Ausrisse der Zeichenkunde
Das erste Bild huscht vorbei in einem Aufflackern des Bildschirms. Die Pixel ordnen sich sekundenlang zitternd und abgehackt zu Figuren, in Bewegungen, die rasch wieder abbrechen, verschwimmen unter dem Kurven elektronischer Impulse im Glas. Dann eine Pause, black screen, so lange, bis man glaubt, der Rechner sei abgestürzt. Bevor die Spannung überhand nehmen kann, setzt der Pixelfluss wieder ein, und die Bewegungen im Bild und die Bewegungen der Bilder gleiten wie ein Traum über die See.
Ein Mann, der sich aus dem Fenster lehnt, greift mit der rechten Hand an seinen Hals. Er zerrt an der Haut und reißt sich das Gesicht zwischen Kinn und Haaransatz vom Kopf. Die Maske fliegt in hohem Bogen aus dem Fenster und klatscht auf das Dach eines in vier Stockwerken Tiefe am Straßenrand parkenden Automobils. Niemand hat etwas bemerkt.
Bevor der Blick zum Mann am Fenster zurückkehrt, um zu überprüfen, was die Maske verbarg, ziehen blaue Linien durchs schwarze Bild, die in Kurven schwingen, sofern der Sprecher die nächsten Sätze vorträgt.
Zwei eigensinnige Rhythmen überkreuzen sich. Derjenige der Wirklichkeit, die abgebildet zu werden scheint in den Kamerafahrten eines Gehirns, und derjenige des Mediums, in dem diese wiedergegeben werden, das nach eigenen Gesetzen auswählt und verwirft, sortiert und organisiert. Die erreichbare Synchronizität der Rhythmen variiert. Bisweilen ziehen die Pixel als breiter und bunter Strom vorüber, bis sie unvermutet abtropfen zu Gestotter und Gestammel aus ruckenden Standbildern.
Bei erwachtem Bewusstsein ist die Vorstellung von Wirklichkeit, die eine digitale Maschine erzeugt, wenig unterschieden von derjenigen, die durch optische Gerätschaften des 17. bis 20. Jahrhunderts erzeugt wurde und in den Museen studiert werden kann. Die Differenz zwischen dem, was als Wirklichkeit vor den eigenen Augen und als Simulation von Wirklichkeit erfahren wird, verwischt durch Zeit und Gewohnheit. Die Passagiere der ersten Zugfahrten Anfang des neunzehnten Jahrhunderts erlebten und beschrieben das Vorbeirauschen der Landschaft als Schock; zur selben Zeit machten mit Chemikalien bei Dunkelheit ans Licht gebrachte Abbilder von Reizungen der Netzhaut Sensation.
Die Umwälzungen der Wahrnehmung von gestern sind die Kinderspielzeuge von heute. Das Umklappen von Pappbildern beim Drehen einer Holzkurbel, um Bewegung zu illusionieren, befindet sich in einem relativ nicht viel weiterem Abstand zur Wirklichkeit wie das elektronische Umschalten von Pixelsequenzen nach Druck auf eine Plastiktaste.
„Er ist tot“, sagt der Direktor. „Sie weiden ihn jetzt aus. Seine Milz soll ganz brauchbar gewesen sein.“
„Einem Schädeltrauma erlegen, heißt es.“ Der erste Gast wirft das ein.
Der zweite Gast kürzt das Verfahren ab: „Irgendwer wird ihn erschlagen haben, den Hund.“
Der Direktor lacht: „Ich bin es nicht gewesen. Ich habe nur sein Hirn in Verwahrung. Eingedellt zwar, aber abspielbar.“
Ein Eimer schleift über Fliesen, ein Kühlschrank summt.
„Ich höre den Eiter rascheln.“ Der erste Gast flüstert es.
Der zweite brummt: „Unsinn, das ist die Leichenstarre.“
Der Direktor fährt in seiner Führung fort: „Wir haben nicht nur schöne Schädel in unserer Sammlung, zwei große Säle, Schädel mit Gravuren, Schädel aller Rassen, mit merkwürdigen Wunden, auch eine Waldbevölkerung in Vitrinen, eine Rotwild-Galerie, Nager, Eulen, Frettchen – etwas finster freilich, staubig, die allzu vielen, allzu alten Präparate sind schadhaft, auch der Tod stirbt einmal, zwei Etagen mit kunstvoll der Zeit entrissenen Kadavern, in Gläsern, im Spiritus-Bad, auf Stecknadeln, mumifiziert, Schneewitchensärge für Getier mit blauen Glasaugen, die aus der Ewigkeit starren.“
„Von was man nicht alles ein Aufhebens machen kann“, murmelt der zweite Gast.
„Wir haben auch ein Laboratorium für Hirnverdatung und -wiedergabe“, redet der Direktor weiter.
Der erste Gast geht darauf ein: „Dort führen Sie die grauen Zellen der alchymistischen Lösung zu, deren Wellenschlag Schwingungssensoren anregt, deren Output in gewöhnliches Deutsch übersetzt werden, soweit die Denkfrequenzen gestatten?“
„So ist es. Zu unserer Unterhaltung markiert die Maschine den Augpunkt nicht in der biotronisch üblichen Art, als unverständliches Pfeifen“, er macht es vor: Tekeli-li tekeli-li, „sondern in der herkömmlichen Notation.“
„Privatmythologie also“, seufzt der zweite Gast.
Der Kühlschrank summt.
