Eindrücke von einem zwielichtigen Ort
Der Aufzug kommt. Lange nur ein notwendiges Übel, um in klaustrophoben Kabinen die oberen Etagen der Hochhäuser zu erklimmen, schmücken sich die Gebäude neuerdings mit Panoramaliften, die ein bisschen Spektakel in den Büro- und Wohnalltag bringen.
Doch wer sich nach Aufzugserfahrungen erkundigt, bekommt zuallererst Schauergeschichten zu hören. Wie die von dem Lift, in den oft mehr Personen einsteigen als zugelassen sind, und der dann ein Stück absackt, bevor die Tür sich auf eine Backsteinwand öffnet. Wie oft ist man im Aufzug steckengeblieben, wie oft hatte man Angst davor?
Der Gegensatz könnte kaum größer sein. Der Aufzug gilt als das technisch sicherste Transportmittel überhaupt; für die Statistik ist Treppensteigen gefährlicher. Trotzdem gibt es in den USA Spezialkliniken für Liftphobien.
Die Hersteller der Anlagen verwenden die meiste Mühe darauf, die Liftfahrt zu einem unmerklichen Ereignis zu machen. Um so stärker der Effekt, wenn sie bemerkt wird. Dann handelt es sich immer um einen Notfall – jedenfalls subjektiv.
Ein Ruckeln der Kabine; ein Gran zu viel Anpressdruck; die Schwelle, die entsteht, wenn der Fahrkorb nicht exakt passend zur Tür auf der Etage hält: Jede Unregelmäßigkeit appelliert direkt an Todesangst.
Die Aufzug-Hersteller verwenden ihre ganze Sorgfalt auf die Sanftheit des Hebens und Senkens. Der ideale Aufzug reduziert die Fahrt auf ein Nichts. Ein fast Nichts an Zeit, nur ein Hauch von Bewegung. Heben und Senken, so unbewusst wie das Atmen.
Der Aufzug irritiert die Sinne und zerhackt den Raum mit Kabinenstücken. Er verbindet lediglich das Erdgeschoss mit dem Stockwerk, in dem der Liftfahrer sein Büro oder seine Wohnung hat. Die übrigen Etagen sind unbekannt. Der Liftfahrer durchquert sie täglich, aber eingeschlossen in der Kabine, und so durchquert er sie eigentlich nicht.
Auf den ungesehenen Etagen könnten die abstrusesten Dinge geschehen, und er hätte keine Ahnung davon. Die fremden Stockwerke, die er durchrast, existieren für seine Wahrnehmung nicht. Nicht einmal als Vorbeiwischen wie in Auto oder Eisenbahn.
Der Aufzug bewegt sich wie ein Geschoss zwischen den Geschossen. Desorientiert zieht der Liftfahrer sich aus der äußeren auf seine innere Realität zurück.
Die Auffahrt gemahnt an das Geburtstrauma, der Fall an den Tod. Während der blinden reizarmen Fahrt durch den Schacht verwandelt Enge sich unweigerlich in Angst.
Sichtbares wird hinzugefügt: Langsam steigt die Lichtsäule und zeigt an, wie hoch hinauf der Aufzug zur Plattform des Fernsehturms vorgedrungen ist. Insofern sind die neumodischen gläsernen Aufzüge ein Fortschritt an Wirklichkeit. Sie machen die Fahrt wieder erfahrbar. Wie ehedem der Lift im Treppenauge in den europäischen Bauten der Jahrhundertwende, der auf- und abstieg durch die Stiegenspirale.
Ein knappes Lächeln beim Eintreten, dann starren die Passagiere vor sich hin. Die Liftkabine, die Fremde für eine Handvoll Augenblicke zusammenzwingt, ist ein Ort der Beklemmung. Vor der Tür beginnt es, mit dem Kampf um den Platz auf den paar Quadratmetern Gehäuse. Schulter an Schulter schiebt man hinein.
Die sonst sorgsam gehüteten persönlichen Sphären stoßen aneinander. Das ungeschriebene Gesetz, Fremde nicht zu berühren, wird für sich dehnende Sekunden gebrochen. Das offene Ohr registriert ahnungsvoll jedes Schaben und Knacken der Maschine. Gespräche könnten mitgehört werden und unterbleiben daher.
