DIE TAT UND IHRE AUFARBEITUNG
Blinder Passagier
Später werden sich einige Passagiere des E 3233 an den jungen Schwarzafrikaner mit der Baseballmütze, dem Rucksack und der Bierdose in der Hand erinnern, weil er sich mit einem „excuse me“ an ihnen vorbei drückt. Die türkisfarbene Jacke, die zu dünn für die Jahreszeit ist, fällt ihnen auf; sie sehen nicht, dass der Junge darunter drei T-shirts trägt, weil er sich keinen Mantel leisten kann.
Ein 38-jähriger Programmierer aus Lauenbrück blickt auf die Plattform zwischen den Wagons, wo Notsitze angebracht sind. Zwei 13- bis 15-jährige Mädchen werden, wie es ihm scheint, von dem Jungen belästigt. Er hat eine Tochter in dem Alter und ist deshalb besonders wachsam.
Der Junge unternimmt, ungeachtet dass es den im Gang Stehenden lästig ist, Rundgänge durch den Zug. Drei Mal kehrt er zu den Mädchen zurück und setzt sein „gestenreiches Bedrängen“ fort, wie der Programmierer sich ausdrückt; er habe die Mädchen „angemacht“. Von den Worten, die gewechselt werden, versteht der Zeuge nichts, nur ein oder zwei Mal ein lautes „Scheiße“ des Jungen.
Er meldet sich bei der Polizei, um seine Beobachtungen zu Protokoll nehmen zu lassen. So arg wie er es schildert, kann es nicht gewesen sein, sonst hätte man ihn fragen müssen, warum er nicht spätestens beim dritten Mal eingegriffen hat, um den Mädchen beizustehen. Über deren Verhalten sagt er nichts. Falls sie den Jungen zurückwiesen, dann nicht so laut, dass er es hören konnte.
Der Junge hat einen Pass auf den Namen Jamba Kolong bei sich, der ihn als 24 Jahre alt ausweist. Seine Familie im westafrikanischen Zwergstaat Gambia kennt ihn als Bakary Singhateh, 19. Er soll mehrfach an verschiedenen Orten unter falschen Namen Anträge auf Asyl gestellt haben; ein Verfahren gegen ihn wird jedoch eingestellt.
Einmal ist er erwischt worden, als er ohne Visa via Dänemark einreisen wollte. Zwei Mal wird gegen ihn ermittelt, weil er im Verdacht steht, mit Drogen zu dealen. Zuletzt soll er sich der Festnahme widersetzt haben; aber die Staatsanwaltschaft sortiert den Fall wegen Geringfügigkeit aus und verfolgt ihn nicht weiter.
Eine Urkundenfälschung wird mit einem Strafbefehl über 60 Tagessätze zu 10 D-Mark geahndet. Vor einer Gaststätte am Spielbudenplatz auf Hamburg-St. Pauli soll er einen Türsteher mit einer Flasche bedroht haben: Einstellung mangels „öffentlichem Interesse“.
Mittlerweile ist es ein halbes Jahr her, dass der Asylparagraf im Grundgesetz der Republik geändert wurde, angeblich um den Zustrom von Flüchtlingen und Einwanderern zu drosseln. Der Junge aus Gambia, der der seine Chancen im reichen Norden sondiert, würde nach dem nächsten Kontakt mit Ordnungskräften abgeschoben werden.
Um den Landkreis Rotenburg/Wümme zu verlassen, in dem das Lager in Scheeßel liegt, wo er gemeldet ist, braucht er eine Erlaubnis. Der Passierschein, den er erhalten hat, um eine Freundin in Hamburg zu besuchen, ist seit zwei Tagen abgelaufen.
Seine Rundgänge durch den Zug haben Singhateh ermüdet. Er hat zwei Bier getrunken und die dritte Dose in der Hand: reichlich Alkohol für seinen eher zarten Körper, um berauscht zu sein.
Er kommt in einen Wagen Erster Klasse und sucht einen Platz. So dicht das Gedränge in der Zweiten und den Gängen ist, sind hier die Abteile längst nicht voll besetzt. Sehr selten, wenn sogar die planmäßige Überfüllung überstiegen wird, gibt die Bahnregie die leeren Plätze für den Plebs frei. Singhateh versteht nicht, dass wo Erster Klasse draufsteht, nur Erster Klasse hineingehört und unterschätzt die Strenge dieses Gesetzes.
