Blankeneser Blues
In den späten Wintertagen hatte der Sehräuber Obdach in einem hundertjährigen Backstein-Haus in Blankenese gefunden, um mitten im Häusernest am Hang hinter zwei Brillen- und zwei Fenstergläsern wie eine Eule zu sitzen und, nur gelegentlich den Kopf hin und her drehend, dann und wann mit einem tiefen Ton einen Kommentar zur Weltbühne abzugeben.
In Augenhöhe zogen ununterbrochen Schiffe an ihm vorbei. Ein Grollen kündigte die größeren von ihnen an, bevor sie in den Sichtbereich einfuhren. 11.37 Uhr von links die Bunga Spepang aus Penang, 11.56 von rechts die Freesia von Unifeeder, 12.04 von links im Fernglas: die Nahe, 12.21 von rechts die Hamburg der DFDS Seaways.
Waren die Schiffe fort und hörte er einmal auf, die Tasten zu prügeln, summte nurmehr das Wasser in den Heizkörpern. Die Stille war handfest an diesem Naturrand der Stadt.
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1720 erließ der dänische König, der über Blankenese herrschte, eine Verordnung über das Strandgut. Ein Drittel fiel demnach an ihn, das zweite Drittel an die Blankeneser, die sich als sehr eifrig beim Bergen gezeigt hatten. Das letzte Drittel sollte dem ursprünglichen Eigentümer zufallen, so er sich meldete. Andernfalls bekam der König auch diesen Teil. Sehr genau nahmen es die Blankeneser mit dieser Regelung allerdings nicht.
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Der kastrierte Kater, den der Sehräuber im Tausch für die Aussicht eine Woche lang zu füttern und zu Streifzügen um das Haus herauszulassen hatte, saß auf dem Fensterbrett und rülpste. Ab und zu wandte er dem Menschen den Blick zu, kniff die Augen zusammen und misstraute ihm.
Vom Wind gepeitscht, verzahnten sich die Wellen in diversen gegenläufigen Bewegungen ineinander. Auf der grauen Grundfläche der Elbe zuckte ein kompliziertes Muster aus Gischtkronen und -kämmen, das er vergeblich zu entziffern versuchte. Am jenseitigen Ufer glomm hinter den aufgerichteten Kränen einer Flugzeugwerft ein krankes Gelb in den Himmel hinauf.
Die »Krämereirechnungen« der Hansestadt Hamburg weisen Blankenese als traditionellen Konferenzort aus, an dem die Hamburger Staatsoberhäupter empfingen und mit den Abgesandten anderer Städter und Landschaften verhandelten.
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Der Winter war mild in diesem Jahr 43 nach Hiroshima. Über dem schneelosen Frost wehte ein Herbst. Die Natur, die alle paar Jahrtausende kreißte, um ein paar biblische Monstren auf der Erde herumlaufen zu lassen, und die dabei auf die paar mehr oder weniger Menschen, die sich in ihren Falten und Schründen verkrochen haben, um das Ende gnädig zu erwarten, keinerlei Rücksichten nahm, war schon eine Weile in Aufruhr.
Der Wasserspiegel der Ozeane stieg kontinuierlich an, weil die Eisberge langsam heiß wurden, und das angestaute Wasser drückte in Sturmzeiten heftiger und höher in den Fluss hinein und war nur durch immer gigantischer werdende und riskantere Flutschutzmaßnahmen in den Griff zu bekommen.
Wenn die Erde bräche, wäre Blankenese zuerst dran. Oder, falls das noch etwas dauerte, würde der milieugeschützte Stadtteil relativ rasch ein Opfer der oberirdischen Umbaumaßnahmen zum Schutz vor den Gewalten der Elbfluten.
Schon jetzt war die Gegend gefährlich. Am Strandweg, unmittelbar unter dem von Häusern bedeckten Elbhang, waren in den Wänden der Gebäude Flutschutztüren angebracht. Bei akuter Sturmflutgefahr wurden diese Stahlplatten ausgehängt, damit das ins Haus eingedrungene Wasser ablaufen konnte, ohne die Wände mitzureißen.
Wofern Blankenese nicht unter der Einrichtung eines von den staatlichen Stellen projektierten Schleusentores zu leiden haben würde, wäre bei der nächsten bedeutenden Flut die Unterseite des Hangs garantiert rasiert. Die »blanke Ness«, die weiße Landzunge, der der Ort seinen Namen verdankt, war schon vor 100 Jahren von der Strömung weggerissen worden.