„Hören Sie das?“ Der erste Gast regt sich auf.
„Nein!“, erwidert der zweite Gast angestrengt ungerührt.
„Teile scharren“, sinniert der erste Gast.
„Wir haben Getier, Gedärm, Gehirn“, redet der Direktor weiter, „die Flächen der Gehirnrinde, denen die einfachen Körperbewegungen zugeordnet sind, zeigen ein kleines, schematisches Bild des Menschen, den Homunculus. Man kann ihn paarweise, von links unten nach rechts oben buchstabieren: Eingeweide / Schlund, Rachen / Zunge, Zunge / Unterkiefer, Zähne / Lippen –“
„Ein wunderhübsches Spielzeug. Wird als Kinderpuppe in Mode kommen“, unterbricht ihn der zweite Gast.
„Und die beteiligten Personen?“, erkundigt sich der erste Gast.
„Werden nachgepixelt“, erläutert der Direktor, „wofern sich Bruchstücke in der Gehirnmasse erhalten haben.“
„Bruchstücke!“, stöhnt der zweite Gast. „Immer nur Bruchstücke!“
„Wenn Sie das Ganze hätten, hätten Sie alles“, beruhigt ihn der erste Gast.
„Das Gehirn als Abbild des Kosmos.“
„Oder Spiegel. Oder Zerrspiegel.“
„Zerrspiegel, allerdings“, fällt der Direktor ein. „Auch beim Umriss des Homunculus sind die Proportionen verschoben: weit offener Mund, winzige Ohren, ein gigantischer Daumen.“
Schleifen auf den Kacheln.
„Hören Sie das?“, flüstert der erste Gast.
„Rase nicht Erle“, erwidert der zweite Gast mit seltsamer Betonung.
„Eine Formel? Wogegen?“
„Böse Ahnungen aller Art.“
„Glauben Sie, es ist ansteckend?“
„Warum haben Sie gerade dieses Hirn für die Projektion ausgewählt?“, erkundigt sich der zweite Gast beim Direktor.
„Ich habe nicht gewählt“, lautet die von einer demütigen Geste begleitete Antwort.
Stahltüren öffnen einen luftdicht verschlossenen Raum. Zum hydraulischen Schnaufen der Türverriegelung erklingt fernes Tekeli-li.
„Lassen Sie sich von dem Gepränge nicht beeindrucken“, sagt der Direktor.
„Hören Sie?“, fängt der erste Gast wieder an.
„Das sind die Dämonen“, meint der zweite Gast gelangweilt.
„Na servas.“
Dann eine Pause, black screen, so lange, bis man glaubt, der Rechner sei abgestürzt. Man will schon ESC, ALT+SHIFT+ENF oder eine andere Nottastenkombination einsetzen, als wäre bei einem Zelluloidfilm ein Bildkader durchgebrannt und auf der Leinwand erschiene ein sich schlagartig ausbreitender Feuerkreis mit schwarzem Kranz, der im selben Moment in Flammen ausbricht und erlischt; die Leinwand wird schwarz, während im Rücken ein Schlapfen einsetzt, unmittelbar gefolgt von einem Rattern, woraufhin das Licht angeht, und ein neues Bild aufblendet, störungsfrei diesmal, so dass es unklar ist, ob es sich um ein Foto, einen Film, ein Standbild aus einem Film oder etwa um ein digitalisiertes hypernaturalistisches Gemälde handelt.
Durch ein Netzwerk aus rechtwinklig verstrebten Eisenstegen sieht man in eine Höhe oder Tiefe, in der in unbestimmter Entfernung farbige Lichter blinken. Am Rande des Gesichtsfeldes eine Kette aus Eisensteggittern, die sich in engen Schwüngen an eine Backsteinwand schmiegt und in der schwarzen Ferne verschwindet.
Worte spritzen als zu Buchstaben geformte Pixel über den Monitor: Gitterrost lautet ein beständig wiederkehrendes. Das Bild darunter scheint zu wackeln, aber das könnte auch ein Übertragungsfehler sein, wirft der Techniker ein, der die Interferenzen an seinem Kontrollmonitor ständig im Blick hat.
„Lassen Sie sich nicht ablenken!“, befiehlt der Operator der Datensammler. Seine Stimme hallt durch das Schaltzentrum. Obwohl er nur den einen gemeint und eigentlich angesprochen hat, sorgt er dafür, dass alle die Mahnung vernehmen. Mit geduckten Köpfen ziehen sie sich an ihre Positionen zurück.
Ein nächstes flirrendes Wort ist Pummerin, dessen Bedeutung sich nicht sofort erschließt, auch nicht, wenn andere Worte es umreihen, die mit ihm in Verbindung zu stehen scheinen, wie 64 Meter, und der Name einer Stadt, Wien, und der sich an diese möglicherweise anschließenden Assoziationsketten.
Die Kontrolle registriert einen Aufruhr in den Ganglien: Gewisse Bildereignisse, allzu rasche Wechsel von Helligkeiten bestimmten Grades, von weißen Blitzen, können epileptische Anfälle auslösen, warnt der Beipackzettel jedes Videospiels.
Schauer durchfahren das Gehirn, und ich werde mir mit Krämpfen im Bauch, die aber wohl eher um das Herz herum oder vielleicht auch in ganz anderen Gegenden meines Nervensystems lokalisiert sind, meiner Situation bewusst: Ich hänge mit einer Hand am Gitterrost der Treppenschlange gefühlte 1000 Meter über dem Boden.
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