Ein Abteil, in dem zwei Weiße in angeregtem Gespräch beieinander sitzen, meidet er. Noch zehn Minuten bis Buchholz.
Das Abteil
Im nächsten Abteil brennt nur die Notbeleuchtung; Singhateh hält es für leer. Doch am Fenster hat ein Passagier die Sitze zusammengeschoben und sich ausgestreckt.
Singhateh versteht nicht, dass er unerwünscht ist. Seit acht Monaten ist er im Land, war vor zwei Jahren schon einmal für ein Jahr hier – die stummen Codes der Bahnpendler begreift er nicht.
Ein Eisenbahner vom Bahnhof Buchholz bemerkt einmal, wie der „Stammkunde“ Schumann den Raum unter den Sitzen kontrolliert. „Man weiß ja nicht, ob sich darunter nicht ein brauner Schlauch versteckt.“ Damit habe er „Schwarzfahrer“ sozusagen, Asylbewerber gemeint.
Die würden sich in Zügen verstecken, habe er gehört, sagt Schumann. Nein, darunter könne sich niemand verstecken, erwidert der Bahnbedienstete. Die würde man schon sehen, wenn man die Tür öffnet; viel zu wenig Platz für einen Menschen.
Wie Zoten gehören fremdenfeindliche Sprüche zu Schumanns Repertoire in der Umweltbehörde. Asylantenhetze ist in der ganzen Republik angesagt, und anderswo würde Schumann damit gar nicht auffallen. Mit Abscheu registriert Kollege Zink: „Er hat Farbige als Teerpappe bezeichnet.“
Als im ganzen Land die guhten Menschen Lichterketten entzünden, nachdem das Abfackeln von Asylbewerberheimen geradezu Mode geworden ist, und gegen reale Feuer mit symbolischen Flammen angehen, will auch die Gewerkschaftsgruppe nicht abseits stehen; Schumann enthält sich als einziger.
Im Dämmerlicht der Notbeleuchtung sitzen Singhateh und Schumann da, bis der Schaffner kommt und das Licht anschaltet, um die Fahrtkarten zu kontrollieren. Sechs Minuten bis Buchholz.
Der Schaffner, 36, im Bahn-Neudeutsch „Zugbegleiter“, kennt Schumann. Der wirkt meist „wie vermummt“ und sitzt da, „als ob ihm kalt wäre“.
Der Schaffner weiß von Schumanns Messer. Von einem Kollegen hat er die Begründung gehört, die dieser erhielt: Vor Jahren habe ein Mitreisender Schumann belästigt, indem er ihm Zigarettenrauch ins Gesicht blies. Auf Vorhaltungen öffnete der Raucher seinen Mantel und zeigte ein Messer. Da sei Schumann klar geworden, dass er sich gegebenenfalls würde schützen können müssen.
Das Fenster
Singhateh hat das Geld schon in der Hand, mit dem er eine Fahrkarte nachlöst. Aber für die Zweite Klasse. Der Schaffner schickt ihn hinaus auf den Gang. Von Trunkenheit bemerkt er nichts.
„Die Verständigung zwischen dem Schaffner und dem Farbigen war nicht gut“, erinnert sich Friedhelm Wichtl [Name geändert], 31-jähriger Diplomkaufmann aus Lauenbrück. Er steht neben anderen im Gang der Ersten Klasse und liest. Zwischen den Zeilen beobachtet er die Fahrkartenkontrolle, weil „im Zug ja nicht viel los ist“.
Kaum ist der Schaffner fort, löscht Schumann wieder das Licht. Und Singhateh kehrt zurück, sobald der Schaffner außer Sicht ist.
Mit „donnerndem Getöse“ habe er die Tür geschlossen, wird Schumann später sagen. Der Eindringling wirft seinen Rucksack auf einen Sitz an der Tür und lässt sich selbst gegenüber nieder.
„I will wake you up. Drinking is always good“, hört Schumann den Schwarzen sagen, der einen Schluck aus der Dose nimmt. Dann geht alles sehr schnell. Fünf Minuten bis Buchholz.
Mehrere Passagiere im Gang sehen das „tödliche Fensterspiel“. Schumann richtet sich im Liegen auf und öffnet das Fenster. Fahrtwind schießt herein.
Der leicht bekleidete Singhateh zögert nicht lange. Vielleicht sagt er ein paar Worte zu Schumann, in Englisch oder mit den deutschen Schimpfwörtern, die er zweifelsfrei kennt.
