Der Hamburger Räuber Ernst Hannack 1927–34

Anny lief im Zimmer auf und ab. Drei Schritte, dann Wendung und zurück. Hin und her. Wie ein Kanarienvogel flatterte sie im Käfig ihrer Kammer. Eingesperrt ins Warten auf Nachricht von Ernst.

Sie griff nach der Zigarettenschachtel, klopfte eine heraus. Steckte sie wieder zurück; nur zwei übrig. Über dem Aschenbecher hing noch der Rauch der letzten, die sie ausgedrückt hatte. Sie suchte nach einem weiteren Päckchen, obwohl sie wusste, dass keines da war.

Ihr Magen grollte. Den ganzen Tag nichts gegessen. Sie war seit dem Morgen im Zimmer auf und ab gelaufen und hatte Kette geraucht. Klein und zart, mit der gebogenen Nase ähnelte sie sehr einem Vogel, dem sich das Gefieder sträubte wie ihr geblümtes Kleid wehte, wenn sie gehetzt durchs Zimmer schritt. Sobald die Tür aufginge, würde sie davon fliegen.

Nichts in der winzigen Bude, um sich abzulenken und kaum Platz für ihre Unruhe. Zwar bestand das Mobiliar nur aus einem Bett und einem Schrank, aber der verbliebene Raum war mit Koffern verstellt. Der Laufsteg zwischen den Koffern war die Stange ihres Vogelbauers.

Ein Spalier unterschiedlicher Behältnisse. Pappschachteln mit Griffen, Koffer aus Leder oder Holz. Das größte und stabilste Stück war bunt gefleckt mit Aufklebern von Grandhotels. Die mit fremden Namen bezeichneten Ovale und Rauten, die Blicke auf Palmen und Wolkenkratzer, Automobile und Strandbuchten warfen, erinnerten sie ans Ernsts Traum.

Aus Langeweile hatte Anny den Inhalt sämtlicher Koffer eingehend inspiziert. Vorwiegend Wäsche: Unterröcke, Socken und Gardinen, Damenkleider, Nachthemden, Betttücher. Preise kannte sie nicht, wusste aber, dass nach Menge bezahlt wurde und Ernst keinen beträchtlichen Erlös erwartete. Jedenfalls würde er die Wäsche irgendwie losschlagen können. Wäsche brauchen die Leute immer, sagte er, Wäsche war eine sichere Währung.

Sie hätte eines der Kleider für sich aussuchen können, aber kein passendes gefunden. Alle waren zugeschnitten auf stämmige, wohlgenährte Bürgersfrauen. Manchmal räumte Ernst extra den Kleiderschrank der Haustochter aus, weil darunter etwas sein könnte, das für seine feingliedrige Liebste mit ihren einsfünfzig in Frage kam.

Bei seinen letzten Brüchen freilich hatte Ernst auf solche Zuvorkommenheit nicht achten können. Er war rasch hinein und hinaus und hatte zusammengerafft, was er tragen konnte. Der Kofferinhalt sollte ihr Reisegeld sein.

Die wertvollste Beute waren zwei goldene Ringe mit Brillanten, eine Perlenhalskette, das Zigarettenetui und das Perlmuttopernglas. Auch die Grammophonplatten mit Gesang von Caruso und Taubert könnten ein paar Mark bringen. Insgesamt würde der Ertrag vielleicht reichen, um an Bord nicht zu verhungern. Die Schiffspassage beim Norddeutschen Lloyd war immerhin gebucht und bezahlt. Morgen wären sie mit dem Dampfer „Gotha“ nach Südamerika unterwegs.

Vom Geld abgesehen waren die Visa die größte Hürde. Für Anny kein Problem. Sie konnte im Generalkonsulat ihre eigenen Papiere vorlegen, den Pass und das Leumundszeugnis der Polizei. Anny, vor 24 Jahren in Hamburg geboren, war unbescholten. Jedenfalls hatte sie sich strafrechtlich nichts zu Schulden kommen lassen.

Allein ihr Lebenswandel hätte Fragen aufgeworfen, die der Konsularbeamte indes nicht stellte. Hätte er sich nach ihrem Ehemann erkundigt, den sie mit 16 geheiratet und vor zwei Jahren verlassen hatte, hätte sie sich als Witwe ausgegeben.

Für Ernst war die Passfrage heikler. Sie war die entscheidende Hürde. Der Pass war sein Schicksal. Er wäre längst ausgewandert, und Anny hätte ihn womöglich nie kennen gelernt, wäre sein Strafregister sauber.

Auf St. Pauli hatte Ernst einem Seemann die Brieftasche entwendet. Augen- und Haarfarbe stimmten überein, bei der Körpergröße von 1,84 betrug die Abweichung einen Zentimeter, und sogar beim Alter, 27, bei dem es auf ein paar Jahre nicht angekommen wäre, war nur ein Monat Unterschied.

Ein Fälscher, der Ernst mehr kostete als die Fahrkarten, hatte den Ausweis präpariert. Er tauschte das Foto aus gegen eines, das Ernst ohne Schnauzbart und mit neuer Frisur zeigte. Und in der Rubrik „besondere Kennzeichen“ wurde die „Narbe auf der Nase“ eingetragen, die jedem an Ernst sofort auffiel.

Der Fälscher war umso teurer gewesen, als er schnell hatte arbeiten sollen. Der bestohlene Seemann brauchte seinen Pass, sonst hätte er keinen. Immerhin würde es einige Zeit brauchen, bis der Polizeiapparat seine Verlustanzeige verarbeitet hätte. Bis dahin musste Ernst sich auf der Wache eines Vororts, wo kein Udl je mit ihm persönlich zu tun gehabt hatte, ein Führungszeugnis für Johann Daniel Schöttke ausstellen lassen.

Als Referenz dafür, dass sie am Ziel nicht als Obdachlose auf der Straße lungerten und ihrer neuen Heimat zur Last fielen, diente beim Konsulat der Brief einer Frau Hannack, die in Aussicht stellte, Anny als Dienstmädchen und Herrn Schöttke als Chauffeur zu beschäftigen.

Frau Hannack war Ernsts Mutter, die mit seinen Geschwistern das Land schon vor langem verlassen hatten. Sie würde ihnen schwerlich Arbeit verschaffen, sie aber vorerst tatsächlich unterbringen können. Näheres prüfte das Konsulat ohnehin nicht. Der Bürokratie war Genüge getan, die Wirklichkeit war anderswo.

Behörden hereinzulegen, grinste Ernst, als sie das Konsulat verlassen hatten und aneinander geschmiegt an der Alster spazierten, sei einfach. Papiere und Stempel, mehr bräuchten sie nicht.

In seine Erleichterung mischte sich gleich wieder die Bitterkeit. Mehr als einmal hatte er seit der Entlassung aus dem Zuchthaus im vorigen Sommer versucht, zur Mutter auszuwandern. Papiere und Stempel, sagte Ernst, darüber hinaus existiert der Mensch für die Behörden nicht.

Anny hatte musterte ihn scheu. Seine Verzweiflung war ihr fremd, seine Heimatlosigkeit. Dazu konnte sie nicht viel sagen. Seine Verzweiflung war es aber auch, die sie anzog, der verwegene Zug, den sie ihm verlieh. Denn auch, wenn er immer wieder darauf zurückkam und die Pass-Geschichte wiederholte, beließ er es nicht bei Klage und Anklage. Gerade wehrte er sich wieder.

Die Papiere seien das Wichtigste, hatte Ernst sie vor dem Besuch im Konsulat instruiert, unerlässlich sei aber auch das richtige Auftreten. Wer schuldbewusst erscheint, bietet sich als Opfer an, sagte er. Anny musste sich nicht sehr verstellen. Ihre Papiere waren echt, und die Lüge des Briefes von Frau Hannack war nicht ihre eigene.

Ihr Herz hatte vorher schneller geklopft als in den paar Minuten, als der Konsularbeamte sie ausgewählte Daten aus dem Ausweis, zur Schiffspassage und über den Grund der Einreise abfragte, die sie nur mit einem Ja bestätigen musste. Sie wurde nicht gefragt, woher das Reisegeld stammte. Hätte der Beamte es wissen wollen, hätte sie guten Gewissens angeben können, dass Ernst, vielmehr Herr Schöttke, bezahlte. Es genügte, dass sie Fahrkarten hatten.

Anny schämte sich für nichts, aber sie war sich bewusst, dass sie log. Ein aufmerksamer Beobachter hätte die Differenz zwischen Sein und Schein an einem Zögern, einem Stocken erkannt. Der Blick des Beamten streifte nur über sie hinweg. Fünf Minuten später auf der Straße würde er sie schon nicht mehr wiedererkennen.

Solche wie sie fertigte er täglich dutzendweise ab. Ernst hatte von Zeiten erzählt, als die Konsulate von Auswanderern geradezu belagert wurden. Am Hafen hatte er ihr die vollbeladenen Schiffe gezeigt, die regelmäßig Leute nach Übersee brachten. Von denen sie das nächste nehmen würden.

Allerdings nicht in Hamburg. Um jene zu erwischen, die wie Ernst mit falschen Papieren ausreisten, kontrollierte die Polizei mehr oder weniger gründlich die abfahrenden Schiffe. Manchmal suchten sie gezielt nach blinden Passagieren, manchmal genügten zwei Mann, die am Ende der Gangway jeden in Augenschein nahmen.

Seinetwegen würden sie keinen sonderlichen Aufwand treiben, war Ernst überzeugt. Aber sie könnten gerade sein Schiff genauer unter die Lupe nehmen, weil sie einen Hinweis in anderer Sache erhalten hatten. Wenn Anny und er ein Schiff ab Bremerhaven nähmen, war ausgeschlossen, dass Ernst am Kai oder an Bord, bevor sie ablegten, einem Udl begegnete, der ihn schon einmal verhaftet hatte oder sonstwie aus dem Milieu kannte.

Anny (Zeichnung: urian)

Anny verstellte sich nicht gern. In ihrem Verhältnis zu Ernst, über das sich Zimmerwirtin und Nachbarn das Maul zerrissen, trat sie offen auf. Er hatte zwar gemeint, es wäre geschickter, als Bruder und Schwester aufzutreten, aber sie wollte sich zu ihrer Liebe bekennen.

Das Gerede der Leute forderte ihren Trotz heraus. Und schließlich: wenn sie sich in ihrer Kammer liebten, und die alte Zieme, ihre Wirtin, lauschte, würde der Verdacht der Blutschande alles nur noch schlimmer machen, scherzte Anny.
Soweit es Ernsts Gewerbe betraf oder die Schiffspassage waren Lügen nötig, um ihn und ihr Beisammensein zu schützen. Dass sie ihr Geliebter und nicht ihr Bruder auf dem Zimmer besuchte, konnte ruhig alle Welt wissen. Nur seinen richtigen Namen nicht.