Das Auge sucht Halt und studiert inniglich die Ausstattung der Kabine. Gott segne den Sprayer, der etwas Lesbares hinterlassen hat, verflucht seien die Hausbesitzer mit ihrem Hang zu schmutz- und zeichenresistentem Edelstahl. Nur ein Notfall bricht das Schweigen.
Im Steckenbleiben zeigt sich, dass jede Kabine zum Kerker werden kann. Der Aufzug, in den der Mörder nach der Tat eingeschlossen ist, wird in Louis Malles Film Fahrstuhl zum Schafott zur Vorahnung der Todeszelle.
Für eine Figur von Heinrich Böll bedeutet der Paternoster ein zeitweiliges Asyl. Allmorgendlich vergewissert Rundfunkredakteur Dr. Murke sich durch ein »Angstfrühstück«, dass er nicht ganz teilhat an den regulierten Lebensläufen am Arbeitsplatz, indem er nicht in »seiner« Etage anspringt, sondern einmal ganz oben herum fährt und »voller Angst auf diese einzige unverputzte Stelle des Funkhauses« starrt, wo die Kabinenkette kehrtmacht.
Dem Raum des Ausgeliefertseins und der erzwungenen Intimität unter den Liftfahrern entspricht spiegelbildlich ein Freiraum für Schamlosigkeit. Auch ohne Steckenbleiben genügen die Sekunden Ein- oder Zweisamkeit für versteckte Handlungen: einmal noch in der Nase popeln, am Sack kraulen…
Der Katalog des Unbeobachteten, das sich im Aufzug abspielt, ist ungeschrieben. Der Aufzug ist ein zwielichtiger Ort, an dem das unvorhersehbare Öffnen und Schließen der Tür Geheimnisse enthüllt und schafft.
Die Aufzugskabine ist ein Zwitter-Raum, öffentlich und intim zugleich. Wenn die Tür sich schließt, entsteht mitten im Verkehrsgetriebe des Hochhauses Abgeschiedenheit.
Emotional und symbolisch pendelt der Aufzug zwischen den Extremen, zwischen Tod und Leben, zwischen Angst und Lust. Die Angst erzeugt ihre eigene Lust: Die Geisterbahn auf dem Jahrmarkt bietet einen simulierten Absturz. Angstlust kommt zum Höhepunkt als Himmelfahrt.
In der Architekturgeschichte zumal ist der Lift ein Emblem für visionäre Himmelsstürmerei; sogar ein »Fahrstuhl zu den Sternen« wurde ernsthaft geplant. In einem Reklame-Clip, der im Aufzug spielt, durchschlägt die Kabine das Dach, und der Liftfahrer wird zum Vogel. Ein nicht gänzlich fantastisches Bild, sondern ein Sicherheitsrisiko.
Auch die endgültige Überwindung der Schwerkraft, wenn »ein nur mit einer Person besetzter Fahrkorb vom Gegengewicht mit erhöhter Geschwindigkeit gegen den oberen Schachtabschluss gezogen«, der Aufzug zur Rakete wird und ungebremst gen Himmel rast, der »Aufwärts-Fall«, muss gesichert werden.
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Mein erster Aufzug:
das Hebezeug für Autos im Alten Elbtunnel von 1911 in Hamburg.
Literatur:
O. Bachmann: Aufzüge und Fahrtreppen, Landsberg/Lech 1992 | W. Meyercordt: Aufzugs-Fibel, Mainz 1973 | U. R. / A. Bernard / M. Wiederspahn: Aufzug – Rauf und runter, Dortmund-Düsseldorf 1999 | U. R.: Langsam stirbt der Paternoster, Neues Deutschland 22.7.1999 | J. Simmen / U. Drepper: Der Fahrstuhl, München 1984 | G. Strakosch: Vertical Transportations, New York 1967 | H. Thiemann: Aufzüge, 3. Aufl. Berlin (Ost) 1972 | Vertikal – Aufzug, Fahrtreppe, Paternoster, Berlin 1994
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