Jedenfalls steht er auf und schließt das Fenster. Kaum sitzt er wieder, reißt Schumann es erneut auf. Zwei, drei Mal geht das so.
Kaufmann Wichtl hört ein „Wortgefecht“, versteht aber nicht, was gesagt wird. Der in Harburg zugestiegene Werner Kruse [Name geändert], 43, Polizeibeamter aus Buchholz, beobachtet ebenfalls vom Gang aus die Szene als Schattenspiel im Dämmer der Notbeleuchtung, hört aber auch nicht, was gesprochen wird.
Schumann bleibt liegen, wenn Singhateh sich über ihn beugt, um das Fenster zu schließen. Kruse sieht, wie der Schwarze seine Faust schüttelt und der Deutsche daraufhin sein Messer sehen lässt.
Es steckt, wo es hingehört, in der Manteltasche. Wenn Schumann sich im Abteil ausbreitet, nimmt er das Messer vom Gürtel. Bevor er aussteigt, legt er es wieder an.
Kruse sieht etwas aufblitzen, als Schumann Singhateh droht: die Messerklinge oder den Clip, mit dem das Futteral am Gürtel befestigt wird? Zieht Schumann blank oder zeigt nur erst die verpackte Waffe?
Das Fenster ist wieder auf, Singhateh steht über dem liegenden Schumann, als dieser „wie wahnsinnig“ aufspringt und mit dem Messer zusticht.
Der Kampf
Er sei angegriffen worden, wird Schumann später sagen. Der Schwarze sei über ihm gewesen und habe ihn bedrängt; nur mühsam habe er, Schumann, sich erheben können. Der Schwarze habe seine Arme festgehalten und mit ihm um das Messer gerungen.
„Help me, he is killing me!“, hören die Passagiere im Gang Singhateh rufen.
„Wie von der Tarantel gestochen“ ist Schumann aufgesprungen, sagt Zeuge Wichtl.
Zuerst springt der Schwarze hoch, entsinnt sich Polizist Kruse, dann erst Schumann „wie wahnsinnig“ auf den anderen zu. Sie „schießen durchs Abteil“, sie „fliegen in die Ecke mit einer wahnsinnigen Kraft“ nach links vorn, wo der Schwarze gesessen hat.
Janet Schmidt, 25-jährige Bankkauffrau aus Buchholz, hört auf der Plattform zwischen den Wagen ein „Schreien und Kreischen“ aus dem Abteil. Wichtl bemerkt verdutzte Blicke der Mitreisenden, „aber niemand hat sich gerührt“.
Wie einige andere, die nie ermittelt werden, entfernt Polizist Kruse sich vom Schauplatz. Janet Schmidt, die sieht, wie er kurz nach den Schreien auf die Plattform kommt, glaubt, er fühle sich gestört.
Er sei „wie gelähmt gewesen“, gibt Kruse später an. Auch als Wichtl etwas sagt wie „die haben da doch ein Messer“ oder „da ist ein Messer im Spiel“, reagiert er nicht.
Friedhelm Wichtl greift schließlich ein. Er öffnet die Abteiltür und macht das Licht an. Im Gerangel erkennt er das Messer, das auf ihn gerichtet scheint.
Singhateh liegt auf dem ersten Sitz links, Schumann ist über ihm. Der Schwarze versucht die Messerklinge mit der bloßen Hand abzuwehren.
Als Wichtl das Licht einschaltet, lässt Schumann von seinem Opfer ab. Der Schwarze stürzt an Wichtl vorbei hinaus auf den Gang.
„Im ersten Moment denkt man ja, habe ich gedacht, der Farbige sei der Täter“, gibt Wichtl zu. „Weil ich das Messer nicht mehr sah, dachte ich, der Farbige habe es.“
Schumann macht auf ihn einen „ruhigen Eindruck“. Er hat einen Blutfleck auf der Hose.
„Ist Ihnen etwas geschehen?, fragt Wichtl.
„Nein“, antwortet Schumann. „Ich muss mich doch wehren, wenn man mich angreift.“
Dann bemerkt Wichtl das Messer: es steckt im Futteral rechts am Gürtel.
Das Sterben
Singhateh ist auf der Plattform zusammengebrochen. Plötzlich sei er heran getaumelt, erinnert sich Janet Schmidt. „Help me, I`m dying!“ Sie bemerkt Blut an seiner Hand und am Bauch.
