Der Fall Lüdke: Fakenews von anno dazumal mit Langzeitwirkung (in zwei Varianten dargestellt)
Der „größte Massenmörder Deutschlands“ wäre Bruno Lüdke auch dann nicht, wenn die Lügen über ihn wahr wären. Die größten Massenmörder nicht nur der deutschen Geschichte befanden sich auf Seiten derer, die seinen Fall noch nach 1945 als ihren größten Erfolg feiern ließen, der Polizei unter Himmler.
Auf der Suche nach Serienmördern wird auf YouTube Robert Siodmaks Film von 1957 Nachts, wenn der Teufel kam angezeigt, mit dem der Fall Lüdke endgültig zum Mythos wurde. Ein Beispiel für Fake-News-Produktion, als sie noch Legendenbildung hieß und auch ohne Internet gut auskam.
Ungeklärt ist, wie Lüdke ins Visier der Polizei geriet. Als ihn der im Film zum Helden im inneren Widerstand stilisierte Kommissar einmal in der Hand hatte, ließ er ihn nicht mehr los und hängte ihm 1943 insgesamt 53 seit 1924 im ganzen Reichsgebiet begangene Morde an.
Lüdke war bereits 1939 Opfer des Regimes geworden als einer der öffentlich meist übergangenen und von Historikern erst ansatzweise beachteten Leidtragenden der „Erbgesundheitshygiene“. Die „Unfruchtbarmachung“ von „Geisteskranken“ erscheint auch heute noch vielen als lässliche Sünde, die dem Irrglauben zustimmen, geistige Störungen würden auf biologischem Weg vererbt.
Wie bei allem, das die Nationalsozialisten taten, klaffte außerdem eine Lücke zwischen reiner Lehre und Praxis. Nicht sämtliche Zwangssterilisierten waren, wie durch heutige Publikationen suggeriert wird, Anstaltsinsassen oder litten an den ihnen zugeschriebenen Krankheiten. (Siehe zum Beispiel hier: → Vom Verhängnis des Glasbläsers)
Amtlichen Angaben über Lüdke ist insofern zu misstrauen. Für seine geistigen Beeinträchtigungen stehen ausschließlich Beamte des „Verbrecherstaats“ ein, der den „doofen Bruno“ aus Köpenick zunächst kastrierte und dann als monströsen Lustmörder ausstattete.
Siodmaks Film behauptet, ein Prozess gegen Lüdke sei unterblieben, weil er das Eingeständnis bedeutet hätte, im Dritten Reich sei doch nicht alles so in Ordnung wie von der Propaganda behauptet. Der Niederländer J. A. Blaauw kam nach kritischer Durchsicht der Akten zu dem Schluss, eine förmliche Anklage gegen Lüdke wäre zusammengebrochen, weil die Sachbeweise in keinem Einzelfall ausgereicht hätten und alles, was die Kripo vorwies, die buchstäblich antrainierten Geständnisse Lüdkes waren.
Diese überstiegen mitunter die geistige Kapazität des „erblich Schwachsinnigen“, der auch unmöglich so verschlagen gewesen sein kann wie in Siodmaks Film. Keine Erklärung hatten die NS-Kriminalisten anzubieten, wie der Analphabet, der außerstande war, eine Fahrkarte zu kaufen und sich nicht einmal in Berlin, das er wahrscheinlich nie verlassen hat, auskannte, durch das ganze Land gereist sein sollte. An den Tatorten gefundene Fingerabdrücke wurden so wenig mit denen Lüdkes verglichen wie seine Alibis für die Tatzeit überprüft.
Die Ermittlungen wurden schließlich eingestellt, als die Hamburger Polizei Einwände gegen Lüdkes Geständnis zum Mord an Mathilde Schlörke erhob. Für diese Tat fand sich schließlich noch ein Täter, der gestand und 1952 verurteilt wurde.
Als Zwangssterilisierter und als angeblicher Massenmörder zwei Mal dem Wahn des Regimes zum Opfer gefallen, kostete Lüdke das, was damals als Wissenschaft galt, das Leben. Im Kriminalmedizinischen Zentralinstitut der Sicherheitspolizei in Wien wurde das „Phänomen“ Lüdke bei einem Menschenversuch 1944 umgebracht.
Willi Bertholt interessierten die Tatsachen wenig, als er 1956/57 für die Münchner Illustrierte die Serie über Lüdke schrieb, deren Titel Siodmak für seinen Film übernahm. Er entblödete sich nicht, Lüdke als NS-Anhänger darzustellen.
Bertholts Schauermärchen hatte einen Vorläufer. 1950 stellte Der Spiegel in einer von Rudolf Augstein nach Unterlagen und Aussagen ehemaliger SS-Männer erstellten Serie über Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei die Aufklärung der Causa Lüdke als Ruhmesblatt hin. Dem „Tiermenschen“, wie er ohne Anführungszeichen ganz selbstverständlich in NS-Terminologie genannt wird, wurden sogar 84 Morde zugerechnet.
