Im Amtsgericht zu Stade

Die bürgerliche selbstgerechte Empörung über Kriminalität könnte bei genauer Betrachtung auf die zurückschlagen, die mit dem Finger auf „die anderen“ zeigen, denen sie das Böse zuschreiben.

Soziale Hintergründe, aus denen alle Delinquenz entsteht, geraten leicht aus oder gar nicht erst in den Blick – bezüglich der Gier von wirtschaftskriminellen Großbetrügern, über die nur äußert selten etwas aus den Medien zu erfahren ist, weitaus weniger allemal als die entsprechenden Delikte begangen werden. Sechs Jahre berichtete ich aus der Wirtschaftsstrafkammer am Landgericht zu Stade, allermeist allein. Heute schaut kein unabhängiges Auge mehr hin.

Im Focus stehen Verbrechen von Randgruppen, zu denen wiederum den sozialen Quellen oberflächlich und frei nach Klischee nachgegangen wird.

Misslungene „Integration“ hat in der Kleinstadt Stade tiefe Spuren im öffentlichen Bewusstsein hinterlassen. Das Verfahren vor dem Jugendschöffengericht am Amtsgericht, das ich heute beobachtete, steht für viele.

Amtsgericht Stade vor Saal 109 (Zeichnung: urian)

Monate her, dass ich unweit des Tatorts mit einem der drei Angeklagten über die Causa sprach. Er ist vorbelastet, bei einer Verurteilung drohte ihm Gefängnis. Drohte ihm ein Jahr lang, bis der Prozess endlich begann.

Jugendrecht besagt, dass die juristische Aufarbeitung möglichst zeitnah zur Tat geschehen soll, um gegebenenfalls erzieherisch einwirken zu können. Anfang der 2000er kniete ich mich in die Materie und schrieb eine Reportage-Serie über Jugendkriminalität: in puncto „zeitnah“ hat sich nichts geändert. Die Verfahren liegen in der Regel viel zu lang im Schrank; die Überlastung der Justiz ist chronisch und unabhängig vom Steigen oder Sinken der Fallzahlen.

Zeichnung/Foto: urian
Bahnhof Stade: Blick vom Tatort nach Norden

6. Oktober 2016: Rangelei und Faustschläge im Umfeld des Bahnhofs, wo die Gruppe um die drei später Angeklagten, Männer um die 20, beisammen steht.

Ich höre, wie etwas einrastet bei den Einwohnern, die ihre kleine Stadt nur durch die Windschutzscheibe wahrnehmen, Politiker und Polizisten inklusive. Ihnen ins Stammbuch geschrieben: Nicht alle unter 30 sind verdächtig, weil sie sich im Bahnhofsareal aufhalten. Der Bahnhof ist eine Drehscheibe und Treffpunkt für viele, die nicht lebenslänglich in einer Blechkiste unterwegs sind.

Auf die Gruppe an der Nordseite des Bahnhofs zwischen Zebrastreifen und Skaterbahn kommt eine zweite zu. Aus ihr heraus pöbelt einer schon von Weitem. Er hat mit einem von den anderen ein Problem, über das niemand etwas wissen will. Sie schlagen sich, der Angreifer kommt zu Fall.

Den beiden Zeugen, die an diesem fünften Verhandlungstag angehört wurden, gelang es, die anderen „auseinanderzunehmen“. Dann löste sich die Lage auf.

Ich stolperte über den Ausdruck; ein Anwalt, den ich darauf ansprach, hatte sich an den Neologismus schon gewöhnt. Jemand auseinanderzunehmen hieße für mich, zumal in jener Situation, das Gegenteil des Gemeinten: die Streithähne auseinanderzuhalten.

Auf ziemlich das Gegenteil dessen, was beweisbar ist, schien die Anklage ursprünglich hinaus zu wollen. Am Ende plädiert auch sie auf Freispruch. Im entsprechenden Urteil schloss das Gericht nicht aus, dass der Geschädigte der Angreifer war und die Angeklagten in Notwehr gehandelt hatten.

Wozu dann aber der Aufwand, der bei einem Freispruch zu Lasten der Landeskasse geht? Neben den internen Ausgaben sind das vor allem die Honorare der Verteidiger.

„Die Ermittlungsergebnisse waren nicht verwendbar“, fasst einer von ihnen die Beweisaufnahme zusammen. In freier Übersetzung: die Polizei hat sich mit einem Minimum begnügt, und der Staatsanwaltschaft war das zunächst ausreichend.

„Die Schuld ist immer zweifellos“, beschreibt der Offizier in Franz Kafkas Strafkolonie sein Verfahrensprinzip. Die Schuld kann bei einem noch so gründlich geführten Prozess zweifelhaft bleiben – auch nach dem Urteil, das von der Schuld gerade so viel ergründet haben muss, um zu einem begründbaren Strafmaß zu gelangen. Das ganze Ausmaß muss dabei nicht erfasst worden sein.

Fotos: urian
Lebensmittelpunkt der Angeklagten: das Altländer Viertel in Stade

Dass die drei jungen Männer ohne viel Federlesens auf die Anklagebank kamen, hat vermutlich mit ihrer Vorgeschichte zu tun, die die ihrer Familien ist. Mit den Namen F., C. oder W. ist man in der Kleinstadt gebrandmarkt.

Und haben sie tatsächlich Schuld auf sich geladen, wird sie vergrößert, dramatisiert. (Im Fall Burmeister wurde von der Publizistik für Mahmoud W. auf „Mord“ erhöht.) Die Opfer einer Stadtentwicklungspolitik, die verbrecherische Anfänge hat, werden als Täter überlebensgroß dargestellt, um von ihrer Rolle als Opfer systematischer sozialer Untaten abzulenken. (Mehr über das Quartier hier.)

Ich theoretisiere nicht herum; diese jungen Männer sind nicht die erste Generation, die ich mit einem Stigma erlebe, dass dadurch legitimiert scheint, indem es für „verdient“ erklärt wird.

Zweifellose Schuld und Rechtsstaat schließen sich aus. Damit es so bleibt, gibt es Gerichte, die leider allzu oft die Landeskasse damit belasten müssen, hinter der Polizei her zu putzen.

24. November 2017