Wichtl kommt hinzu und beugt sich über den Verletzten. Er sieht Wunden am Hinterkopf und am Hals; aus dem Bauch kommen Gedärme.
Janet Schmidt geht, den Schaffner holen, und blickt dabei Schumann im Abteil an. „Der ist plötzlich über mich hergefallen“, erklärt er ungefragt.
Unterdessen erkundigt sich ein Passagier, ob ein Arzt im Zug sei. „I will die, I will die“, stöhnt Singhateh am Boden.
Wichtl geht zurück zu Schumann. Ob er denn noch richtig im Kopf sei, fragt er ihn. Und stellt verwundert Schumanns Ruhe fest, obwohl er gerade jemand „ausgeweidet hat wie ein Stück Vieh“.
Der Zug erreicht den Bahnhof Buchholz. Der Vorfall hat sich herum gesprochen, einige wollen einen Blick auf den Täter werfen und gehen an dem Abteil vorbei, in dem Schumann sich auf das Aussteigen vorbereitet. Sofern sie als Zeugen gehört werden, sagen sie aus, ihnen sei aufgefallen, wie „ruhig“ er gewirkt habe, „als wenn überhaupt nichts passiert wäre“.
Auch dem Schaffner kommt Schumann zu ruhig vor. Einen Passagier fährt Schumann an: „Was starrst du so?“
Der Zug hält. „Ist doch eigentlich gar nichts los, ich hab doch nichts gemacht“, protestiert Schumann, als der Schaffner ihn im Abteil einschließt. „Was soll denn das jetzt?“
Schumann zieht die Notbremse; er meint, der Zug würde weiter fahren, ohne ihn an seiner Station aussteigen zu lassen. Er beschimpft den Schaffner.
Die Passagiere zerstreuen sich. Wenige warten, bis die Polizei eintrifft und geben ihre Personalien ab. Die Polizei ist vor dem Krankenwagen da. Zwei Beamte führen die Festnahme durch, während andere sich um den Verletzten kümmern.
Schumann sitzt, als die Beamten das Abteil betreten. Er versteht nicht, warum er durchsucht werden soll, wehrt sich aber nicht. Das Messer befindet sich in der Jacke.
Schumann wird in Handschellen auf den Bahnsteig gebracht. Er macht den Eindruck, als sei er sich „keiner Schuld bewusst“, meint einer der Polizisten. Nach einer zweistündigen Vernehmung auf der Revierwache wird Schumann entlassen und auch weiter keine Stunde im Gefängnis verbringen.
Gesicherte Befunde
Die Leiche wurde besichtigt: 177 Zentimeter groß, 70 bis 75 Kilogramm schwer, gut ernährt; das Alter aus dem Pass erschien dem Gerichtsmediziner „auf den ersten Blick nicht zutreffend“.
Trotz Behandlung im Krankenhaus hat Singhateh den schweren Blutungsschock nicht verkraftet. Maßgeblich war nicht die Menge des ausgetretenen Bluts, sondern die Raschheit des Verlusts. Es blutete aus den Schlagadern im Bauchraum, Unverdautes trat aus den Därmen in die Bauchhöhle aus und verursachte einen Bauchfellschock.
Weiterhin: zwei kleinere Wunden am Hinterkopf, die nicht bis auf die Knochen gingen. Außerdem ein Stich am Nacken rechts, fünf bis sechs Zentimeter lang, knapp neben der Wirbelsäule. Sehr tiefreichende Verletzungen an der linken Hand, offenbar bei der Abwehr des Messers entstanden.
Der Blutalkoholgehalt betrug 0,32 Promille; zur Tatzeit also höchstens 1,5. Der Tod wurde um 23.30 Uhr vom Gerichtsmediziner festgestellt, trat aber wohl ein bis eineinhalb Stunden früher ein.
Am Tag danach holte Schumann seine Einkaufstüten von der Wache ab. Es wären Milchprodukte dabei, erklärte er den Polizisten, die könnten schlecht werden. Er erkundigte sich nicht nach dem Schwarzen aus dem Zug.
Ebenfalls am Tag nach der Tat fand die Spurensicherung im Abteil statt. Ein Kriminalmeister machte Fotos und sammelte Gegenstände ein, etwa eine Bierdose mit einem Rest Flüssigkeit. Nach Schumanns Festnahme war das Abteil versiegelt worden; der Erkennungsdienst fand das Siegel erbrochen.