Ein Hamburger Gericht besiegelte 1958 den Rufmord, indem es die Klage von Lüdkes Schwestern gegen Siodmaks Film abwies. Um die Nationalsozialisten an den Pranger stellen zu können, hatte der frühere Exilant den authentischen Fall aufgegriffen. Nur dass der nicht echt war.
Das Gericht gestattete der Filmgesellschaft weiter, den Namen Lüdkes zu benutzen, der damit noch einmal Opfer wurde, diesmal von denen, die aus lauter gutem Willen bei der Wahrheit Fünfe gerade sein lassen.
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Eine Geschichte, »unglaublich, aber wahr«, kündigte die Münchner Illustrierte ihren Lesern 1956 an, den »größten Massenmord der Kriminalgeschichte«. Die Artikelserie nahm sich keineswegs einen NS-Verbrecher vor, sondern breitete eine ganz andersartige Ungeheuerlichkeit aus dem Jüngstvergangenen aus.
Zwei Jahrzehnte lang sollte ein Mann, dem das Erbgesundheitsgericht »erblichen Schwachsinn« attestierte und ihn zeugungsunfähig machen ließ, der weder lesen noch schreiben, sich keinen Straßennamen merken konnte und außerstande war, eine Bahnfahrkarte zu lösen, durch Deutschland gereist und mindestens 53 Personen, fast ausnahmslos Frauen, ermordet haben.
Im März 1943 war Bruno Lüdke als Verdächtiger in einem Berliner Mordfall verhaftet worden. Wodurch der »doofe Bruno«, wie ihn die Nachbarn freundlich-herablassend nannten, ins Visier der Kripo kam, weiß man nicht.
In die Hände von Kommissar Heinrich Franz geraten, ließ dieser Lüdke nicht mehr los. Nach den Vernehmungen, die unter vier Augen stattfanden, weil der Verdächtige nur zu ihm Vertrauen habe, diktierte der Kommissar Lüdkes Geständnisse. Sein ersten Mord hatte er demnach 1924 begangen, noch keine 16 Jahre alt, und nicht mehr aufgehört.
Der Kommissar brachte den inzwischen 35-Jährigen mit jedem ungelösten Fall in Verbindung. Zunächst graste er Berlin ab, dann nahm er sich Tatorte außerhalb der Reichshauptstadt vor, von der Ostsee bis nach Süddeutschland. Über 80 Morde wurden auf diese Weise »untersucht«.
Anscheinend gelang es Frank nicht immer, Lüdke zum passenden Geständnis zu bewegen. Stattdessen bestand Lüdke noch auf seiner Täterschaft, nachdem Frank ihn dafür nicht mehr verantwortlich machen wollte oder konnte. Der Kommissar hatte Lüdke abgerichtet.
Seine Täterschaft wurde vorrangig durch Exkursionen an die Tatorte und Leichenfundorte belegt. Von Frank an einer imaginären Leine geführt, zeigte Lüdke den Kriminalbeamten, wo und wie er den Mord begangen haben wollte – und wieder konnte eine Akte geschlossen werden. Höchstwahrscheinlich hatte Lüdke die ihm vertraute Gegend in Köpenick nur einmal an der Hand seines Vaters verlassen.
Schon für den ersten Mord, der ihm angehängt wurde, brachten Lüdkes Schwestern ein Alibi vor. Bei Jahre zurückliegenden Taten kam das nicht mehr in Frage, und es wollte auch niemand genauer wissen. An den Tatorten gefundene Fingerabdrücke wurden gar nicht erst mit denen des Geständigen verglichen.
Bloß die Hamburger Kripo spielte nicht mit, als Kollege Frank mit seinem Schützling an der Elbe aufkreuzte. Kriminalrat Gottfried Faulhaber war selbst nicht zimperlich, wenn es galt, einen Mörder zum Geständnis zu bewegen. Aber die Vorführung des Berliner Duos überzeugte ihn nicht, dass Lüdke im Mai 1929 Mathilde Schlörke umgebracht hatte.
Faulhaber meldete seine grundsätzlichen Bedenken an der Figur des Massenmörders dem Reichskriminalpolizeiamt. So prompt wie stillschweigend stellte dieses die Ermittlungen in der »Geheimen Reichssache« ein.
Faulhaber hatte Recht. Der wahre Mörder von Mathilde Schlörke stellte sich 1952 der Polizei. Die Causa wurde in einer Fachzeitschrift aufgerollt – im selben Jahr und bevor sich der Illustrierten-Autor an die Schreibmaschine und seine »unglaubliche, aber wahre« Geschichte in die Welt setzte.
Fritz Haarmann, Peter Kürten, → Karl Denke, Wilhelm Großmann – die namhaften Serien- und Massenmörder der Weimarer Republik sehen neben Bruno Lüdke wie Waisenknaben aus. Er übertrumpfte sie nicht nur durch die Anzahl der Taten, sondern schien auch die gängigen Theorien zu widerlegen, wonach Serientäter einem festgelegten Modus operandi folgen und einen Opfertypus bevorzugen. Lüdke sollte erwürgt, erschlagen, erstochen haben; sein ältestes vermeintliches Opfer war 81, sein jüngstes 23 Jahre alt.
