Allmählich verfertigte Gedanken
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Plötzlich überfällt es mich: es gibt wahrhaftig etwas, worüber ich nie geschrieben habe, obwohl mir aus dem Stegreif allerhand dazu einfiele. Mehr noch handelt es sich um einen Teil dessen, was ich meine Lebensarbeit nenne.
Als »Graphic Essay« bezeichne ich es, aber eigentlich zeichne ich Comics.
Absatz und ein Einschub für Jüngere.
Deutsche meiner Generation halten Comics für Kinderkram und werden mit dieser Auffassung zu Grabe getragen werden. Ich halte sie für eine eigene Kunstform – aber während der ersten vier Jahrzehnte meines Lebens bin ich damit entweder auf Unverständnis, mitleidiges Lächeln oder wütende Erwiderung gestoßen bei der Mehrheit der Minderheit, mit der solche Erörterungen anzustellen überhaupt möglich ist.
Freilich beginnt auch meine Geschichte mit den Comics in der Kindheit. Ich kannte mich gut aus. Selbstverständlich war ich mit Hansruedi Wächers Produktion vertraut. Tibor, Falk oder Sigurd gab es für Kinder im niederdeutschen Dorf auf dem Jahrmarkt oder wenn bei sonstigen Gelegenheiten Buden aufgebaut wurden, wie zum Schützenfest.
Ich war in einer privilegierten Position und bekam außerdem die druckfrischen Hefte von Superman und Magnus (SF mit Robotern) zum Frühstück – 1966 war das (ich habe mich bei W. J. Fuchs/R. Reitberger, Comics, 2. Aufl. Reinbek 1974, vergewissert).
Denn mein Vater war Pressevertriebsfahrer. Ich kannte also auch die Comics in den Zeitungen, voran die Hamburger Morgenpost mit Phantom. (Der Zeichner der Strips, die ich sah, dürfte derselbe gewesen sein wie von Magnus: Russ Manning.)
Ob mein Vater die Hefte abzweigte oder kaufte, weiß ich nicht. Jedenfalls war auf dem niederdeutschen Dorf an Comics sonst kein Herankommen, auch nicht für die Eltern, die noch lange nicht sämtlich Autofahrer waren. Am ehesten hätte sich der Vater eines Nachbarjungen als Bahnpendler im Hamburger Hauptbahnhof Hefte verschaffen können.
Billig waren die Hefte nicht, galten aber irgendwie als unanständig. Wie und warum erklärte keiner, und heute weiß ich, dass die Erwachsenen es auch nicht wussten.
Comics zu lesen war nicht so pervers wie Pornografie – aber in die Richtung ging es schon. Als ich dann anfing, Bücher zu lesen, war mein Ruf im Dorf ganz ruiniert. Und ich las keine Kinder- oder Jugendbücher; der erste Band, bei dem ich begriff, womit ich es zu tun hatte, war eine Sammlung Storys von → Ambrose Bierce.
Ich hatte Skandal gemacht, als ich meinen ersten Liebesbrief schrieb, in dem ich manche Substantive durch eine Zeichnung des Gegenstandes ersetzte. Ich war acht, und die Adressatin war die Tochter eines Bekannten meines Onkels – kurz gesagt: die Dorfspießer erklärten mich für verrückt. Daran hat sich in mehr als einem halben Jahrhundert nichts geändert.
Nichtsdestotrotz habe ich mich weiter mit Comics praktisch wie theoretisch beschäftigt – und dennoch keine Zeile über das Medium an und für sich geschrieben.
Die näheren Gründe für diese Auslassung sind für die Sache ohne Belang. Dass sie vorliegt, bedeutet jedoch, dass ich frische Betrachtungen anstelle und nicht, wie auf anderen Gebieten, über längere Zeit aufgebaute Gedankengänge nachzeichne.
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Um mit dem Anfang zu beginnen: sechs auf unerklärliche Weise als Ausschnitte vor mir liegende Panels von Wäschers Nick. Es könnten auch sechs oder neun andere sein.
In einem literarischen Text würde es sich gehören, die Bilder zu beschreiben. Das erübrigt sich hier – wobei der Blog, wie er sich mir gerade zeigt, als Ablauf von Zeichenkolonnen in einem Rechteck, Ähnlichkeiten mit einem Comic aufweist.
Wäschers Zeichnungen sind gerade so viel und nicht mehr: Zeichen zum schlagartigen Wiedererkennen. Eine Kurzschrift der einfachsten Repräsentation. Die Kombination verdeutlicht, wie das einzelne Bild seine Bedeutung von der Sequenz erlangt, in der es erscheint.
Und die Geschichte, die sie erzählt, ist stets die gleiche. Es wird gekämpft und geflohen, geklettert und gesprungen.
Neben der Beziehung von Text und Bild hat mich die »Rinne« (Scott McCloud) vor allem fasziniert: was sich im Kopf während des Abgrunds zwischen den Panels ereignet. Wie die Sequenzierung auf die Einzelbilder zurück strahlt und deren Zeichencharakter verändern kann.
Ich lege keinen Wert auf den Besitz von Büchern, sie sammeln sich einfach so an, und viele verschwinden wieder. Comics sind kostspielig; die Bände, die in meinem Regal stehen, waren Schnäppchen.
Eine zufällige, aber gleichwohl bezeichnende Auswahl: der letzte Teil der Jack-the-Ripper-Trilogie From Hell von Eddie Campbell und Alan Moore; eine Auswahl mit Will Eisners Spirit; zwei Bände aus der Feder von David Mazzucchelli, Batman – Das erste Jahr und Stadt aus Glas nach Paul Auster; David Zane Mairowitz‘ und Robert Crumbs Kafka.
Graphic Essays
→ Vom Verhängnis des Glasbläsers
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