Anny wusste nicht, wo Ernst sich aufhielt. Sie wäre in Versuchung gewesen, zu ihm zu laufen. Wenn sie auf den Straßen unterwegs war, hielt sie ständig nach ihm Ausschau, weil sie ihm vielleicht zufällig begegnen könnte. Sie rechnete sich aus, in welcher Gegend er untergetaucht sein könnte und lungerte dort herum.

Es war sicherer so, hatte er gesagt, und sie hatte nicht widersprochen. Sie hatte ihm nicht zugesetzt und sich seiner überlegenen Kenntnis der Vorgehensweisen gebeugt. Er hatte nichts gesagt, ahnte aber wohl, dass sie seine Nähe suchen würde, wenn sie die Chance dazu bekam. Er konnte nicht glauben, dass sie ihn verraten würde.

Aber vielleicht könnte sie im entscheidenden Moment nicht überzeugend genug lügen. Oder bei ihr fände sich etwas, das der Polizei einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort geben könnte, wie die Fahrkarte einer Straßenbahn, die sie benutzt hatte, um zu ihm zu gelangen. Oder ein Polizeispitzel hätte sie beobachtet, wie sie das Haus betrat, in dem er untergeschlüpft war.

Ernst stellte ihr vor, dass er selbst nicht genau wissen könne, wo er sich wann aufhielt. Es könnte sein, dass er kurzfristig die Behausung wechseln musste, und eine Adresse, die sie vom ihn hätte, wäre ohnehin wertlos, sobald sie Gebrauch davon machen würde.

Im Flur vor ihrer Kammer hing ein Telefon. Und einmal hatte es wirklich für sie geklingelt. Ernst hatte ein Treffen abgesagt. Sie hätte sich gewünscht, dass er öfter anriefe, aber er misstraute Telefonen. Man wisse nie, wer mithöre. Und jeder Anruf würde Wirtin und Nachbarn aufmerksam machen.

Zwei Mal erschien er plötzlich an ihrer Zimmertür. Er hatte das Haus beobachtet und gewartet, bis die alte Zieme es verließ. Er war nur kurz geblieben. Sie hatte sich an ihn gehängt und nicht mehr los gelassen. Er ging ein Risiko ein, aber er hatte sie sehen müssen. Er verriet nicht, wie viele Stunden er auf der Straße auf den richtigen Moment gewartet hatte.

Um so einen Moment nicht zu verpassen, verließ sie das Haus inzwischen nur, wenn sie das Warten nicht mehr aushielt. Oft war in der Post ein Brief für sie. Handschrift und Absender auf dem Umschlag wechselten. Auf dem Zettel darin hatte Ernst ihren Treffpunkt stets so verschlüsselt, dass kein Unbefugter den Zettel verstand. Die alte Zieme nämlich ließ sich stets die gesamte Post des Hauses vom Briefträger aushändigen und zog sich, zum Sortieren, wie sie sagte, in ihr Kabuff zurück.

In seiner Notiz mit Datum und Uhrzeit bezog sich Ernst zum Beispiel auf den Abend, an dem sie einen Film gesehen hatten, der Anny aufgeregt hatte. Sie hatte die Geschichte nicht ganz verstanden, und schon das hatte sie verstört. Es ging um Glücksspiel und Hypnose, um Masken und Spiritismus. Die Titelfigur war ein Verbrechergenie, ein Meister aller Spielarten, schnell zu Geld zu kommen. Der Film war schon ein paar Jahre alt, und Ernst kannte ihn auswändig.

Er lief in einer Nachtvorstellung an der Reeperbahn, und Anny erinnerte vor allem, wie sie sich an Ernst gedrückt, in ihn hinein gekrochen war, während auf der Leinwand die toten Augen des Dr. Mabuse den Saal hypnotisieren wollten. Nachher waren sie in ein Café gegangen, und Ernst hatte zu erklären versucht, was ihn an dem Film faszinierte.

Anny wollte nicht glauben, dass es Menschen wie Mabuse gab. In Hamburg, meinte sie, habe man nie von so jemandem gehört. Das sei es ja gerade, sagte Ernst. Ein Mabuse, der so wäre wie im Film, würde sich hüten, zu viel Aufsehen zu erregen. Deshalb ja seine Verkleidungen, deshalb hatte er kein Gesicht und führe ein Doppel-, nein ein Mehrfachleben, sowohl im Verborgenen, im Untergrund, wie mitten in der feinen Gesellschaft, im Scheinwerferlicht der Presse.

Guten Tag, Herr Doktor, begrüßte Anny ihren Liebhaber, als er zur verabredeten Zeit an ihren Tisch in dem Café trat, in dem sie den Film besprochen hatten, und sich suchend nach etwaigen Verfolgern umsah.

Meist trafen sie sich an dem Kiosk gegenüber der Stelle, wo er sein Arbeitszeug versteckte. Stemmeisen, Dietriche, Bohrer befanden sich in einer Aktentasche in den Schließfächern des Bahnhofs an der Sternschanze. Die Schanze war eines der Viertel, in denen die Polizei sich nur blicken ließ, wenn es unbedingt sein musste.

Vor dem Bahnhof zumal lungerten stets Obdachlose und Taschendiebe herum, Zuhälter, Drogenhändler und Dirnen, die eigene Gründe hatten, auf die Schmiere Acht zu geben und Alarm zu schlagen, sobald sie nahte. Der Schanzenbahnhof war ein sicherer Treffpunkt, und anschließend gingen sie meist in den anschließenden Park, wo niemand daran Anstoß nahm, wenn Ernst sie auf den Schoß nahm. Sie trieben es jedes Mal miteinander, wenn sie sich begegneten.

Sie sahen sich seit Wochen selten genug, seit die Polizei im Milieu ausgestreut hatte, dass sie ihm Einbrüche in Harvestehude nachweisen könnten. Welche Beweise das sein sollten, war nicht klar und ob sie für einen Haftbefehl bereits reichten. Aber Ernst war schuldig, er hatte sogar noch etliches mehr auf dem Kerbholz, und verhielt sich so, als könnten sie ihn verhaften, in Untersuchungshaft nehmen, ihm erfolgreich den Prozess machen und zurückschicken ins Zuchthaus, in dem er vier Jahre verbracht hatte.

Vier gestohlene Jahre dafür, dass er denen etwas weggenommen hatte, die im Überfluss hatten, um sich von Woche zu Woche, von Tag zu Tag am Leben zu erhalten. Die vier besten Jahre, sagte er, die ersten seit er voll geschäftsfähig, voll verantwortlich sein konnte in dieser Gesellschaft, die schon vor-her keinen Platz für ihn gehabt hatte, nicht in diesem Land.

Die Spannung, fand Anny, das Flair des Verbotenen adelte ihre Liebe. Nichts mit Ernst war gewöhnlich und alltäglich. Stets galt es, Fährnisse zu überwinden, um zueinander zu kommen. Ihr Beisammensein war ein Abenteuer, und sie feierten es jedes Mal.

Sechs Jahre lang hatte sie nur den routinierten Sex mit dem wesentlich älteren Helmut erfahren. Auch das war mit Ernst zum Abenteuer geworden. Aus der Not eines fehlenden Quartiers machten sie eine Tugend im Spiel. Ernst war alles andere als ängstlich, aber wachsam, und so stand jedes ihrer Treffen im Schatten des Entdecktwerdens.

Nachdem sie sich in einem Café oder an einer Straßenecke getroffen hatten, blieben sie in Bewegung. Sich zu lange an derselben Stelle aufzuhalten, würde Beobachtungen provozieren, Zeugen schaffen. Und über kurz oder lang könnte ein Schupo vorbeikommen, mit dem Ernst schon einmal zu schaffen hatte und ihn wiedererkennen.

Wenn er sie in seinem Zimmer besuchte, schliefen sie kurz und schnell miteinander, und die einzigen Minuten, in denen sie Ernst entspannt erlebte, waren die, wenn er nachher noch auf dem Bett liegen blieb. Winkel in Parks und Wäldern, nachtdunkle Gassen und alle Orte, an denen sie den Menschen fern wären, waren die einzigen, um zur Ruhe zu kommen.

Anny hatte keine Vorstellung, wie ein Leben mit Ernst aussähe, wenn sie einmal dauerhaft zur Ruhe kämen. Ob und wie es dazu kommen sollte. Und sie dachte auch wenig darüber nach.

Aus ihrer Ehe war sie geflohen, bevor sie Ernst begegnete. Aber sie hatte nicht gewusst, wohin mit sich. Ernst hatte ihrer Unruhe kein Ziel gegeben und sie schließlich sogar noch gesteigert. Aber es war eine gemeinsame Unruhe. Es genügte ihr, dass Ernst nach Argentinien wollte.

Ruhe verhieß das zunächst nicht, nur Befreiung von der Polizei. Von der deutschen, fürs Erste. Sollte Ernst auch in der Fremde Einbrüche, Diebstähle, Betrügereien begehen, war Anny entschlossen, sein Schicksal zu teilen. Ernst betonte seine Entschlossenheit, ein ehrliches Leben zu führen. Wenn man ihn ließe. In Deutschland würde man ihn bis ans Ende seiner Tage mit seinem Strafregister verfolgen.

Anny hing nicht an Hamburg, allenfalls an ihrer Familie. Die Wahl hatte sie bereits getroffen, als sie ihre Ehe beendete, doch allein war sie nicht weit fort gekommen. Argentinien war ihr gleichgültig, solange sie mit Ernst beisammen war. Ein beschauliches bürgerliches Leben hatte sie gehabt, und es hatte ihr nicht behagt. Ernst verkörperte, was sie zu entbehren meinte. Dass dazu Verstellung und Verstecken gehörten, war für sie bis hierhin nur ein Spiel gewesen.

Sie hielt im Herumlaufen inne. Je näher der Abfahrttermin rückte, desto nervöser wurde sie. Nicht eigentlich ihretwegen, nicht, weil etwas sie am Abschied von der Heimat bedrückte. Darin dachte sie gerade so weit voraus, wie die Vorfreude auf die Schiffsreise reichte. Das Ablegen des Dampfers in Bremerhaven wäre der letzte kritische Moment, den sie zu überstehen hätten, bis Ernst in Freiheit bliebe. Bis nicht mehr die Gefahr bestand, dass die Polizei ihn ihr entziehen könnten.

Sie war so von ihm erfüllt, dass sie sich dem Gedanken daran, er könne auf unabsehbare Zeit hinter Gittern verschwinden, nur mit Grauen näherte und ihn bestmöglichst verdrängte. Sie waren schon viel zu oft und zu lange getrennt, indem sie sich ein, zwei Mal in der Woche sahen. Das konnte nur ein vorübergehender Zustand sein, sie fiebert der Schiffsreise schon allein deshalb entgegen, weil sie bedeutete, ihn ununterbrochen an ihrer Seite zu haben.

