Die Legende der Brauerknechte von Stade
Rund 300 Jahre ist es her, da brachte der Winter klirrenden Frost und Schnee, der sich dick auf die Dächer legte. Die Menschen, sie zitterten bereits – im Fieber und vor Angst. Damals warf der Würgeengel seinen Schatten über Stade und brachte mit dem Krieg die Pest.
Unwiderstehlich war der Schwarze Tod durch Norddeutschland gezogen. Er kam aus dem Osten, wo er die Hafenstädte überfallen und niedergerungen hatte. Er hatte sich nach Dänemark eingeschifft und war zugleich weiter marschiert, die Elbe entlang. Im Sommer erreichte er auf seinem blutigen Feldzug Hamburg und Bremen.
Nach Stade war die Beulenpest im Juli aus Glückstadt eingeschleppt worden, im Gepäck einer Magd, die hatte entrinnen wollen. 3500 Opfer waren es in Glückstadt – so viel Tote wie Stade Einwohner hatte. Zum vierten Mal suchte die Seuche die Stadt heim.
Zur selben Zeit schlug bereits eine andere Geißel die Stadt: der Krieg. Von den Krankheiten der Untertanen ließen sich die Mächtigen auf ihren Heerzügen nicht stören. Vielmehr Seit an Seit mit dem Schwarzen Tod zogen sie auf Beute aus.
Im Sommer belagerten die Dänen die Stadt, die noch von den Schweden besetzt wurde. Oder war es umgekehrt? Irgendwer heimste immer Kasematten und Kontore ein und wurde vom nächsten Kriegsherrn vertrieben. Einmal nur in der Geschichte vollzog eine Machtübernahme sich friedlich.
Die Belagerer mussten die Festung erst sturmreif schießen, bevor die von der Pest geschwächten Verteidiger kapitulierten. Der König nahm die Eroberung höchstselbst in Augenschein.
Zertrümmerte Mauern, 100 Gebäude durch die Kanonade zerstört. Dazwischen vernagelte Häuser, deren Bewohner von der Pest ausgelöscht worden waren; etliche andere trugen am Türpfosten ein weißes Kreuz zum Zeichen des Befalls. Rasch verließ der König die elende Stadt. Gleich darauf wurden die Tore geschlossen und die Quarantäne ausgerufen.
Im diesem Winter wütete die Pest am ärgsten. Aller Handel war zum Erliegen gekommen. Von der Kuppe des Festungswalls winkten Frauen ihren Männern zu, die auf Reisen gewesen waren, als die Stadt abgeriegelt worden war, und nicht zurückkehren durften. Die Erkrankten wurden abgesondert. Bald waren das Pockenhaus und der Siechenhof überfüllt.
Die Pest war überall, jede Familie hatte ihren Fall. Die Barbiere bestimmten aus ihren Reihen durch das Los einen »Pestmeister« für die medizinische Versorgung der Kranken. Doch der Erwählte weigerte sich und wurde vom Magistrat vor die Wahl gestellt, das Amt anzunehmen oder seinen Beruf aufzugeben und aus der Stadt geworfen zu werden. Ärzte, vermögende Bürger und Geistliche waren beim ersten Anzeichen der Seuche geflohen.
Wer bleiben musste, hielt sich zu Hause auf, um den tödlichen Miasmen in der Luft zu entgehen. Andere dagegen glaubten, bewegte Luft vertreibe die Keime, die in den muffigen Kammern nisteten, und liefen viel herum. Ein Heilmittel hatten sie alle nicht, nur ihren Glauben.
In der engen, von Mauerwällen umgürteten Festungsstadt breiteten sich die Toten aus. Die Leichen blieben liegen, wo sie fielen, in den Zimmern, auf den Gassen. Niemand rührte sie an. Die Angst vor Ansteckung war übermächtig.
Die ersten amtlich bestellten Leichenträger, ausgemusterte Soldaten, waren von der Seuche hingerafft worden. Dann waren die zwangsverpflichteten unteren Beamten weggestorben. Endlich legte niemand mehr Hand an. Lieber wollten die Bürger Hungers sterben als mit schwärendem Leib unter Schmerzen.
