitiker (im Alten Land zählen Damen nach wie vor wenig) nicht rühren: an Schwell und Sog vorbeifahrender Schiffe (nicht »die Strömung«), die sich nach der ersten Elbvertiefung zumal (aus besonderen Gründen) vor Bassenfleth dramatisch verstärkt haben. Mit Folgen nicht nur für Badegäste, sondern etwa auch für den Schutz gegen Sturmfluten.
Stattdessen also das übliche verschleiernde Geschreibsel der wahlweise korrupten, faulen oder blöden Journaille. Und der Plebs – der um kein Gran klüger oder demokratischer ist als im Imperium Romanum – weiß sowieso, warum die Toten starben: weil sie aus Rumänien kamen.
Sie werden voraussichtlich übermorgen vergessen sein. Es hätte auch jemand anderen treffen können. Aber selbstverständlich geht keiner von den wirklich wichtigen Leuten vor Bassenfleth baden. Würde einer von ihnen verunglücken, würden seine Kumpane es vielleicht einmal auch ausnahmsweise mit Hingucken und Nachdenken versuchen.
Und nein, der »Strandaufseher« kujoniert zwar gern Strandbesucher, weist sie aber nicht auf die Gefahren der Elbe hin. Woher sollte er die auch kennen? Er war in den letzten 20 Jahren in seinem Revier gewisslich nicht im Wasser. Dass er sich an »seinem« Strand auskennt, glauben nur er und die oberwähnten Politiker, für die er den nützlichen Idioten spielt.
Ich echauffiere mich, fürwahr. Die beiden Toten können es nicht mehr.
28. Juli
Worüber Leser dieses Blogs bereits orientiert waren, stand gestern auch im Stader Tageblatt – nachdem sich in den Tagen zuvor die Abrufe für diesen Beitrag sprunghaft vermehrt hatten.
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