Die Überfahrt würde wie ihre Flitterwochen sein. Gegenüber der alten Zieme, die trotz aller Vorsichtsmaßnahmen spitz gekriegt hatte, dass ein Mann bei ihr in der Kammer gewesen war, hatte sie stolz von ihrem Verlobten gesprochen.

Jetzt meinte sie, ein Geräusch auf dem Flur gehört zu haben. Vielleicht nur, weil sie an die Zimmerwirtin gedacht hatte? Ständiger Argwohn gehörte zu ihrem Leben mit Ernst. Jederzeit könnte die Polizei sich einmischen, zwischen sie treten.

Ernst hatte darüber gegrübelt, dass die Kripo Anny noch nicht verhört hatte. Würden sie ernsthaft nach ihm fahnden, meinte er, wären sie leicht auf ihre Spur gekommen. Vor seinem Untertauchen hatten sie sich gemeinsam im Milieu aufgehalten.

Auf St. Pauli und der Schanze waren der große Hannack und seine kleine Geliebte rasch ein bekanntes Paar geworden, und Anny hatte früh einen Spitznamen bekommen. Würden die Fahnder nach Hannack fragen, würde irgendwer die „Schwarze Anny“ erwähnen. Die Vorsichtsmaßnahmen bei ihren Treffen könnten nur allzu berechtigt sein, und Ernst wies Anny an, Acht zu geben, ob sie verfolgt wurde. Man ließ sie vielleicht nur in Ruhe, weil man hoffte, sie würde die Fahnder auf seine Spur bringen.

Waren da Stimmen auf der Straße? Ihre Bude lag im Parterre, unmittelbar neben der Haustür, hatte aber nur ein Fenster, das bestenfalls eine verglaste Luke war. Sie hatte es außerdem mit einer Decke verhängt, um keinen zufälligen Blick auf das mit Koffern voll gestellte Zimmer zu erlauben.

Etwas am Klang der Stimmen schreckte Anny auf. Sie spähte hinter dem Vorhang hinaus. Die alte Zieme sprach mit jemandem, der außerhalb des Blickfelds stand. Die Zimmerwirtin erhob kurz ihre Stimme, aber Anny verstand kein Wort. Die Alte trat ins Haus zurück. Getrappel auf dem Korridor. Dann schlug es an die Kammertür.

• ■ •

Es wurde eng für Ernst Hannack. Bei seiner Geliebten Anny wurden am 20. April 1928 sieben Koffer mit Beute aus seinen Einbrüchen beschlagnahmt. Ihre Vermieterin in Altona hatte der Polizei den Tipp gegeben, dass bei Anny ein entlassener Zuchthäusler verkehre.

Eine Tischdecke, die Anny der alten Zieme geschenkt hatte, um sie günstig zu stimmen, stammte eindeutig aus einem Einbruch. Anny wurde als Hehlerin verhaftet. Sie beschwerte sich über blaue Flecken, die sie dabei erlitt.

„Funkspruch an alle: Hannack ist als Schöttke unterwegs, auf Nase sichtbare Narbe, fingerbreit von der Nasenspitze, aufrechter Gang, blauer Jackettanzug, braune Ballonmütze; Vorsicht geboten, führt geladene Schusswaffe bei sich; beabsichtigt, von Bremerhaven ins Ausland zu gehen.“

• ■ •

Dreinschießen müsste man, dreinschießen und losknallen. Im Namen von Recht und Gesetz erlaubte die Polizei sich jede Barbarei. Dreinschießen und losknallen. Mit seinen eigenen Händen könnte er sie erwürgen. Harder, Rehmann oder Ramming, welcher von den Kriminalen auch für diese Sauerei verantwortlich war. Und den Staatsanwalt dazu. Sollten bloß herkommen! Dreinschießen und losknallen!

Ernst Hannack fluchte laut vor sich. Die Hure im Hauseingang grinste, und der Besoffene, der den Laternenpfahl umarmte, stimmte lallend in die Verwünschungen ein. Blicklos hetzte Hannack vorbei.

Ernst Hannack (Zeichnung: urian)

Vom Rot der Leuchtschriften schillerten die Pfützen um den Hansaplatz wie Blutlachen. Hannack irrte durch St. Georg, nachdem er im Hauptbahnhof Annys Bruder getroffen hatte. Arthur hatte nichts wirklich Neues zu berichten gewusst.

Die Justiz fuhr mit der Sippenhaft fort. Weil sie an Hannack nicht heran kamen, hielten sie sich an Anny, an die Hoffmann und ihren Sohn. Der Advokat, den Annys Familie eingeschaltet hatte, sprach von erdrückender Beweislast; er rechnete damit, dass die Staatsanwaltschaft in Kürze Anklage erheben würde.

Die Polizei konnte den Inhalt der Koffer aus Annys Kammer Einbrüchen aus der Zeit zwischen Januar und April 1928 zuordnen. Bei ihrer Festnahme trug Anny einen Schal, der aus einer Wohnung in Winterhude entwendet worden war. Anny hatte die fremden Gegenstände offensichtlich als eigene behandelt, und kein Amtsrichter würde ihr abkaufen, dass sie nicht immerhin ahnte, woher der Inhalt der Koffer stammte, mit denen sie ihre Kammer verstellt hatte.

Ihre Beziehung zu dem entlassenen Zuchthäusler hatte sie gar nicht erst abgestritten, so dass man dafür keine Zeugen aufmarschieren lassen musste. Anny verstand es zwar, ihre Zartheit einzusetzen und das schutzbedürftige Kind zu spielen, aber Untersuchungshaft und wiederholte Vernehmungen würden diese Maske abnutzen, fürchtete Hannack.

Der Advokat der Familie hatte ohnedies geraten, das Unbestreitbare zuzugeben, und Hannack wusste aus eigener Erfahrung, dass ein Geständnis, das das Verfahren abkürzt, von der Justiz durchaus honoriert wird, dass ein gebeugter Rücken auf der Anklagebank, eine Stimme, die leise Reue bekundet, beim Richter einen Rest retten konnten.

Sollten sie nur alle die Schuld auf ihn schieben. Die Hoffmanns kannten ihr Risiko. Der Sohn war einschlägig vorbestraft, weshalb die Polizei nicht lange gebraucht hatte, ihn in Verdacht zu nehmen. Die Kriminalen hatten offenbar gewartet, ob sie durch Anny oder die Hoffmanns auf Hannacks Spur kämen, bevor sie zuschlugen.

Bei Hoffmanns waren Wertgegenstände aus der Beute gefunden worden, die zur Wäsche in den Koffern passte. Dass Anny und die Hoffmanns, die gewerbsmäßigen Hehler, sich kannten, rundete das Bild ab. Sie brauchten den Einbrecher selbst nicht, um den Fall vor Gericht abzuschließen. Anny war dran. Wenigstens für Beihilfe reichten die Beweise. Ihrer fehlenden Vorstrafen wegen konnte sie immerhin mit einer Bewährungsstrafe rechnen.

Mit ihrem Bruder hatte Anny im Besuchsraum der Untersuchungshaftanstalt nicht Klartext reden können, ihre Briefe waren vom Gericht kontrolliert und eingezogen worden, und die Kassiber, die sie, unerfahren im Durchstechen, geschrieben hatte, waren auch nicht angekommen. Soviel aber meinte Arthur aus Blicken und Halbsätzen verstanden zu haben, dass Anny ein Handel vorgeschlagen worden war.

Rechtsprechung nannten sie das nachher. Den Hoffmanns war gewiss dasselbe Angebot gemacht worden. Hannack hatte es sich gedacht, bevor Arthur davon erzählte. Es war das übliche Verfahren. Es gab solche und andere Straftäter, wichtige und unwichtige. Von wegen, vor dem Gesetz seien alle gleich. Würden sie Hannack verraten, stellte man einen Strafnachlass in Aussicht.

Die Hoffmanns würden längst ausgepackt haben. Zumal der Sohn kannte das Spiel, und er vergab sich nichts. Er wäre nicht gleich damit herausgeplatzt und hätte mit dem Finger auf Hannack gezeigt. Aber nachdem die Polizei schon auf Hannacks Spur war, würde sie den kleinen Vorteil, der aus ihrer Kooperation mit den Ermittlern erwachsen könnte, nutzen.

Hannack selbst hätte es nicht anders gemacht. Ganovenehre war etwas für Abenteuerromane. Eine Beichte der Hoffmanns würde für Hannack nichts ändern, vielleicht aber ihnen nützen.

Was Anny gegenüber ihrem Bruder angedeutet zu haben schien, ging darüber hinaus. Sie sollte freikommen – unter der Auflage, ihren Geliebten ans Messer zu liefern. Den Hoffmanns hätte man kaum ein solches Angebot gemacht. Hannack hatte keinen aufdringlichen Grund, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, umso weniger, wenn sie unerwartet entlassen würden. Was er mit ihnen zu schaffen hatte, konnte er gegebenenfalls über Mittelsmänner abwickeln. Er müsste sich schon ungeschickter als bisher anstellen, um der Polizei in eine solche Falle zu gehen.

Außerdem würden die Hoffmanns sich hüten, auf ein Manöver einzugehen, dass sich flugs im Milieu herumspräche. Ganovenehre gab es zwar nicht, aber ungeschriebene Sanktionen für jene, die offensichtlich jemand anderen verkauft hatten. Als Hehler wären die Hoffmanns verbrannt, sofern sie Anteil an Hannacks Verhaftung hätten.

Anny war nicht im Milieu verankert, sie riskierte nur die Rache des Gefangenen. Und ihr würde der Gesuchte auf jeden Fall nach ihrer Freilassung zu begegnen versuchen. Für das, was sie miteinander abzumachen hatten, gab es keine Mittelsmänner.

Dreinschießen und losknallen, Hannack skandierte es im Kopf, als er das Viertel verließ und auf die Alsterpromenade zusteuerte. Er hielt sich an seiner Wut fest, um die Verzweiflung abzuwehren, die darunter auf Durchbruch lauerte.

An der Zeile mit Nobelhotels überquerte Hannack die Straße. Gegenüber waren die Parkbänke abmontiert worden, um stellungsloses Gesindel davon abzuhalten, die Gegend zu verschandeln. Man lagerte nun im Gras, und in Abständen patrouillierten Schutzpolizisten und vertrieben das unerwünschte Publikum des Seepanoramas.

Bis die Schupos außer Sicht waren. Dann kehrten die Unbeschäftigten, der Ausschuss der Gesellschaft zurück in die verwehrte Nische. Die Polizei kam auf der nächsten Runde vorbei, und so ging es tagein tagaus. Manchmal rastete einer der Vertriebenen aus und wurde auf die Wache verfrachtet.