Die Überlebenden würden ein Weihnachten in Angst verbringen. Kein Geburtsfest, sondern eine anhaltende Trauerfeier.
Bloß Peter Menken kannte solche Sorgen nicht. Mag sein, es lag an dem Bier, von dem er allzu viel genoss. Denn Peter war Brauerknecht, da fiel immer ein Schluck ab.
Das allein aber war es nicht, denn die übrigen Brauerknechte sorgten sich sehr wohl um die eigene Gesundheit und die ihrer Familien. Denen half kein Bier. Obschon der steinalte Braumeister, der die vorige Epidemie überstanden hatte, darauf schwor: Echtes Eierbier im Zinnkrug macht widerstandsfähig gegen Seuchen. Wahrhaftig waren die Brauerknechte inmitten allgemeinen Siechtums kräftige Kerle geblieben.
Peter Menken scherte sich nicht um die Pest. Peter war schon krank, er war verliebt. Er war überzeugt davon, dass Gertrud ihm schöne Augen gemacht hatte. Sie wartete nur auf ihn, dessen war er gewiss.
Oder vielleicht doch nicht ganz so sicher, wie er es gern hätte. Was ihm schlaflose Nächte bereitete, die er mit langen grüblerischen Gängen durch die Gassen der ausgestorbenen Stadt zubrachte.
Gertrud war die Tochter eines der »Achtmänner«, acht achtbaren Bürgern, die das Sagen in der Stadt hatten – wenn es denn nicht Krieg und Pest betraf; da waren auch sie ratlos.
Peter Menken, der Biertonnenträger, durfte sich auf die Patriziertochter überhaupt gar keine Hoffnungen machen. Würde Gertrud ihm ihre Hand auch hinstrecken – ihr Vater schlüge sie ihm aus. Leichtfuß Peter galt nur unter den Brauerknechten etwas, und die galten selbst nicht viel.
Es sei denn, fantasierte Peter, er fände etwas, das den Vater so schwer beeindruckte, dass der froh sein dürfe, wenn er, der nun berühmte Peter, Gertrud freien würde. Mit diesem Hirngespinst trottete der verliebte Knecht durch die Holpergassen.
Er achtete nicht auf den Weg, wenn er sich ausmalte, wie Gertruds Vater ihm die Hand auf die Schulter legen, ihn einen »tapferen Kerl« nennen und ihm seine Tochter in den Arm legen würde. Wie Gertrud dann entzückt die Augen aufschlüge. Wenn – wenn ihm nur etwas gelänge, das niemand anderer tun könne!
Der Achtlose stieß bisweilen an eine Häuserwand, die sich unvermutet knickte, und stolperte über Unrat, der im Mondschatten dämmerte. Gegen drei Uhr in der Nacht zum 17. Dezember passierte ihm erneut ein Missgeschick.
In der finsteren und schmalen Lämmer Twiet stieß er an einen Körper am Boden. »Na, schläfst du deinen Rausch aus?«, fragte Peter, nachdem er sich an der Hauswand gefangen hatte. Aber der im Dunkeln antwortete nicht.
Da fiel es Peter wieder ein. Es war ja Pest, und der hier war gestorben, als er vielleicht ebenso ruhelos umher gestreift war. Die Pest war eine üble Sache, dachte Peter flüchtig.
Gertruds Vater war ganz eingenommen von seiner Tätigkeit im »Collegium Sanitatis«, wo er neben dem Bürgermeister, zwei Richtern und einen anderen Achtmann über die Beachtung der Pestordnung zu wachen hatte. Ihre größte Sorge galt den liegen gebliebenen Leichen. Niemand mochte sie fortschaffen.
Niemand außer mir!, erkannte Peter plötzlich seine Chance. Die Leiche zu seinen Füßen blieb, wo sie war – das musste richtig organisiert werden.