In seinem Variantenreichtum konnte sich der Schwachsinnige allenfalls mit dem hochintelligenten Peter Kürten messen, der seine Verfolger zur Verzweiflung brachte, weil seine Taten gerade kein Verhaltensmuster zeigten. Er wurde nicht durch kriminalistische Kombinationen gefasst, sondern weil seine Ehefrau ihn verriet.
Nach dem Abbruch der Ermittlungen wurde Lüdke nicht in Freiheit gesetzt. Vielmehr transportierte man ihn nach Wien, wo der »Ausnahme-Verbrecher« bei wissenschaftlich wertlosen Versuchen gepeinigt wurde. Wahrscheinlich starb er bei Experimenten, die den Druckabfall in großen Höhen simulierten – Menschenversuche wie sie seit 1941 von der Luftwaffe und dem SS-Ahnenerbe angestellt wurden. ( → Der letzte Mordbefehl) Die Unterlagen über Lüdkes Aufenthalt an der Donau vernichtete ein Mitarbeiter des kriminalbiologischen Instituts, der nach 1945 die Leitung der Einrichtung übernahm.
Die Illustrierten-Geschichte kam mit aufklärerischem Gestus daher. Sie beanspruchte, die »Vertuschung« des Falls durch die Nationalsozialisten zu revidieren. Freilich benutzte Autor Willi Bertholt dafür deren propagandistisch ausgerichtetes Material und bastelte daraus seine Texte – ähnlich wie Jahrzehnte später die TV-Dokumentationen von Guido Knopp das Bild des »Dritten Reichs« aus dessen Selbstdarstellungen montierten.
Bertholt ließ Lüdke als »Untier« auftreten, als »vertierter Mörder«. Sein »Gesichtsausdruck ist direkt tierisch, ähnlich wie bei einem Orang-Utan«, hieß es in einem gerichtsmedizinischen Gutachten der NS-Zeit. Bereits 1950 hatte Der Spiegel in einem Artikel über »Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei« Lüdke als »Tiermenschen« porträtiert. Das Bild des »primitiven Burschen« wurde illustriert mit Fotos, die von der Polizei zum Beweis von Lüdkes »Untermenschentum« angefertigt worden waren.
Willi Bertholt konstruierte eine Mitschuld der Behörden an der Mordserie, die keine war: »eine größenwahnsinnige Polizei und eine gelenkte Justiz« würden zwangsläufig zu so etwas führen. Seine Story tat so, »als habe es zwischen 1933 und 1945 nur einen Massenmörder in Deutschland gegeben, nämlich Bruno Lüdke.«
Nachts, wenn der Teufel kam hieß die unglaubliche und gelogene Geschichte. So nannte auch Robert Siodmak seinen Film, der 1957 Premiere hatte, Bundesfilmpreise einheimste und Lüdke nachhaltig abstempelte. Siodmak, der als Exilant wohl kaum Sympathien für den Nationalsozialismus hegte, machte aus Kommissar Frank vollends einen Helden und ging weit über das Zerrbild hinaus, das der ehemalige Wehrmachtssoldat Bertholt gezeichnet hatte.
Im Film streitet Frank für die Wahrheit gegen die SS, der er wie alle Polizisten formal angehörte. Dass Lüdke nie vor Gericht gestellt wurde, wird im Film fiktiv politisch begründet: Die Bonzen fürchten die Blamage, dass unter ihrem Regime von Zucht und Ordnung ein Massenmörder so lange wüten konnte. Doch nicht das hätte sie blamiert, sondern die erbärmlichen Manipulationen des Kommissar Frank, dem sie seinen Serienmörder abnahmen, das vorgezogene Zerr- und Spiegelbild.
Die Legende war verführerisch. Denn nicht nachts ging der Teufel durch Deutschland, sondern am helllichten Tag. Die Massenmörder standen auf Seiten derer, die sich über den »Tiermenschen« erhaben glaubten und berechtigt fühlten, Geisteskranke auszurotten.
Der »wahre Kriminalfall« Lüdke steht für die Verleugnung der wahren Verbrechen nach 1945. Einer, der als Behinderter Opfer der Nationalsozialisten geworden war, wurde in einen Täter verwandelt.
1958 scheiterten seine Schwestern vor einem Hamburger Zivilgericht damit, Lüdkes Namen reinzuwaschen. In »Sachbüchern« über Verbrechen, die von ihrer Sache nur das möglichst Schaurige wahrnehmen, firmiert er bis in jüngste Zeit als »größter Massenmörder der deutschen Kriminalgeschichte«.
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Literatur: R. Augstein u. a.: Das Spiel ist aus, Arthur Nebe, Der Spiegel 40/1949–16/1950 | K. Kompisch / F. Otto: Teufel in Menschengestalt, Leipzig 2004 | U. R.: Elses Lachen, Bremen 2009
© Uwe Ruprecht
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Siehe im Menü »Gerichtsgeschichten« oder → Pitavalgeschichten. Eine Übersicht und → Kriminalgeschichten
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