Das Dutzend Männer, das um eine Weide lagerte, wurde auf den Passanten aufmerksam. Zurufe erreichten ihn, auf die er nicht reagierte. Einer der Männer sprang auf und schien ihm in den Weg treten zu wollen, aber Hannack war schon weiter, verfolgt von Flüchen.

Im Dunkel, ein Anzug mit Hut, könnte er als einer gelten, der dazu gehörte – zu den Gästen der Hotels, zu den Bürgern, die im Viertel wohnten, zur Gesellschaft schlechthin –, dem verbal nachgespuckt wurde. Hannack ärgerte sich, keinen Bogen um die Gruppe geschlagen zu haben, die die Schupo anlocken könnte. In seiner Wut war er blind gegen seine Umgebung. Eine Unachtsamkeit, die ihn den Kopf kosten könnte. Er hielt den Weg genauer im Blick, während die Gedanken unverändert rotierten.

Inzwischen war Haftbefehl gegen ihn erlassen worden. Die Polizei hatte sich beeilt, die Nachricht auszustreuen, und sie war ihm alsbald in einer Kaschemme zugeflüstert worden. Bis dahin war er lediglich als dringend Tatverdächtiger gesucht worden. Durch das Zeugnis der Hoffmanns oder Annys arglose Aussagen hatte die Polizei die Akte schließen und sie der Staatsanwaltschaft übergehen können, die zu einem Richter gegangen war.

Hannack mied Straßenzüge, in denen er Bekannten begegnen könnte, aber im Übrigen bewegte er sich frei in der Stadt. In einer oder zwei Zeitungen war eine kurze Notiz über die Suche nach ihm erschienen, aber niemand, der ihn nicht kannte, würde ihm sonderliche Aufmerksamkeit schenken.

Jemand, der von der Narbe auf der Nase gelesen hatte, könnte sich zwar erinnern, wenn er sie sah. Aber wie schnell würde derjenige die Polizei alarmieren und würde er es überhaupt, ohne Aussicht auf Belohnung, tun? Die Erfüllung der Bürgerpflicht brachte doch nur Scherereien.

Eine Gefahr stellten Bekannte dar oder ein Polizist, der die Fahndungsaufrufe verinnerlicht hatte. Für alle anderen war er unsichtbar, solange er nicht selbst für Aufsehen sorgte.

St. Georg war eine optimale Zuflucht. Nicht sein Revier und dennoch ein Viertel mit Untergrund, also Hotels und Pensionen, in denen kriminelle Gäste zum Geschäft gehörten und die Schmiere nur gerufen wurde, wenn jemand im Foyer einen Mord beging, vor unbeteiligten Zeugen, sodass ohnehin nichts mehr zu verheimlichen gewesen wäre.

Zur Sicherheit wechselte Hannack fast täglich das Quartier. Ungeachtet des Haftbefehls war er auf der Fahndungsliste längst um einige Plätze nach unten gerutscht. Erfahrungsgemäß verschwendete die Polizei nicht viel Zeit auf eine gezielte Suche.

Nachdem sie alle bekannten Adressen abgeklappert hatten, überließen das Weitere dem Zufall. Solche wie Hannack suchten sie ständig im Dutzend und täglich kamen neue hinzu. Falls es stimmte, dass Anny ein Handel angeboten worden war, falls Arthur ihre Andeutungen richtig aufgefasst hatte, zeigte sich daran, dass Polizei und Justiz nicht sehr zuversichtlich waren, Hannack auf andere Weise habhaft zu werden.

Er war an eine Stelle der Promenade gelangt, die weitab von jeder Laterne in Finsternis lag. Er verhielt seinen Schritt und bemerkte das Knirschen des Kies unter seinen Füßen, als es verstummte. Er lauschte auf das Rauschen der Stadt, einer Stille, die keine war. Ohne einzelne Töne, ohne Rhythmus brandete um den See in der Stadtmitte ein Geräusch, ein heiseres Grollen, in dem die Stimmen der Hunderttausenden und die Klänge ihres Verkehrs aufgehoben schienen.

Hannack verließ den Weg und schritt zum Ufer. Träge wie Teer wogte die See schwarz zwischen den fernen Häuserzeilen, die von schmalen Bändern und winzigen Punkten aus Licht angedeutet wurden.

Ein leiser Laut lenkte seinen Blick nach unten. An der Mauer, mit der das Ufer befestigt war, kauerten zwei Schwäne. Ihr Anblick berührte Hannack melancholisch.

Er entsann sich des Spaziergangs mit Anny, nachdem sie im argentinischen Generalkonsulat ihre Visa erhalten hatten und sein Entkommen so nah gerückt war wie nie. Sie hatten Schwäne gesehen, und er hatte ihr erzählt, wie die letzten von ihnen vor fast einem Jahrzehnt geschlachtet worden waren.

Von den Hungerjahren hatte Anny die Entbehrungen erlebt, nicht aber die Revolten. Das Wohnviertel ihrer Familie selbst schien verschont worden zu sein von Straßenkämpfen, und das zarte Kind war von den Eltern kaum aus dem Haus gelassen worden. Hannack dagegen war mit seinen Freunden jedem Aufruhr hinterher gelaufen.

Monatelang befand sich die Stadt im Ausnahmezustand. Nach Kriegsende waren Recht und Ordnung so rar wie die rationierten Lebensmittel. Straßenschlachten und Massenaufmärsche gehörten zum Alltag, Plünderungen waren an der Tagesordnung. Für Butter floss Blut.

Als sie vom Konsulat fort gingen, hatte er Anny geschildert, wie er in der Nacht zu Neujahr 1919 mit seinen Freunden durch Winterhude streifte. Sie hatten dort nichts zu suchen, waren mit der nächstbesten Straßenbahn gefahren und ausgestiegen, weil ihnen irgendetwas auffiel. Sie waren einfach unterwegs, von einer Wärmestube in den nächsten Eingang eines Kinos; manchmal konnten sie die Wachen an den Eingängen der Warenhäuser überlisten.

Über der Stadt lag ein Himmel wie Blei, dem Hannacks Stimmung entsprach. Während die Mehrheit hungerte, schwelgte man in der Oper und in den Nobelhotels, die Feste konnten nicht glanzvoll genug sein, die Bälle, mit denen die feine Gesellschaft das neue Jahr begrüßte. Damals hatte er solche Widersprüche kaum begriffen, aber als Widerlichkeit gefühlt.

Er erinnerte sich, dagegen gesprochen zu haben, als seine Freunde erwogen, in der Innenstadt Theaterbesuchern aufzulauern oder einen Türsteher an der Esplanade, der massenweise Gäste abzufertigen hatte, auszutricksen, um sich in einen der Ballsäle zu schleichen.

So fanden sie sich auf Mitternacht zu an einem der Kanäle, die das Viertel durchzogen, am Anleger der Alsterbarkassen, umgeben von Villen mit zum Wasser hin ausgedehnten Gärten.

Plötzlich hörten sie ein Kind ganz erbärmlich schreien. Und dann einen Mann, der seinen letzten Atemzug tat, aber so laut, als würde er ihn neben ihren Ohren tun.

Ein Stück entfernt am Ufer des Fleets entdeckten sie in der Finsternis eine Gruppe Menschen, die zwei Schwäne ermordeten. Es mussten die allerletzten Exemplare sein. In der Stadt wurde schon darüber geredet, und in der Zeitung sollte es auch gestanden haben, dass die Symboltiere des hanseatischen Geistes, die stolzen Schwäne auf der Alster, der Gier des gemeinen Volks zum Opfer gefallen seien. Die kriminellen Elemente, die in der Stadt das Regiment übernehmen wollten, kannten kein Halten und fraßen sogar das nur Schöne.

Schockiert vom Schrei der Sterbenden rührten sich Hannack und seine Freunde lange nicht und sahen zu, wie die Gestalten am Ufer Umriss gewannen, als sie ein Feuer anzündeten. Es waren Frauen wie Männer, und während der eine Vogel bereits gerupft wurde, erkannten die Beobachter, wie ein Mann, der immer noch den Hals des anderen Schwans in den Händen hielt, den er wie einen Korkenzieher verdreht hatte, den Kopf über den Leib des Tieres versenkte, ihn zwischen dem Gefieder schüttelte und wieder hob, ein Stück herausgebissenes Fleisch zwischen den Zähnen.

Hannack wandte sich ab von den Schwänen, die nichts vom Schicksal ihrer Vorfahren ahnten, und folgte dem Schwanenwik weiter um die Alster. Er würde das Hotel, in das er sich am Nachmittag eingemietet hatte, erst in der Nacht wieder betreten, wenn die Polizei nicht mehr zu Routinekontrollen erschien, sondern nur mit triftigem Grund. Er würde noch Stunden durch die Nacht irren müssen.

Seit Wochen hatte er viel Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Die Bilanz unter sein Leben hatte er längst gezogen, und das machte es so quälend, in den immergleichen Gedankengängen gefangen zu sein. Er kannte seine Sackgasse und wusste, wohin – aber der Weg war versperrt.

Er war als Verbrecher ein Quereinsteiger mit begrenztem Talent. Dem Umgang mit den gängigen Einbruchswerkzeugen zu lernen, fiel ihm nicht schwer. Er war geschickt und gescheit genug, um sich in dem Gewerbe zurecht zu finden. Aber er hatte keinen Ehrgeiz.

Nach der Entlassung wollte er nur weg aus dem Land. Mit den Kontakten aus dem Knast verschaffte er sich ein Auskommen. Aber er schloss sich keiner Bande an, er suchte nicht die Nähe eines Bosses, er gründete auch keine eigene Gang, um irgendeine Masche in großem Stil durchzuziehen. Er schlug sich durch, stahl gerade genug zum Leben. Zuletzt, ein Leben mit Anny im Ausland vor Augen, beging er Bruch auf Bruch für Reisegeld und um die Passfälschung bezahlen zu können.

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Zehn Monate seit der Entlassung hatten gereicht, um ihn im Milieu gerade so heimisch werden zu lassen, sich der Schleichwege und Winkel bedienen zu können, die sein Untertauchen ermöglichten. Er war als Außenseiter unter Außenseiter geraten, mit denen ihn sonst nichts weiter verband. Er teilte notgedrungen ihr Gewerbe, aber er hatte nicht vor, sich unter ihnen niederzulassen.

In den Kaschemmen von St. Pauli hielt er sich auf, um mit Hehlern zu verhandeln oder zu erfahren, von welchen Gegenden er sich besser fern hielt, weil die Schmiere auf Sonderwache war, um Tipps auf lukrative Objekte aufzuschnappen oder rechtzeitig gewarnt zu werden, wenn ein Polizeispitzel nach ihm fragte. Er nahm die Lokale als Informationsbörsen und Marktplätze wahr, er lebte dort nicht.