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Durch die Napoleonischen Eroberungen wurde Hamburg französisch. Blankenese blieb unter dänischer Herrschaft, wodurch seine wirtschaftliche Entwicklung gehemmt wurde. Waren die Blankeneser die ersten Hochseefischer der Gegend gewesen, ging die Fischerei nun drastisch zurück.
Von einer Einquartierung am Elbhang konnten die Franzosen auch deshalb absehen, weil in Blankenese das Nervenfieber grassierte. Am 15. Juni 1814 brannte das halbe Dorf ab; 102 Wohnungen wurden vernichtet.
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Blankenese lag am Rand der Stadt. Nicht dort, wo sie wie im Süden und Norden in die freie Wildbahn hinüberwucherte, sondern am zeitlich entgegengesetzten Ende, im Ursprung der norddeutschen Metropolis, wo einst die Fischer auf ihre Elbacker hinuntergesehen hatten. Die Fahrt mit der S-Bahn endet auf einem altehrwürdigen Bahnhof, dessen Eisenträger seit Kriegsende keinen neuen Anstrich, keine Drahtbürste gesehen hatten. Früher hatte es hier eine Pferdebahn gegeben.
Weite Straßenkreuzungen und eine Einkaufsstraße markierten zwar die Urbanität der Trabantenstädte, aber in Blankenese ging es ruhiger und vornehmer zu als in Harburg und Rahlstedt. In den Gossen lagen keine Bierdosen, niemand hielt die Hand auf, obwohl viel zu holen gewesen wäre.
Am Ende wurde die Einkaufsstraße etwas abschüssig. Hinter einer kleinen Querstraße brach der Aufwurf der Nordlandgletscher zur Elbe hin ab. Die sture, saubere Einkaufswelt verging im alten Gestrüpp wuchernder Wohnstätten.
Die am Abend nur dezent beleuchteten, regennassen Treppen schlangen sich um die auf aberwitzigen Vorsprüngen hockenden Gebäude. Für ein paar Hunderte von Metern kam der Flachländer hie in die wild verwinkelte Landschaft eines verschämten Stiegentraums. Aber er blieb keimfrei.
Am Hang buckelte sich eine Kleingartenkolonie der Architekturträume über den Strom. Was für die Fließbandarbeiter und Beamten das Dorf mit den langen, geharkten Wegen und den grün lackierten Bretterbuden, war für die Professoren und Rechtsanwälte ihr Schlösschen in der Blankeneser Dauerausstellung der Verschrobenheiten.
Der Sehräuber hatte eben den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als er das Geräusch laufender Füße vernahm. Jemand kam in rasender Flucht die Stiege herab auf ihn zu gerannt. Die Stiege fiel steil ab; sie in diesem Tempo herabzustürzen, hieß, ein Unglück zu riskieren. »Geben Sie Acht«, rief er, »Sie werden fallen.«
Der Laufende schoss aus der Dunkelheit, stolperte… Der Sehräuber streckte den Arm aus, um den Fall zu bremsen. Es handelte sich um einen jungen Mann. Während er sich loszureißen suchte, starrte er den Sehräuber aus verstörten Augen voller Entsetzen an.
»Nein«, keuchte er, »nein… lassen Sie mich…«
Überrascht lockerte der Sehräuber den Griff. Aufschluchzend stürzte der junge Mann davon, nahm die letzten Stufen und lief unten über den Strandweg.
Der Sehräuber sah eine Gestalt ins Dunkel gleiten. »Ist da jemand?«, rief er.
Keine Antwort. Aber plötzlich durchzog ein Grollen den Erdboden, so dass er schwankte. Aus den Mauern fielen Steinbrocken.
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»Hier in Blankenese«, notierte ein Reisender 1789, »findet man ohnstreitig noch die ersten und besten Copien von den starken und groben Körpern unserer Vorfahren zu den Zeiten Hermanns und Karls des Großen. Der Menschenschlag mißt nicht allein sehr stark in die Höhe, sondern auch in die Breite, und es möchte einen beynahe bange werden, wenn man solch einem schwerfälligen, starkknochigen Menschen begegnete.« Das Straßenbild heute füllt ein anderer Typus mit von Meerwind und -salz blank geschliffenen Gesichtern.
Ein Traum schreckte ihn eines Nachts auf. Durch das elbseitige Fenster schien der Mond. Er setzte sich auf und sah hinaus. Der Strom war vereist. Schwere Schollen hatten sich auf den Strandweg geschoben. Mitten im Fluss war ein Dreimaster liegengeblieben. Er glaubte, das Eis zu hören, das gegen die Planken drückte.