Durch Rangieren könne das nicht geschehen, hieß es von Eisenbahnern. Wer also hatte das Siegel verletzt und warum? Und warum fand die Spurensicherung an dem heiklen Tatort nicht unverzüglich statt? Polizei und Gericht gingen dem nicht nach – oder ließen nichts davon wissen.
Eine Lücke, die in diesem Fall nicht geschlossen werden muss, aber markiert, wie weit die von Fiktionen genährten Idealvorstellungen einer kriminalistischen Ermittlung von der Alltagspraxis abweichen. Durch solche Nebenumstände kann vor Gericht eine Beweiskette zerreißen.
Kollege Zink in der Umweltbehörde las in der Zeitung einen Bericht über die Messerstecherei im Zug und dachte sofort an Schumann; er traute ihm die Tat zu. „Da ist bei mir `ne rote Lampe angegangen.“ Allein, dass in dem Artikel von einer „Firma“ die Rede war, in der der Täter arbeiten sollte, ließ ihn die Assoziation wieder verwerfen.
Er sprach Schumann auf die „gefährliche Bahnverbindung“ an, die er benutze; der gab seine Täterschaft nicht zu erkennen. 14 Tage später rief die Kriminalpolizei an, wollte sich über Schumann erkundigen und war erstaunt, dass Zink gar nicht wusste, worum es ging.
Danach erklärte ihm Schumann, „dass er Angst gehabt habe in der Situation“, und was das Opfer für „ein Kandidat“ gewesen sei. Zink deutete es so, dass der Tote einiges auf dem Kerbholz gehabt hätte. Zwar gab es eine Strafakte über Singhateh, von der Schumann indes vor der Tat nichts wusste.
Seitdem man über seine Täterschaft im Bilde war, hätte Schumann sich völlig zurückgezogen, sagte Zink, war nicht mehr in den Fluren unterwegs und erzählte Geschichten. Die Nachbarn in Buchholz nannten ihn „den Mörder“; Kinder, die ihn hänselten, soll er geprügelt haben, wurde kolportiert. Die Schildkröte kroch in ihren Panzer.
Medienspektakel
Zwei Mal arbeitete die Strafjustiz den Tod im Pendlerzug auf. Der erste Prozess 1995 endete mit einem Urteil, das Empörung auslöste. „Rechtsradikaler ersticht Farbigen und wird freigesprochen“, schlagzeilten die Medien. Ohne Zeugen für das eigentliche Tatgeschehen könne Notwehr nicht ausgeschlossen werden, lautete der Urteilstenor.
Singhatehs Familie, animiert und unterstützt von einer Flüchtlingshilfsorganisation, nahm sich einen Anwalt, der als Nebenkläger eine Revision erstritt. Trotz der Notwehroption in dubio pro reo hatten Schumans Richter zugleich eine „bedingte Tötungsabsicht“ festgestellt: der Hauptwiderspruch, dessentwegen der Bundesgerichtshof das Urteil kassierte.
Am 3. Februar 1997 begann vor dem Landgericht in Stade die Wiederholung des Prozesses vor einer anderen Strafkammer als beim ersten Mal. Zum Auftakt der sechs Sitzungen waren die Flure von Presse und Publikum verstopft. Fotografen und Kamerateams zogen gleich wieder ab, nachdem ihnen ein Bild des Angeklagten verwehrt worden war.
Der „Rechte“ ersticht den Farbigen: wie sieht das Ungeheuer aus? Auf mehr als ein physiognomisches Vorurteil kam es nicht an, für mehr war keine Zeit.
Die Landgerichtspräsidentin hatte das Anfertigen von „Lichtbildern“ – so heißen sie im Amtsdeutsch wie anno dazumal – im ganzen Gebäude untersagt. Die Justizwachtmeister geleiteten den Angeklagten auf seinen Wunsch durch die Hintertür in den Schwurgerichtssaal.
Am zweiten Verhandlungstag, als die ersten Zeugen vernommen wurden, hatten die überregionalen Medien bereits das Interesse verloren, und nurmehr zwei oder drei Berichterstatter der Lokalzeitungen hörten weiter zu.
Im Dunkelfeld
Vor Gericht hieß das Opfer mal „der Farbige“, mitunter „das Opfer“, dann wieder „der Schwarzafrikaner“ oder schlicht „der Schwarze“. Der Vorsitzende Richter hatte sich für „Kolong, Jamba“ entschieden, verwechselte dann aber doch Vor- und Nachnamen. Der eigentliche Name, versicherte der Anwalt der Familie, sei Bakary Singhateh.