Es war kein wesentlicher Unterschied zu irgendeiner so genannten ehrlichen Arbeit. Die Kaschemme war nichts anderes als ein Kontor für ihn, in dem er sich blicken lassen musste, um seine Beute verhökern zu können. Die Kneipe war Pflicht, allein erwartete ihn dort niemand morgens stets zur selben Zeit, und das Kontor war nicht immer dasselbe, man traf seine Leute in unterschiedlichen Lokalen und musste sie oft genug suchen. Aufenthalte im Milieu waren Teil der Erwerbsarbeit, auf die er im Übrigen verzichten konnte.

Aktenteile (Fotos: urian)
Dokumente und Unterlagen aus dem Staatsarchiv Hamburg

Zumal mit Anny ging er an die Alster, in den Stadtpark oder an das Elbufer, dorthin, wo die nachhaltigste Ablenkung vom erbärmlichen Daseins eines Wäschediebs zu erwarten war, der täglich sowohl um sein Brot rang wie in seiner Freiheit bedroht war.

Anny zog ihn in die Gassen der Innenstadt, wollte mit ihm an den Schaufenstern flanieren und im geschäftigen Treiben rund um das Rathaus und auf dem Jungfernstieg mitschwimmen. Er tat ihr den Gefallen, obwohl er seinen Zorn bezähmen musste.

Sie fühlte sich nicht wie er abgeschnitten davon. Sie konnte keines der Kleider in den Auslagen kaufen, sie nahm im Alsterpavillon Platz wie ein Kind, das etwas Verbotenes tat, sie war hier ebenso wenig vorgesehen wie er. Anny aber hatte noch die Chance auf einen Platz im Getriebe. Sie durfte davon träumen, Teil der Hamburger Bürgerschaft oder wenigstens deren Dienerschaft zu sein statt zum Heer der Ausgesonderten zu zählen.

Für Hannack war in Hamburg nichts mehr zu holen. Einbrüche, Verhaftung, Verurteilung, Knast und nach der Entlassung wieder von vorne – er befand sich bereits auf der Kreisbahn. Als Zuchthäusler waren die Kontore für ihn Tabu. Kein Kapitän stellte ihn als Smutje an, es sei denn, er ginge auf Kaperfahrt. Mit seiner Vorgeschichte auf See und im Zuchthaus war seine Ausbildung als Bäcker an Land wertlos.

Unmittelbar nach der Entlassung, als die Angst vor dem erneuten Zuchthaus ihn zunächst vom Milieu fern hielt, hatte er am Ende der Nacht im Hafen für Tagelohn angestanden und Kisten verladen. Niemand wollte seine Papiere sehen. Seine Statur genügte, um eingeteilt zu werden.

Die Scheine, die er nach Schichtende in die Hand bekam, reichten kaum, um satt zu werden. Mit zwei durchschnittlich ergiebigen Brüchen kam er auf dieselbe Summe. Nach drei Wochen erinnerte sich der Namen und Adressen, die er im Knast erfahren hatte und strich ein paar Nächte lang durch St. Pauli.

Er lebte nicht besser oder schlechter als Einbrecher, aber angemessen anders. Wenn er hungerte, dann deshalb, weil er sein eigener Herr war. Es genügte nicht, schlaftrunken im Kontor zu erscheinen und seine Zeit abzusitzen oder im Hafen besinnungslos Kisten zu stapeln. Niemand gab ihm Anweisungen und sorgte dafür, dass am Monatsende ein gleichbleibendes Gehalt oder am Schichtende der Tagelohn eingestrichen werden konnte.

Wenn ihm der Schneid fehlte, in eine fremde Wohnung einzubrechen, wenn er eine Nacht schlafen wollte statt sich in Hinterhöfe zu ducken, dann konnte er dem nachgeben. Niemand beschwerte sich, dass er nicht das tat, was man von ihm wollte. Solange es ging. Was er derart an Freiheiten aufsparte, würde er früher oder später im Zuchthaus abbüßen. Falls ihm der Absprung nicht gelang. Der Absprung, der zum wiederholten Male gescheitert war.

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„Ich besitze von Gott ein liebes Wesen, dessen Seele ich besitze“, sagte Hannack über Anny, „ein Mädchen, die mein Leben ganz besitzt und dafür kämpfe ich auch. So kämpfte ich für zwei unglückliche Geschöpfe, die nach Licht und Wärme suchten, aber daran zu Grunde gingen. Wir haben beide schon furchtbar geweint, wenn wir so ganz die Tragik unseres Daseins erkannten. Sie ist mehr gut wie schwach. Ich schwach und gut. Sie darf ja gar nicht wissen, wie wund es um meine Seele aussieht. Sie ist eben ein Kind mit guten Augen und liebender Seele. Sie weiß von nichts, sie folgt einem inneren Trieb, sie folgt mir bis ans Ende der Welt. Und dieses Leben, was ich so ganz lebe, ist mein Leben, ohne dieses Leben wäre ich nicht mehr.“

Der Staatsanwalt machte Anny das Angebot: Sie werde entlassen, wenn sie verspreche, ihren Geliebten zu verpfeifen. In einem Brief an ihre Familie, der im Mai 1928 abgefangen wurde, schrieb sie: „Wenn ich wählen sollte, ich könnte es nicht, denn das ist eine Wahl? Ernst wird eingesteckt, dann bin ich frei! O Gott, wie bitter!“

Anny willigte zum Schein ein. Unmittelbar nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft im Juni 1928 traf sie Hannack am Bahnhof Sternschanze und tauchte mit ihm unter.

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Die Zeit lief ihnen davon. Ein großer Coup, und dann weg. Das einzige, was in Frage kam. Mit Diebstählen und Einbrüchen würde er erneut Wochen brauchen, um das Reisegeld beisammen zu haben. Vor allem mussten sie weg aus Hamburg, fort aus dem Visier der hiesigen Staatsanwaltschaft. Sie müssten anderswo untertauchen, sich durchschlagen, sparen, neue Papiere beschaffen, eine Schiffspassage buchen. Oder gleich ein großer Coup, der für alles ausreichte.

Hannack ging die Möglichkeiten durch. Nur eines kam in Frage. Ein Bankraub, ein „Bravourstück“, wie die Zeitungen es nannten. Mit Waffen rein und mit Geldsäcken raus.

Hatte er den Schneid? Mehr als einmal war er bei seinen Brüchen auf Widerstand gestoßen. Hatte die Waffe gezogen, um seinen Rückzug zu decken. Seine Statur im Verein mit der Waffe hatten zur Einschüchterung genügt. Die Hausbesitzer, denen er in ihrem Garten über den Weg lief, als sie unerwartet zurückkehrten, waren verdutzt, dann erschrocken gewesen, und bevor sie Anstalten machen konnten, ihm nahe zu treten, war er fort gewesen.

Diese ungeplanten Begegnungen hatte er meistern können, aber mit gezogener Waffe in eine Bank zu stürmen, war etwas ganz anderes. Er verrichtete sein Gewerbe nachts und allein. Die Waffe war eine Vorsichtsmaßnahme, nicht Teil des Werkzeugs. Wenn er mit ihr eine Bank betrat, musste er bereit sein, zu schießen.

Es gab zwei Arten von Bankraub, darüber herrschte im Milieu Einigkeit, und die Erfahrung gab der Einschätzung Recht. Mit Banden aus Profis, die Geldinstitute überfielen, hatte die Polizei mächtige Probleme, weil eine geschickte Planung praktisch keine Spuren hinterließ. Nur wenn einer der Täter plauderte, bestand die Chance, sie zu überführen und auszuheben. Es gab auch Profis, die als Einzeltäter entkamen, aber die hatten eine ausgefeilte Masche, eine todsichere Strategie und verwendeten viel Zeit darauf, die Abläufe in den Banken, die sie überfielen, auszubaldowern.

Diejenigen Bankräuber, die regelmäßig geschnappt wurden, waren die Amateure. Familienväter, die aus Verzweiflung die nächste Sparkasse stürmten. Die wurden oft noch am Tatort geschnappt oder kamen um, wenn die Polizei ihnen hinterher schoss. Spätestens wurden sie ertappt, wenn sie plötzlich mit dem Geld um sich warfen.

Sich einer Bande anzuschließen, war keine Option. Hannack würde Wochen brauchen, um auch nur einen Kontakt herstellen zu können, und schon danach Ausschau zu halten, würde ihn unweigerlich in das Netz der Polizeispitzel bringen, das womöglich gerade um diese Bande gesponnen worden war. Die Zeit fehlte ihm auch, um einen Versuch als Solist zu wagen. Einen Tatort auszurechnen könnte aufwändig werden, wenn er dabei zu berücksichtigen hatte, dass er am hellichten Tag allein auftreten müsste.

Wenigstens zwei Mann sollten es sein, hieß es im Milieu zum Gelingen eines Bankraubs, mit dem viele liebäugelten ohne je ernsthaft darüber nachzudenken, weil es Schneid brauchte, egal ob man allein oder mit einer Bande unterwegs war. Ein Mann allein muss sich eine eigene Rückendeckung schaffen, und das braucht die passende Gelegenheit am richtigen Ort. Hannack würde unzählige Geldinstitute ausspähen müssen, um das richtige zu finden. Zu zweit könnte man arbeitsteilig vorgehen. Einer kümmerte sich um das Geld, der andere hielt Personal und Kunden in Schach. Er brauchte also einen Helfer.

Er musste nicht lange in der Galerie seiner Bekannten nachschlagen, um auf Erni zu kommen. Der 26-jährige Ernst Külsen war schon Erni genannt worden, bevor es zu Unterscheidungsproblemen mit dem Freund und Namensvetter gekommen wäre, den alle nur Hannack nannten. Sie waren sich im Knast begegnet.

Als Dieb und Einbrecher war Külsen kein großes Licht. Er war von der Unterschlagung her in die Kriminalität gekommen. Er hatte sich von dem Geld genommen, das ihm auf der Arbeit anvertraut worden war. Im Knast waren viele, deren Geschichte der seinen fast aufs Wort glich.

Sie hatten irgendeine Arbeit gehabt, die ihre Tage fraß, und deren Entlohnung nicht einmal für ausreichende Mahlzeiten oder eine passable Unterkunft reichte. Sie hatten sich etwas leisten wollen als Entschädigung für die Fron. Hatten sich ohne sonderliche Vorsicht an der nächstbesten Stelle bedient und waren umgehend erwischt worden. Umverteilung nannten einige das und beriefen sich auf den ewigen Kampf zwischen Arm und Reich, Oben und Unten.