Am Morgen trommelte Peter die Brauerknechte zusammen und hielt ihnen eine Rede: »Sich nicht um die Toten zu kümmern, schadet den Lebenden!«, rief er aus. Er redete auf die Knechte ein wie auf kranke Hunde. »Wir trinken vorher reichlich Eierbier zum Schutz. Außerdem hat der Barbier ein Kraut empfohlen, das wir rauchen sollen als Abwehrschleier gegen die Miasmen, wie es der Imker bei den Bienen tut.«
Sieben andere Brauerknechte hörten auf seine Worte und folgten ihm. Die acht Männer legten das kurze Stück von Knechthausen in die Lämmer Twiet zurück und schulterten den Toten der Nacht. Für Särge gab es kein Holz; das brauchten die Lebenden in der abgeschlossenen Stadt zum Heizen.
Gegen den Atem des Schwarzen Todes gefeit mit der Pfeife, in der das übel riechende Kraut brutzelte, ging Peter voran. In diesen Nächten trugen die acht Brauerknechte alle Toten, die in den letzten Wochen angefallen waren, aus der Stadt. Schellen an ihren Gewändern kündigten sie den Bürgern an, die schleunigst auswichen.
Weil der Friedhof längst überfüllt war, wurden die Pestopfer in die Kalkgruben auf der Horst geworfen. Hernach, erzählt man sich, als die Brauerknechte die Stadt von den Leichen gereinigt hatten, verließ der Schwarze Tod die Stadt. 650 Seelen, ein Fünftel der Einwohnerschaft, nahm er mit.
Peter warb also um Gertrud. Um zu demonstrieren, was er geleistet hatte, setzten ihn die Knechte auf einen Baumstamm und trugen ihn wie einen Toten. Wie zur Reinigung wurde er mit Wasser übergossen. Mit einer Tannenkrone erschien er vor der Angebeteten.
Der Tugendhaften wurden die Augen verbunden, während die Brauerknechte mit Bier anstießen. Gertruds Vater schüttelte den Kopf über diese rüden Bräuche. Die Brauerknechte aber werden seither in der Stadt verehrt, weil sie die Angst vor dem fremden wie die vor dem eigenen Tod überwanden.
Peter Menken indes, selbst gerührt und geläutert durch seine Tat, überlegte sich die Heirat noch einmal. Er verließ die Stadt und wurde Wandergeselle. Wenn das Bier an Fastnacht reichlich fließt bei den daheim gebliebenen Brauerknechten, hängen sie daher ein hölzernes Petermännchen zur Dachluke heraus, dass es nichts abbekommt.
Pestpeter zog es fortan dorthin, wo das Übel war. An der stinkenden Pflanze, die ihm der Barbier gegeben hatte, fand er Gefallen. Es war Scabiosenkraut, Scabiosa succisa, auch Teufelsbiss genannt oder Peterskraut. Und weil er immer eine Pfeife im Mund hatte, heiht he ook op Plattdütsch »Peter mit de Piep«.
Die Geschichte von Peter Menken ist die einzige bedeutende Sage Stades. Aus der Zeit des Pestzugs von 1712/13 stammt die Tracht der Brauerknechte. Das Privileg zum Totentragen und die Petermännchen-Legende sind möglicherweise 200 Jahre älter. Bis heute sind die Mitglieder der Brauerknechtsgilde die bevorzugten Totenträger der Stadt. Bei der einst im Gildehaus »Knechthausen« in der Bungenstraße aufbewahrten Holzfigur des Pestpeter handelt es sich ursprünglich wohl um Reklame für belgisches Bier.

Literatur
M. Boyken: Wie Peter Menken den Stader Schlüssel stahl, Stade 1957 | S. Kroll: Die Pest in Stade 1712 und ihre Opfer, Stader Jahrbuch 1990; Stade um 1700, Stade 1992 | M. Rumpf: Das Petermännchen von Knechtshausen in Stade, Zeitschrift für Völkerkunde, Hamburg 1969 | K. Waller: Die Brauerknechtsgilde der Stadt Stade, Stade 1923 | U. R. in Hamburger Abendblatt, Silvester 2000
© Uwe Ruprecht
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