Mehr tat nicht zur Sache. Ein Zufallsopfer. Der Angeklagte hatte es nicht einmal richtig gesehen: „mein Gegner“, ein dunkler Schatten, der sich mit dem Ruf „I will kill you“ auf ihn gestürzt haben soll.
Wo er herkam, wo er hin ging, blieb im Dunkeln. Aus den Illustrierten erfuhr man mehr über ihn und seine Lebensumstände als im Gerichtssaal.
Etwa zur Tatzeit war ich auf den Umgang mit schwarzafrikanischen Asylbewerbern aufmerksam geworden, weil ich eine Unterkunft auf dem Dorf passierte, wenn ich meine Eltern besuchte. Der ehrenamtliche Betreuer sollte seine Stellung zu sexuellen Erpressungen genutzt haben.
Dass er es ungestört und mit ahnungsvoller behördlicher Duldung konnte, wurde begünstigt durch die Unberührbarkeit der jungen Männer, die in einer Art Verschlag und in einer aufgelassenem Ziegelei gehalten wurden und sich meist nur dadurch bemerkbar machten, dass sie als einzige Fußgänger entlang der Landstraße von ihrer Unterkunft in die Ortschaft gingen oder als einzige außer Kindern und Rentnern an den Bushaltestellen warteten.
Einem Afrikaner aus dem Lager, in dem Singhateh untergebracht war, begegnete ich vor der Tat auf einer Busfahrt zwischen Berlin und Hamburg. Ich radebrechte mit ihm auf Englisch, weil ich es nicht besser konnte. Er war als Angehöriger eines geächteten Stammes verfolgt, gefangen und gefoltert worden. Deutschland war für ihn nur Zwischenstation. In Großbritannien könnte er mehr für sein Volk tun, um baldmöglichst heimzukehren.
Er klagte nicht über die Unterkunft, sondern über die Einschränkungen seiner Freiheit. Selbstverständlich war er so oft wie möglich nicht in Scheeßel, wo die Kinder ihn anstarrten und die Nachbarn den Hund an der Leine rissen, wenn er vorbei ging.
In großstädtischen Unterkünften etablierten sich Strukturen wie in Gefängnissen. Ein Reporterbesuch war selbst mit amtlicher Genehmigung schwierig und stellte geradezu ein Attentat dar. Die behördlich bestellten Betreuer waren so verschlossen wie die Insassen, und ich musste die, die etwas zu erzählen hatten, anderswo treffen. Wo der Lagercharakter der Unterkünfte besonders ausgeprägt war, kam es entlang der Zäune, die Asylbewerber und Bürger trennten, zu Verletzten und Toten.
Stichkanäle
„So ein Messer gerät relativ leicht in einen Körper hinein, selbst ein Ledermantel hätte es nicht verhindert“, erläuterte der Gerichtsarzt aus Hamburg; dazu bräuchte es keine „unheimliche Wucht“.
Was den Nackenstich betraf, bezweifelte er Schumanns Version, dass dazu seine Hände vom Opfer hinter dessen Kopf geführt worden sein sollten. Der Nackenstich war wie der Bauchstich geradezu vollzogen worden, sagital. „Überhaupt nicht nachvollziehbar aus gerichtsärztlicher Sicht“, was der Angeklagte sagte, meinte der Arzt und führte es mit einem Nesser aus Pappe am eigenen Nacken vor.
Wenn der Bauchstich der erste war, konnte das Opfer sich kaum noch so verhalten haben, wie Schumann beschrieb. Die Stichöffnung betrug zwei bis drei Zentimeter; Darmschlingen traten nach außen. Der 66-jährige Gerichtsmediziner wunderte sich, dass nach dem Bauchstich keine Reaktion erfolgt sein sollte, nicht einmal ein Schrei. Menschen „dieser Rasse“ wären „eher wehleidig“.
Die von Schumann vorgewiesenen Handverletzungen, die er sich im Kampf um das Messer zugezogen haben wollte, wären „simple Schürfwunden, die nichts mit dem Messer zu tun haben“ und nicht geblutet hätten, keinesfalls Schnittverletzungen. Hingegen musste seine Rippenprellung geschmerzt haben, als die Polizei ihn nach eigenen Verletzungen fragte, und er verneinte.