Külsen hatte seinen Stempel gekriegt und sich ganz aufs Stehlen verlegt. Die meiste Zeit seither hatte er im Gefängnis verbracht. Aber Erni galt als anstellig, und erwischt worden war er immer, wenn er alleine unterwegs war. Er war sich seiner Unbeholfenheit bewusst und suchte stets Anschluss an andere, entschlossenere Kriminelle.

Mangels besonderer Fähigkeiten kam er für eine Bandenmitgliedschaft nicht in Frage. Allenfalls sprang er beim Schmierestehen ein für einen regulären Banditen, den die Polizei abgefischt hatte. Külsen lebte perspektivlos von Tag zu Tag. Seine einzige Zukunftsaussicht bestand darin, über kurz oder lang wieder hinter Gitter einzufahren.

Er beging seine Verbrechen, wurde erwischt, saß seine Strafe ab, wurde entlassen und begann von Neuem. Külsen hatte sich in der Routine der Abseite eingerichtet.

Hannack trieb ihn „bei Erika“ in der Gerhardstraße auf. Für die Huren hatte die Nachtschicht begonnen. Von der Reeperbahn herauf hängte sich eine nach der anderen an ihn. „Bin verabredet, Süße, ein anderes Mal“, „meine Freundin erwartet mich“, „wenn ich nicht schwul wäre, würde ich bestimmt schwach werden“ – höflich löste Hannack sich von den Damen, die ihn nicht kannten und anstandslos ziehen ließen.

Nur eine Hure ohne Selbstachtung ließ sich rüde abfertigen, wenn sie ihre Dienste anbot. Männer, die stumm und gesenkten Kopfes vorbeihetzen, wurden erst recht bedrängt, und wer sich aus dem Griff der Damen mit Gewalt entwand, konnte sicher sein, dass das Spießrutenlaufen für ihn erst anfing.

Hannack behandelte die Huren mit dem Respekt, den sie verdienten. Hatten sie nicht von allen, die den Kiez bevölkerten, am meisten zu leiden? Wurden gequält und geschlagen, von Freiern wie Zuhältern, und waren dennoch gezwungen, das, was sie am meisten verachteten als begehrenswert darzustellen.

Hannack ging nicht zu Huren. Huren waren für einsame Bauern und Bürger mit vertrockneten Gattinnen, für Männer ohne Selbstachtung und solche, die gierig waren nach dem, was sie alltags mit lauter Ablehnung bedachten, dem Verbotenen.

Niemand wusste, nach welcher Erika die Wirtschaft benannt war. Der Schankraum befand sich im Erdgeschoss einer Absteige. Die Zimmer wurden sowohl an Dauermieter wie stundenweise an Huren vermietet. Um den Innenhof mit der Kneipe führten schmale Korridore durch drei Geschosse zu zwei Dutzend winzigen Kammern, die den Reichtum des bürgerlichen Besitzers mehrten mit dem Geld derjenigen, die er anderswo als Gesindel bezeichnete.

Man tippte sich an den Kopf, wenn Hannack sich über solche Widersprüche erregte. „Bist wohl Bolschewist, was?“ Die meisten auf dem Kiez bewunderten solche wie den Eigentümer des Hinterhauses an der Gerhardstraße. An seiner Stelle hätten sie sich auch nur um Geld geschert statt sich von Zweifeln und Skrupeln lähmen lassen. Der Kiez wurde von gescheiterten Bürgern bevölkert, die sich keine andere Einrichtung der Welt vorstellen konnten.

In größerer Perspektive war der Umgang der Polizei mit ihnen in Ordnung; sie wären als Bürger mit Verbrechern ebenso umgegangen. Was sie mit der Polizei abzumachen hatten, war ganz unmetaphysisch und alltäglich. Am heftigsten erregte man sich über einzelne Polizeibeamte. Der Apparat war wie er war, aber die individuellen Charaktere, die einem ständig über den Weg liefen, erforderten die ganze Aufmerksamkeit. Jenseits aller Politik lief auf dem Kiez ein ewiges Match um Gewinn und Verlust der Freiheit.

Jeder Verbrecher kannte korrupte Polizisten und unsaubere Arbeitsweisen des Apparats. Recht und Ordnung waren dehnbar, gewiss war nur die Spielaufstellung. Gegenwärtig war das Verbrechertum im Vorteil. Die paramilitärischen Verbände, die sich gegeneinander bekriegten, banden die Kräfte der Ordnungsmächte.

Wenn die Schupo ausrückte, um eine Saal- oder Straßenschlacht zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten zu beruhigen, wurde beim gehobenem Mittelstand Beute gemacht. Die ganz Reichen hatten ihre Villen längst selbst gesichert. In das Ringen zwischen Kiez und Kripo hatten sich Privatdetektive eingemischt, unter denen ehemalige Polizisten ebenso wie Vorbestrafte reüssierten.

Hannack waren sie bisher nicht in die Quere gekommen. Keines seiner Beutestücke hatte eine Versicherung auf den Plan gerufen, die das Detektivhonorar bestritten hätte. Auf seine Ergreifung war keine Belohnung ausgesetzt, die einen Schnüffler im Milieu umgetrieben hätte. Nach einem Bankraub würde sich das ändern. Soundsoviel Prozent seiner Beute als Erfolgshonorar würden für viele als Anreiz genügen. Einer der ausschwärmenden Detektive würde nur einem Suffkopp einen Schnaps spendieren müssen, um zufällig auf die richtige Spur zu kommen.

Er würde in Berlin untertauchen. Nach allem, was man in den Zeitungen las, war die Polizei in der Reichshauptstadt mit Politik überlastet. Die Berliner Kripo hatte zwar einen hervorragenden Ruf, aber das galt nur für Kapitalverbrechen. Kindermorde klärten sie auf und hetzten Serienmörder. Für einen Dieb und Einbrecher wie Hannack, der nicht einmal über eine spektakuläre Betrugsmasche verfügte, würde sich niemand sonderlich interessieren, zumal nicht als Fremden, der einige Monate in der Riesenstadt unterwegs sein könnte, bevor sich die ersten Polizisten sein Gesicht gemerkt hätten, weil er es nicht vermeiden konnte, sondern vielmehr darauf angewiesen war, rasch die richtigen Wirtschaften zu erkunden, in denen er Kontakte knüpfen könnte, jene Lokalitäten, in denen Spitzel und Polizisten Stammgäste waren.

„Bei Erika“ saß vermutlich wenigstens einer von ihnen oder einer, der schon morgen verraten könnte, dass er Hannack hier gesehen habe. Der sah sich eilig im Schankraum um, einer engen, dunklen und verrauchten Höhle, in der wenigstens 30 Leute saßen oder beieinander standen. Hannack erkannte flüchtig ein paar Gesichter oder eine bekannte Gestalt in der Kontur eines Schattens.

Külsen saß am Tresen, wo sich das Licht konzentrierte, das der Wirt zum Zapfen und Spülen brauchte. Hannack drängte sich zu ihm durch und klopfte ihm auf die Schulter. Külsen erschrak. Nachdem er Hannack erkannte, irrte sein Blick umher.

„Ist nicht klug, sich ausgerechnet hier blicken zu lassen. Die sind gerade ganz scharf auf dich. Ich habe…“

„Weiß ich“, unterbrach Hannack. „Wir müssen reden.“ Und er wandte sich zum Gehen.

Külsen stöhnte, sah auf sein Bier und schien darin versinken zu wollen. Hannack stieß ihn an. Külsen rutschte vom Barhocker und folgte. Sie liefen um die nächste Straßenecke und dann über die Treppe hinunter zum Hafen. Erst am Kai kam Külsen dazu, nachzufragen, was los sei.

„Bankraub? Nee, ich weiß nicht…“, murmelte er, nachdem Hannack ihm seine Vorstellungen entwickelt hatte. Entschiedener wurde er nicht. Külsen war ein Mitläufer. Er hatte „bei Erika“ gesessen, weil er sich schwer tat, in die Gänge zu kommen, bis er gar kein Geld mehr auf der Naht hatte.

Er wartete in der Kontaktbörse, bis jemand ihn von einem Ding erzählte, bei dem er mitmachen könne. Dann dockte er sich an die Entschlusskraft eines anderen an. Fand er eine solche Gelegenheit nicht, unternahm er einen Bruch oder stahl etwas, wobei er nicht oft, aber schließlich doch erwischt wurde, weil er die Tat in höchster Not, mit knurrendem Magen begangen und nicht reiflich überlegt hatte.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Külsen sich der überlegenen Entschlusskraft beugte, deren Quellen und Motive nicht die seinen waren. Er brauchte nicht auf einen Schlag viel Zaster, er wollte nicht nach Argentinien, auf ihn war die Schmiere nicht scharf. Aber Külsen machte seine Einwände ohne weiteres Bedenken. Vage ging ihm auf, dass er nachher selbst aus Hamburg würde fliehen müssen. Bevor er dafür Worte fand, hatte er schon eingewilligt.

„Eine Waffe brauchen wir für dich nicht zu besorgen. Ich habe zwei“, sagte Hannack. Külsen dröhnte es in den Ohren.

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Entschlossenheit und ein Revolver in der Faust ersetzten nicht die fehlende Erfahrung. Die Ungeduld tat ein Übriges. Am 14. Juni 1928 lief Hannack mit Külsen durch die Gegend auf der Suche nach einem geeigneten Objekt. Külsen trank zu viel und steckte Hannack damit an.

„Hier ist was zu machen“, meinte Hannack, als er durch ein Fenster in die Sparkasse am Mühlenkamp lugte, „jetzt gehen wir rein.“

Wie viel sie zu erwarten hätten, fragte Külsen? „Hunderttausend?“

Kurz vor Kassenschluss stürmten sie den Schalterraum. Die drei verdutzten Angestellten reagierten nicht wunschgemäß. Sie zögerten, widersetzten sich, waren vor Schreck erstarrt. Wie kriegte man sie dazu, das Geld einzusacken, ohne loszuballern?

Die Räuber machten sich unverrichteter Dinge aus dem Staub. Sie brauchten fast zwei Wochen, um Mut für den nächsten Versuch zu sammeln.

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Die kleine Filiale der „Westholsteinischen Bank“ in Bramfeld war nur mit einem Angestellten besetzt. August Bienwald, 49 Jahre, untersetzt, seit einem Unfall gehbehindert. Um viertel vor elf am 27. Juni 1928 sprang Bienwald aus einem Fenster der Bank.

Passanten hörten einen oder mehrere Schüsse und Bienwalds Hilferufe. Sie sahen einen Mann mit Schusswaffe über die Straße laufen. Zu ihm gesellte sich ein zweiter. Im Fliehen feuerte der Größere der beiden, der braunen Anzug und Schlapphut trug, auf die Passanten.