Die Kälte war so plötzlich hereingebrochen, dass sie die Matrosen auf den Masten erwischt hatte, wo sie vom Eis umschlungen ihr Leben ausgehaucht hatten. Im Vordergrund kamen vom Ufer her Menschen auf das Schiff zugelaufen.
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Im Blankeneser Zoo lebten die letzten ihrer Klasse, die Bildungsbürger. Sie pflegten noch den alten verschnörkelten Stil, wiewohl die Kasse längst um etliches leerer geworden war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als ihre Environments aus Teakholztruhen und bemalten Tellern, kupfernen Kannen, dickrahmigen Bildern und sonstigen staubfreundlichen Stilleben in den Palais der europäischen Metropolen erfunden worden waren.
Im Häusernest am Hang horteten die letzten Überlebenden der Gründerzeit unverdrossen ihr Wissen von der Welt in Schatullen und Büchern, nahmen ihre zu Dingen komprimierten Anschauungen allabendlich bei knisterndem Kamin vor die Augen und erinnerten sich an vergangene Kulturen. Wie ruhig die Welt doch damals gewesen war, wenn man von den paar Kriegen absah.
Einen seiner nutzlosen Nachmittage vertrieb der Sehräuber an der Elbe. Während er das Ufer abschritt, kam ein kleiner nasser Hund schnüffelnd den Strandweg herauf.
Er war ein Weihnachtsgeschenk, mit dem die Kinder nichts anderes anzufangen gewusst hatten, als es bei der erstbesten Gelegenheit mit großem Gejohle im Fluss zu ertränken. Typische Tierheimmischung, ein waschechter Straßenköter. Eine geraume Weile sah der Sehräuber ihn hinter sich das Ufer entlangzappeln, die Nase zur Fährtensuche über den Sand schleifend.
Irgendwann war der Hund an ihm vorbei, voraus, hinter einer Backsteinmauer, die als Ruine halb im Strom steckte, verschwunden. Der Sehräuber passierte die Schmalseite der Mauer. Das Vieh grub wie besessen halb im Wasser stehend.
Der Unterarmknochen einer Wasserleiche, dachte er und wollte schon weitergehen. Da sah er, dass das Tier tatsächlich etwas mit dem Maul aus der Mulde herausholte, die es inzwischen gegraben hatte. Er nahm das Etwas ganz vorsichtig zwischen die Zähne.
Es war eine Schachtel, die er am Ufer ablegte. Mit hängendem Kopf blieb er neben ihr stehen und sah auf sie herab. Dann schüttelte er sein nasses Fell. Und blickte zum Sehräuber hinüber. Blickte lange. Zwischen den Sträuchern am Strandweg sah der Sehräuber ihn verschwinden.
Den Sand mit jedem Schritt aufschwemmend, ging er zu der Grube, die der Hund hinterlassen hatte. Die Schachtel war daneben liegengeblieben. Ein dunkelbrauner Behälter aus Wurzelholz, der einmal auf einem Schreibtisch gelegen hatte, um zehn französische Zigaretten für Gäste vorzuhalten.
Der Sehräuber klappte den Deckel auf. Innen lag eine Münze. Ihr Rand bestand aus acht Wellenbergen. Ein Efeukranz umschloss ein ihm unbekanntes Zeichen von zwei sich schneidenden, nur bis zur Hälfte ausgezeichneten Kreisen.
Die Kehrseite zeigte oben die Aufschrift »Malta«, unten das Datum »1789«. Dazwischen war ein stilisierter Bienenstock mit 28 Waben geprägt, auf dem groß und breit eine Biene saß. Zu ihren beiden Seiten schwammen jeweils zwei Fische auf- beziehungsweise abwärts.
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Später. In einem Bildband entdeckt der Sehräuber eine alte Daguerrotypie. Sie zeigte ein im Eis der Elbe gestrandetes Segelschiff. Die Kälte war so plötzlich hereingebrochen, dass sie die Matrosen auf den Masten erwischt hatte, wo sie vom Eis umschlungen ihr Leben ausgehaucht hatten. Im Vordergrund kamen vom Ufer her Menschen auf das Schiff zugelaufen, aber nicht um zu helfen, sondern um zu plündern. Bis ins 19. Jahrhundert hinein galten die Blankeneser als passionierte Strandräuber.
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die tageszeitung, Hamburg 11.3.1988
© Uwe Ruprecht
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