Zum Ritual oder Running-Gag der Sitzungen wurde die Inaugenscheinnahme der Skizze mit den Standorten der Zeugen und der Fotomappe des Erkennungsdienstes. Verteidiger, Anwalt der Nebenklage und Staatsanwalt traten vor und beugten sich gemeinsam mit den Richtern über das Pult. Alle übrigen im Saal sahen Roben und gesenkte Köpfe und schnappten Wortfetzen auf.
Als Lichtbildmappe und Zeugenaussagen sich verworren hatten und den Autofahrern, die nie eines betreten hatten, das Zugabteil ganz unheimlich geworden war, wurde ein Termin zum Lokalaugenschein anberaumt.
Ortstermin
Eine Prozession tappte bei Nacht und Regen über die Gleise des Stellwerks am Bahnhof zu Stade. 15 Leute im Gänsemarsch, voran ein Beamter des Bundesgrenzschutzes.
Mit Taschenlampen suchte das Gericht Aufklärung. Wie waren die Lichtverhältnisse? Auf einem Abstellgleis in der Finsternis stellte ein „Silberling“ den Tatort zur Tatzeit dar. Amtszettel am Wagon deklarierten ihn als Sitzungssaal.
„Könnt ihr alle sehen?“, fragte der Vorsitzende Richter in die Runde. Der Gerichtsschreiber, Urkundsbeamter geheißen, protokollierte im Schein einer Taschenlampe.
Schumanns Jacke und Messer waren als Asservaten zur Hand. Man drängte sich in und um ein Abteil neben der Ausstiegsplattform. Es war enger als es jemals in der Stoßzeit sein könnte. Mit vermehrtem Gedrängel wurden die Beteiligten umschichtig in Sichtweite von Schumann auf seinem Fensterplatz gebracht.
Der Vorsitzende stand immer daneben und sorgte dafür, dass seine beiden Kollegen, die beiden Schöffen, Staatsanwalt, Verteidiger und die jeweiligen Zeugen die Pantomime sehen konnten, die Schumann mehrfach vorführen musste. Wie er das Messer zog. Das Hinüberbeugen Singhatehs über den halb liegenden Schumann, als er das Fenster öffnete.
Wie hat Friedhelm Wichtl bei Dämmerlicht lesen können? Konnte Polizist Kruse gesehen haben, wie eine Silhouette die Faust schüttelte und die andere zur Antwort ein Messer zeigte? Mit dem Vorsitzenden als Angreifer führte Schumann vor, wie er das Messer aus der Jacke zog.
Bis dahin war Schumann der Verhandlung mit ostentativem Verdruss gefolgt und hatte seine Angaben mürrisch vorgebracht. In der familiären Atmosphäre der Zug-Sitzung taute er auf und schilderte lebhaft das Gerangel, das seiner Ansicht nach unbedingt mit der Tötung des Angreifers enden musste.
Hätte er nicht um Hilfe rufen können?, wollte der Vorsitzende wissen. Er wäre so erschöpft vom Kampf gewesen. „Hilfe, helfen Sie mir“, hätte er nur leise sagen können.
An den Tatort zurück versetzt, redete Schumann um sein Leben. Er machte das „donnernde Getöse“ vor, mit der Singhateh bei seiner Rückkehr ins Abteil die Tür geschlossen haben sollte; der Wagen vibrierte von seiner Wut. Den Zeugen war damals ein solcher Auftritt entgangen.
Nach dem Ortstermin ließ Schumann sich von der Polizei zur Wache bringen. Dort erwarteten ihn Frau und Kinder. Ein Reporter war ihm gefolgt. Wartete vor der Wache. Im Taxi ließ sich die Familie zum Bahnhof fahren; der Reporter hinterher.
Für den Eilzug 21.10 Uhr wären sie pünktlich, doch der fuhr nur sonntags; Schumann hatte sich im Fahrplan vertan. Eine halbe Stunde bis zum nächsten Zug. Die Familie drängte sich in eine Ecke unter einen Regenschirm, um der Kamera zu entgehen. Die Schildkröte zog den Kopf ein. „Der Jäger war zum Gejagten geworden“, stand nachher in der Zeitung.
Schuldsprüche
Einmal gab es Aufregung vor dem Gerichtsgebäude, als eine Flüchtlingshilfsorganisation mit Transparenten und Flugblättern „Gerechtigkeit für Singhateh“ einforderte. Da war das Fernsehen kurz wieder da. Während es draußen die Demonstranten aufnahm, gingen drinnen die für die Bildermacher uninteressanten Zeugenbefragungen weiter.