Bienwald hatte sich inzwischen zurück in die Bank geschleppt, wo der herbeigerufene Arzt ihn sterbend fand. Der Geldschrank war offen, auf Tresen und Fußboden lagen Geldscheine und Münzen verstreut. Vom Kassenbestand fehlten 4500 Mark.

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Er hat es gar nicht gemerkt. Es war einfach passiert, ohne Einschaltung seines Willens. Weit, weit vorher war ein Wille gewesen, eine Absicht. Er hatte einen Entschluss gefasst, eine Entscheidung gefällt, eine Wahl getroffen. Zweifellos. Doch gab es dafür keinen Ort, keinen Tag und keine Stunde; er hatte nicht inne gehalten und mit Brief und Siegel und Stempel dies oder jenes für sich verfügt.

Aber er hatte es getan. Hatte sich die Waffe besorgt, war los gegangen, hatte sie gezogen. Die Waffe schmiegte sich in die Handfläche und füllte sie beruhigend aus. Eine geballte eiserne Faust. Er hielt sich an ihr fest.

Und dann löste sich ein Schuss. Und noch einer. Er hatte geschossen. Zweifelsohne. Aber ihm kam es dennoch vor, als habe etwas geschossen. Etwas, worin er kaum seinen Willen erkennen konnte. Das nicht seinem Hirn, seinen Muskeln allein, sondern ebenso der Atmosphäre geschuldet war.

Die Straße war ebenso Schuld wie er selbst. Dieses Gebäude, die Säulen, das Fenster dort. Der schreiende Bankangestellte. Und dort, die Krawatte des Angestellten, wie sie wild flattert vor der Brust, war vielleicht schuldiger an dem Schuss als der Finger am Abzug.

Hannacks Story (Zeichnungen: urian)

Hannack tigerte durch den Schanzenpark, bevor er Anny am Bahnhof traf. Sie nahmen ein Zimmer in einem Hotel am Hauptbahnhof. Noch in der Nacht machte Hannack einen Bruch im Steindamm und erbeutete eine Kassette mit 1000 Mark.

Zu dritt hauten sie ab aus Hamburg. An die Ostsee, erst nach Travemünde, wo sie eine Nacht blieben. Dann weiter auf die Insel Rügen, nach Göhren, wo Anny sich auskannte; eine Saison lang hatte sie hier als Zimmermädchen in einer Pension gearbeitet. Im folgenden Monat genossen sie den Strand im Sommer, unterbrochen von Geldbeschaffungsmaßnahmen in Berlin.

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Spurensicherung am Tatort kam bei der Fahndung nicht in Betracht. Hülsen aus einer Armeepistole, die in der Bramfelder Bank sicher gestellt wurden, waren das einzige Beweismittel, das jedoch nie vorgebracht wurde. Die Verfahren der Zuordnung von Patronen und Waffen, Kugeln und Läufen waren erstmals 1920 im Prozess gegen die in den USA als Raubmörder hingerichteten Anarchisten Sacco und Vanzetti vor Gericht erörtert worden, aber bei der deutschen Polizei lange noch kein Standardverfahren.

Stattdessen griffen die Kriminalisten in ihr Spitzelnetz und schüttelten daran, ob etwas Brauchbares herausfiel. Tatsächlich hatte Külsen geplaudert. Er hatte die Kanone, die er von Hannack erhalten hatte, verscherbelt und dem Kumpan, der ihm dabei behilflich war, von ihren Plänen erzählt; auch einen Eisenbahnraub mit Masken stellten sie sich vor.

Am Morgen des Überfalls auf die Bank in Bramfeld verriet Külsen seinem Kumpan, dass er jetzt los müsse, zur Mundsburg, um seinen Freund zu treffen, mit dem er ein Ding drehen wolle. Leicht identifizierten die Fahnder Hannack als Külsens Freund.

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Im Juli wurden Fahndungsplakate ausgehängt und Telegramme nach Kopenhagen, Amsterdam, Zürich und Genua geschickt, wohin die Räuber sich abgesetzt haben könnten.

Kurz darauf erhielt der Staatsanwalt, der Anny animiert hatte, ihren Geliebten zu verzinken, einen Brief von Hannack aus Berlin

„Die Grundlage, worauf dieses alles ruht, ist die Passfrage. Ich wurde am 1.6.1927 aus dem Zuchthaus entlassen. Drei Wochen nach meiner Entlassung kam meine Mutter aus Amerika. Meine Mutter riet mir dauernd zu, mit nach drüben zu fahren. Diese Absicht, nach meinen Angehörigen zu fahren, hatte ich schon vor Jahren im Zuchthaus verankert. Meine Mutter kam also. Dann gingen wir beide zum Passbüro. Ich holte mir auf meinen Namen einen Pass. Da kam die Katastrophe mit dem Sittenattest. Ich musste die letzten fünf Jahre unbescholten sein. Meine Mutter fuhr alleine wieder zurück. Ich blieb hier.“

„Wie meine Mutter noch hier war, machte ich schon den ersten Einbruch in einer Villa. Ich brauchte Geld. Am Hafen horchte ich herum und wollte als blinder Passagier fahren. Ich kaufte falsche Seefahrtspapiere; aber es war nichts zu machen, ich hatte keine Erfahrung. Zwei Mal lernte ich Seeleute kennen, die sich als Heizer vorstellten. Ich war betrogen worden und wurde dabei mein Geld los.“

„Ich ging einbrechen, um Geld zu besitzen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Diese Tage und Wochen sind furchtbar in der Erinnerung, auf welch tragische Weise ich die Heimat verlassen wollte. Furchtbarer Hass umkrallte meine Seele, wie ich so umherirrte. Gekennzeichnet – das sah ich Tag und Nacht.“

„Trauen Sie mir alles zu, Herr Staatsanwalt – aber den Mann habe ich nicht getötet. Die Sparkasse Mühlenkamp habe ich auf dem Gewissen. Glauben Sie es mir: In solchen Augenblicken kämpft der Verbrecher einen furchtbaren Kampf: das nennt die Sensation Bravour. Alles Lüge; Wahnsinn ist es in solchem Augenblick. Der Vorgang so einer Tat ist nicht normal.“

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99 nachweisbare Straftaten, listete der Staatsanwalt auf, begingen Hannack, Külsen und Anny auf ihrer Flucht: Wohnungs- und Fassadenklettereinbrüche, Geschäftseinbrüche, mitunter zwei am Tag. Im Juli und August in Leipzig 17 Taten, 19 in München zwischen August und November.

Köln, Düsseldorf, Stuttgart, Dresden waren weitere Stationen des Trios. Am fleißigsten waren sie in Frankfurt am Main, wo sie wenigstens 47 Mal zuschlugen. Hannack und Külsen brachen ein, Anny versetzte die Sore im Pfandhaus.

Nachdem sie eine Konfiserie geplündert hatten, lebten sie eine Woche lang von Schokolade. Im Herbst waren sie zurück in Hamburg, füllten das Konto mit 62 Einbrüchen.

„Mein Leben haben Eure Gesetze vernichtet“, schrieb Hannack ein weiteres Mal an den Staatsanwalt. „Ist nicht alles, was um uns vorgeht, Maske? Wie leben die Reichen von heute? Überall dieselben, die es verstehen mit anderen Leuten aufzubauen. Sie leben wie die Maden im Speck. Ich sehe das alles, und empfinde immer als Mensch. Diejenigen müssen mir zum Leben geben, was ich haben muss. So ist mein Leben vernichtet worden, weil ich keine Rechte mehr hatte. Und die Tore des Zuchthauses werden sich immer wieder öffnen zu zwanzig Prozent von allen, die Kerkerluft geatmet.“

Am 4. Dezember waren Hannack und Anny beim Besteigen des Nachtzugs nach Basel im Bahnhof Altona gesehen worden. Über einen Spitzel erfuhr die Polizei davon. Der Name, unter dem die beiden als Paar reisten, war den Fahndern geläufig; Annys Bruder und Schwester konnten ihre Pässe nicht vorweisen.

Als die Flüchtlinge sich im Konsulat von Uruguay in Frankfurt Visa besorgten, hinterließen sie eine Fährte. In der Mainmetropole waren sie in einem Hotel gemeldet und hatten Gepäck nach Antwerpen aufgegeben.

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Noch eine Nacht. Er konnte nicht schlafen. Anny neben ihm war müde und nickte immer wieder kurz ein. Doch sobald er sich nur ein wenig rührte, schreckte sie hoch, riss die Augen auf, sah ihn an, schmiegte sich an ihn und versuchte, wach zu bleiben.

Nur Stunden noch, bis sie an Bord gehen konnten. Nur ein kurzer Augenblick, der sich endlos dehnte. Ein Moment, in dem sich Jahre konzentrierten nach diesem letzten verzweifelten Anlauf. Nach vier Monaten, in denen er durch das Land gekreist war, das er fliehen wollte, und es dabei umso besser kennengelernt hatte aus seiner Außenseiterposition. Nur noch über den Ozean.

In der „Pension Internationale“ in Amsterdam hatte das Trio zwei benachbarte Zimmer bezogen. Külsen reiste als Wilhelm Anschel; den Pass hatten sie im Oktober in einer Wohnung in Köln mitgehen lassen. Sie hatten Tickets für Montevideo.

Um Mitternacht am 9. Dezember 1928 stürmte die Polizei das Zimmer. Hannack war zu überrumpelt, um an Gegenwehr zu denken. Herr Anschel vom Nebenzimmer, der von Hotelangestellten mit dem Paar zusammen beobachtet worden war, leugnete jede Verbindung zu den Verhafteten; nach zwei Tagen kam Antwort aus Köln, Anschel sei daheim.

Die Barschaft der Flüchtlinge war dürftig. Hannack hatte etwas mehr als 200 Mark und 500 Gulden in der Tasche, Külsen knapp 15 Gulden und Anny nur 21 Pfennige und drei Gulden.

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In einem Brief an den Staatsanwalt brüstete Hannack sich: „Im Einbrechen kann mir in ganz Fuhlsbüttel keiner gleichkommen. An einem Abend mache ich, wenn es sein muss, vier bis fünf Villen. Ich mache alles alleine. Ich habe stets einen Revolver bei mir. Ich kenne keine Gefahr. Ich bin, wenig gesagt, dreißig bis vierzig Mal überrascht worden, aber trotz Pistole habe ich noch nie einem Menschen weh getan. Als Einbrecher bin ich als Überraschter ein ganz großer Schauspieler. Talent muss man haben! ‚Hände hoch, ich schieße‘, kein Wort mehr!“

In der Bramfelder Bank, da sei der Kassierer auf ihn losgegangen, verteidigte sich Hannack in seinem Prozess im März 1929. Dabei habe sich der Schuss gelöst. Ein Versehen, versicherte er dem Gericht.

