Eine ungeschriebene Jahresendgeschichte
Unlängst wurde ich in der Fußgängerzone von einem Mob radfahrender Kids verfolgt, weil ich mir ihr arrogantes Verhalten nicht gefallen ließ. Ich bin einsneunzig lang und kann leicht den Eindruck einer Gewalttätigkeit erwecken, die mir fremd ist. Also kam ich allein mit den rabiaten Kindern klar und schlug sie mit lauten Worten in die Flucht.
Dennoch sprang mir ein Passant bei, der ebenso rasch verschwand wie meine Verfolger. Als ich ihm am nächsten Tag wieder begegnete, bedankte ich mich für seinen Beistand, und als er mir sein Motiv erklärte, nannte er mich einen „alten Mann“.
Es war das erste Mal, dass es mir von einem Fremden so deutlich vor Augen geführt wurde: Du bist nicht einfach ein Mann, sondern ein alter Mann – mitsamt der Assoziationen von Gebrechlichkeit und Hilflosigkeit, die allerdings noch nicht auf mich zutreffen. Noch nicht, aber wohl bald.
Ein junger Mann wie im Klischee war ich nie. Zu wenig sportlich, zu wenig übermütig, zu bedächtig und zu intellektuell und, nicht zuletzt, zu wenig auf den Beifall von Frauen versessen. Seit 40 Jahren hat sich mein Selbstbild nicht wesentlich verändert, und Fotos belegen eine ziemliche Identität. Inzwischen bin ich äußerlich unverkennbar ein anderer. Ein alter Mann, wenngleich noch kein Greis.
Es geht auf das Ende zu, und da das Empfinden der Zeit sich tatsächlich physiologisch beschleunigt, nähert sich der Schluss schnell.
Seit langem habe ich die Angewohnheit, in den dunklen Monaten eine Jahresendarbeit in Angriff zu nehmen. Für diesmal hatte ich mir die letzten Tage von H. P. Lovecraft vorgenommen und mit Notizen und Entwürfen begonnen. Lovecraft, mit dem ich vor 40 Jahren bekannt wurde, war ein mittelloser Sonderling wie ich.
Da erwischt mich die Drohung der Obdachlosigkeit. Ich sehe mich um in meiner Behausung der vergangenen 14 Jahre und überschlage den Bestand. Gegenstände gleich welcher Art waren mir seit jeher gleichgültig, und so besitze ich wenig und nichts, dass ich vermissen werde.
Mein Schreibtisch ist ein robuster Küchentisch, mindestens so alt wie ich, den mir vor 20 Jahren ein Freund überließ, dessen Wohnung ich bezog. Ansonsten habe ich zwei Stühle, und statt in einem Bett schlafe ich auf einer Matratze am Boden. Sperrmüll, den keiner eines Blickes würdigt.
Wer meine Wohnung betreten würde, sähe vor allem Bücher. Alte Bücher, denn neue habe ich mir schon lange nicht mehr leisten können und sie auch nicht entbehren müssen, da die öffentliche Bibliothek in meiner kleinen Stadt außergewöhnlich gut bestückt ist.
Auf Trebe werde ich nicht viel mitnehmen können, aber falls ich doch noch eine Wohnung finde, werde ich mich von den Büchern trennen. Wertvolle Bände sind nicht dabei und meine Interessen so weit gefächert, dass ich lediglich eine Sammlung von rund 100 Bänden mit wahren Kriminalfällen angelegt habe, um die es mir Leid tun müsste, falls ich auf dieses Thema zurückkommen würde, was nicht sehr wahrscheinlich ist, da ich ein Buch zum Thema verfasst habe. Von dem habe ich noch genau ein Exemplar, das ich behalten werde. Aus sentimentalen Gründen, denn ich weiß, was darin steht, und gegebenenfalls könnte ich es in einer Bibliothek einsehen oder im Internet erstehen.
Irgendwann vor zirka 30 Jahren habe ich bei einem Umzug einen Ordner mit meinen ersten Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften liegen gelassen. Von den späteren Texten besitze ich zwar einen Haufen Druckexemplare – aber die sind entbehrlich, weil sie in Archiven aufbewahrt werden und teilweise in Online-Archiven abrufbar sind.
Da ich seit zwei Jahrzehnten keine Ausdrucke meiner unveröffentlichten Texte anfertige, befinden sich diese auf Festplatten, Compactdiscs oder USB-Sticks, die nicht viel Platz beanspruchen. Damit sowie mit meinen Notizbüchern und Zeichnungen könnte ich einen Umzugskarton füllen, den ich zwar nicht auf Trebe mitnehmen könnte, für den sich aber bei einem Freund oder einer Freundin Platz fände – falls ich noch zu Lebzeiten Verwendung dafür haben sollte. Oder als Vermächtnis? Ich habe keine Familie, und dass sich ein Archiv für meine Werke interessiert, ist gegenwärtig nicht anzunehmen.
Statt der Jahresendgeschichte also die Lebensendabrechnung. Ein, vielleicht zwei Kartons mit Papieren und elektronischen Datenträgern – um mehr Ballast muss ich mich nicht sorgen.
Seit einem Jahr benutze ich keinen Rechner mehr, sondern ein Smartphone. Das passt nicht nur in die Tasche, sondern hat meine Stromrechnung um 65 Prozent verringert.
Ich bin nicht scharf darauf, auf der Straße zu leben, aber etwas Wesentliches würde mir nicht abgehen. Ist das nicht Freiheit? Das letzte Hemd hat keine Taschen. Mein Lebensapparat hat in den Manteltaschen Platz.
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