Sie filmten auf dem Bahnhof des Gerichtsorts, bis sie darauf hingewiesen wurden, dass dieser nichts mit der Geschichte zu tun hat. In ihrem Beitrag wurde als Tatort ein Zugabteil der neuesten Generation gezeigt: durchsichtige Trennwände; die Sitze lassen sich nicht zusammenschieben, die Beleuchtung nicht ausschalten oder das Fenster öffnen.
Schumanns Trauzeuge Tief, von der Verteidigung geladen, um das Image des Angeklagten aufzubessern, machte seine Sache schlecht. Als „sehr diffus“ empfand er schließlich selbst seine Charakterstudie des Ex-Kollegen.
„Er hat Angst um sein Leben gehabt, hat er mir gesagt“, sagte Tief. Wie er das gemeint habe? „Ich hatte keine Zeit. Ich konnte da nicht nachfragen.“ Gleichwohl war er überzeugt: „Es ist Notwehr gewesen. In Angst um sein Leben.“
Auf wiederholte Nachfrage noch ein Satz, der die bestimmten und präzisen Darstellungen Schumanns vor Gericht in Zweifel zog: „Er hat mir den Ablauf nicht schildern können.“
Am 28. Februar 1997 erging das Urteil wegen Totschlags in einem minderschweren Fall. Die Option auf Notwehr, die den Freispruch von 1995 ermöglicht hatte, wurde gestrichen, die „bedingte Tötungsabsicht“ des Vor-Urteils als Totschlag erkannt.
Um zu einem minder schweren Fall zu kommen, schloss die Strafkammer „niedere Beweggründe“ wie Rassenhass aus und nahm als Motiv ausschließlich Wut und Ärger „vor dem Hintergrund seiner Persönlichkeitsstörung“ an.
Nicht, dass Rassenhass als Motiv ausgeschlossen wurde, wie es in Internet-Darstellungen verkürzt heißt, ist bemerkenswert, sondern dass dies geschah, ohne ihn zu thematisieren oder seine Verbindung mit der privaten Wut untersucht zu haben.
Der Hintergrund der Zeit, das gesellschaftliche und politische Klima, das die Wut mindestens begünstigte, fiel bei der Wahrheitsfindung nicht wörtlich ins Gewicht. Was Demonstranten vor dem Gebäude riefen, wurde im Saal nicht besprochen – bis auf einen Satz in der mündlichen Urteilsbegründung.
Als Milderungsgrund führte das Gericht an, Singhateh hätte dem Streit aus dem Weg gehen können. Dass er sich als Eindringling unberechtigt im Erste-Klasse-Abteil befand, gewissermaßen als blinder Passagier, wurde als „erhebliches Mitverschulden des Opfers“ gewertet.
„Schicksalhaft hat sich die Sache zugespitzt“, schloss der Vorsitzende Richter, bevor er das Strafmaß verkündete: zwei Jahre Haft, die für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden.
Für den Ersttäter in fortgeschrittenem Alter war Bewährung fast obligatorisch. Das Gericht ging davon aus, dass er es nicht wieder tun würde.
Die Kosten des Verfahrens von über 20.000 D-Mark, der Verlust des Arbeitsplatzes und die „Prangerwirkung“ des Prozesses war bereits zu Schumanns Ungunsten veranschlagt worden. Als ausdrücklich spürbare Strafe wurde ihm eine Geldbuße von 6.000 D-Mark auferlegt, zahlbar an Ärzte für die Dritte Welt.
Der Fall beschäftigte noch zivile Instanzen. Nach der rechtskräftigen Verurteilung als Totschläger hatte die Umweltbehörde Schumann gekündigt. Er klagte und verlor.
Das Bundesarbeitsgericht befand, er „habe aus Wut, Ärger und Rechthaberei einen Streit provoziert und dabei, ohne dass eine Notwehrsituation vorgelegen hätte, einen Ausländer niedergestochen und getötet.“ Das Ansehen des Arbeitgebers hätte „nicht zuletzt angesichts des erheblichen Echos in den Medien Schaden genommen“, und „eine erhebliche Zahl von Mitarbeitern halte eine weitere Zusammenarbeit mit dem Schumann für ausgeschlossen“.
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