Aus der Zelle hatte er dem Staatsanwalt bereits mitgeteilt: „Ich will mich ganz und gar der Poesie widmen.“ Dazu verschaffte das Gericht ihm Muße mit 15 Jahren Zuchthaus für Raub mit Todesfolge und versuchten Totschlag sowie die Einbrüche, von denen die Staatsanwaltschaft 180 seit Hannacks Entlassung im Sommer 1927 zählte. Külsen wurde zu 12 Jahren verurteilt.

Anny war bereits wegen Hehlerei mit 15 Monaten Haft bestraft worden, die sie von August 1929 bis Juni 1930 verbüßte. Die Behörden verloren das Interesse an ihr, und sie verschwand aus der überlieferten Geschichte ihres Geliebten. Keine weitere Begegnung ist verbürgt.

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Drei Tage nach seiner Verurteilung bedichtete Hannack seine „Gewissensbisse“:

„Auf dornendem Lager / umschattet der Nacht / bei schmerzenden Sinnen / der Schlaf bleibt wach. / Der Ort von Tränen / und das Leben Nacht / die Sonne erhaschen / kein Stern am Himmel lacht. / Die Mauern sie schweigen / von klagendem Leid / die einzigen Zeugen / schauriger Wahrheit / und Stürme da bersten / an der Mauern Grund / so klagend und seufzend / wie der heulende sterbende Bund. / Da packt mich Entsetzen / ich sehe das Bild / die Dornen so schmerzen / weil das Schicksal es will. / Du darfst nicht ruhen / bei Tag noch bei Nacht / bis dir ist vergeben / von des Todes erlösender Macht.“

Selbst aus Köln, wo er im Juni 1929 zu den dortigen Einbrüchen verhört wurde, sandte Hannack dem Staatsanwalt Gedichte. „Alsterfluten“ oder „Himmelsfunk“ betitelte er die Lyrik für seinen Ankläger:

„Eine Radiostation aller Seelen mit Sendern und Empfängern ist in der Himmelsregistratur seit der Erdenschöpfung wohl gar schon länger. Dass keine Verwechslung der Seelen, auch daran hat Gott gedacht, er hat das Radiofernsehbild und die Fingerabdrücke registriert gemacht. Es sind Gewissensbisse um uns herum, das Böse und Gute wird registriert im Himmelsfunk. Der Tag des Gerichts wird entschieden durch das Erdenlebenführungspfand, das aus der Radioregistratur wird zu Gott gesandt.“

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Die Haftanstalt in Rendsburg experimentierte mit „humanem Strafvollzug“. Dem Namen des Direktors und den vergleichsweise komfortablen Bedingungen nach wurde die Einrichtung als „Villa Sonnemann“ geschmäht und gerühmt.

Hannack wurde für Arbeiten im Haus eingesetzt und hatte Zugang zu Schlüsseln. In einem unbeobachteten Moment öffnete er am 5. Dezember 1932 die Zellen zweier Mithäftlinge. Zunächst kletterten sie auf einen Dachboden, wo sie eine gestohlene Aufseheruniform deponiert hatten. Von dort krochen sie in einen anderen Teil des Gebäudes.

Einer verkleidete sich, wahrscheinlich war es Hannack, schloss die Türen auf und geleitete die beiden anderen als Gefangene über den Innenhof, vorbei an einem anderen Wächter, der den falschen Aufseher grüßte, bevor dieser mit seiner Begleitung vermeintlich im Lazarett verschwand, tatsächlich aber durch einen Nebenausgang. Hannacks Kumpane wurden bereits kurz darauf in Hamburg gefasst.

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Am 7. Februar 1933 fiel auf dem Stephansplatz einem Privatdetektiv ein Mann auf. Das Gesicht hatte er sich für alle Fälle gemerkt, es war mehrmals in der Zeitung gedruckt gewesen; gab bestimmt eine Belohnung. Der Detektiv folgte dem Mann bis zu einem Haus in der Fruchtallee. Dann alarmierte er die Polizei.

Am nächsten Morgen wurde das Gebäude von Beamten abgeriegelt. Der Verdächtige nannte sich Bollmann und hatte einen Revolver bei sich. Hannack wurde gefesselt auf die Wache gebracht. Er erbat sich ein Butterbrot. Und erhielt es.

Mit der Acht um die Gelenke war schlecht essen; Hannack überredete seinen Wärter, die Handschellen zu lösen. Plötzlich sprang Hannack auf, schlug den Wächter nieder, hechtete aus einem nicht ganz vergitterten Fenster im ersten Stock – und war weg. Als die Polizisten ihm nachsetzen, entdecken sie zwar eine Blutspur, nicht aber den verletzten Flüchtling.

Hannack war ins nächstbeste Haus gelaufen. Nazis hätten ihn überfallen, erzählte er blutüberströmt den Leuten an der Wohnungstür. Ob er sich bei ihnen säubern und dann ein Taxi rufen könne? Nein, keine Polizei, das würde nur mehr Scherereien machen.

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200 Mark betrug die Belohnung, als Hannack am 28. März 1933 über das Heiligengeistfeld strich, von zwei Passanten erkannt und einem Schutzmann gezeigt wurde. Der trat auf Hannack zu, verlangte den Ausweis. Hannack riss zwei Revolver heraus, drohte und machte sich davon.

Der Polizist sprang in Deckung und feuerte dem Fliehenden nach. Hannack blieb unverletzt. Der Polizist sah ihn in ein Haus an der Budapester Straße rennen, blieb draußen und forderte Verstärkung an. Bei der Durchsuchung des Gebäudes wurden auf dem Dach ein Jackett und Blutspuren gefunden. Hannack war wieder entkommen.

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Im Sommer schloss Hannack sich der Petersen-Bande an. Adolf Petersen, 51 Jahre, „König der Einbrecher“ und „Lord von Barmbek“, hätte eigentlich sitzen müssen. Vermutlich hatte er einen Deal mit der Justiz. Die „neue nationale Regierung“ zog alle Register, die Drohung mit der Todesstrafe war das Wenigste.

Wahrscheinlich hatte Petersen sein mit Hannack für den 24. Oktober 1933, 17 Uhr bei der Kirche am Mittelweg, verabredetes Treffen verraten. Jedenfalls hatte die Polizei den Platz umstellt. Hannack roch die Falle. Kaum hatte er Petersen begrüßt, als er schon weg lief, nach Pöseldorf hinein.

Hinter sich schießend hielt Hannack die Verfolger auf Abstand, bis er sie im Geschachtel der Gassen abhängen konnte, über einen Gartenzaun sprang und sich im Gebüsch versteckte.

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Die Zeitungen entfachten „Hannack-Hysterie“ in Hamburg. Überall wurde der schießwütige Desperado, der „Schrecken von Harvestehude“ gesichtet. Auch am 26. Oktober 1933 im Bahnhof von Bergedorf. Und trotz eleganter Kleidung und grauer Hornbrille erkannt.

Der Mann wollte nach Berlin, und der Schaffner musste ihn belehren, dass er hier keinen Schnellzug kriege; er müsse über Ludwigslust fahren, der nächste Zug gehe in drei Stunden. Ohne das Gespräch über den Irrtum im Fahrplan hätte der Schaffner sich Hannack kaum genauer angesehen.

Er telefonierte nach der Polizei, die den Verdächtigen auf dem Weg zum Schlossgarten aufspürte. Hannack erspähte die beiden Verfolger und rannte los.

Sie schrien: „Stehenbleiben!“ Er rannte weiter. Sie schossen ihm nach, er erwiderte das Feuer. Ein Schuss streifte Hannack am Kopf, eine Kugel blieb in seiner Schulter stecken.

Er rannte weiter. Doch seine mangelnde Ortskenntnis rächte sich ein zweites Mal: er steuerte direkt auf die Polizeiwache zu, aus der Beamte kamen, die von den Schüssen alarmiert waren. Hannack raste in die nächstbeste Straße. Auch dort Uniformierte. Endlich warf er die Waffe weg.

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Am Tag nach dem gescheiterten Treffen mit Hannack war Adolf Petersen wieder festgenommen worden. Bevor er eine Aussage machen konnte, erhängte er sich in der Zelle.

Hannack wurden in seinem neuerlichen Prozess 35 Diebstähle zugeordnet, von denen er etliche als Teil der Petersen-Bande begangen hatte. Er saß gefesselt auf der Anklagebank.

In seinem Fall fand ein neues Gesetz der Nationalsozialisten Anwendung: Wer Polizisten angreift, ist unbedingt des Todes, gleichgültig, welchen Schaden er tatsächlich anrichtet. Der ballernde Desperado traf nicht.

Am 28. Februar 1934 erging das Urteil, „weil er es unternommen hat, Polizeibeamte, die ihn verfolgten, wegen ihrer dienstlichen Tätigkeit zu töten“, was die „Gemeingefährlichkeit des wiederholt schwer bestraften Täters“ beweise.

„Hülle dich in Tand nur und spiele diesen furchtbaren Roman zu Ende bis alles vorbei“, dichtete Hannack für den Staatsanwalt.

Am 3. März 1934 endete die schauerliche Ballade. Eine Zeitung schrieb über die Rechsprechung im Geist der neuen Zeit: „Seiner Willensrichtung nach ist Hannack dutzende Male der losknallende, rücksichtslose Mörder und Revolverheld gewesen; man denke nur an die höllische Verfolgung über die Dächer St. Paulis und an die beiden Hetzjagden durch Harvestehude und Bergedorf. Die frühere Rechtsauffassung hätte einen so gefährlichen Mann trotzdem viel milder wegkommen lassen als etwa einen eifersüchtigen Liebhaber, der in der Erregung, unter ungeheurer Gefühlsbelastung die Nerven verliert und eine Riesendummheit macht. Das ist nun gründlich anders geworden. Der Beilhieb des Scharfrichters im Falle Hannack war ein Schnitt durch die Zeitgeschichte, eine richtige historische Zäsur; in Hannack ist nicht nur ein unverbesserlicher hochexplosiver Schwerverbrecher geköpft worden, sondern eine ganze juristische Weltanschauung.“

Seit 1917 war die Todesstrafe in Hamburg nicht vollstreckt worden. Die NS-Regierung änderte das sofort. Bis 1945 wurden mindestens 475 Todesurteile an „Volksschädlingen“ vollstreckt. Nur 12 Prozent waren Mörder und Totschläger. Eine abfällige Bemerkung über das Regime reichte.

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aus: Elses Lachen. Wahre Kriminalfälle. Bremen 2009

© Uwe Ruprecht

Siehe auch → Pitavalgeschichten. Eine Übersicht des Genres »Wahre Kriminalgeschichten« oder »True Crime« oder im Menü »Gerichtsgeschichten« sowie unter → Kriminalgeschichten