Über das Schreiben wahrer Geschichten
Während ich hier eine weitere der rund 50 historischen Kriminalgeschichten einstelle (im Menü als »Gerichtsgeschichten«), die ich im vergangenen Vierteljahrhundert erarbeitet habe, häufen sich die beiläufigen Reflexionen, die nicht die Sache selbst, sondern meine Machart davon betreffen: wie ich »Pitavalgeschichten« zu schreiben pflege.
Der Pariser Advokat François Gayot de Pitaval sammelte Causes célèbres et interessantes, berühmte und bemerkenswerte Rechtsfälle, und machte sie ab 1734 der Öffentlichkeit zugänglich.
Seinerzeit war von kriminalpolizeilicher Arbeit keine Rede, und die Justiz operierte soweit möglich im Geheimen, häufig in Folterkellern. Die Darstellung von Verbrechen war Kolporteuren und Propagandisten überlassen, den Flugschriften, die rund um das Schafott verteilt wurden, am Rande der Zurschaustellung des Verurteilten, worin das einzige offizielle Bild des Verbrechens bestand.
Pitaval war der erste, der Straftaten nüchtern darzustellen unternahm und seinen Lesern die Sachverhalte entlang eines juristischen Leitfadens so wahrhaftig wie möglich zum eigenen Urteil unterbreitete. Nach seinen eigenen Maßstäben betrieb Pitaval Rechtsgeschichte, nach heutigen war er ein Vorläufer des noch ungeborenen Journalismus.
Eine erfundene Geschichte enthält nur genau die Elemente, auf die es ankommt. Sie sollte ohne Lücken, Brüche, Sprünge auskommen, alles sollte glatt aufgehen. Diese Geschichten lassen sich nur genau auf die Art schreiben, in der sie dann vorliegen. Von einer wirklichen Geschichte kann es verschiedene Fassungen geben.
Ich habe mir bevorzugt Kriminalfälle vorgenommen, die noch jungfräulich waren (wenn Mann das Bild noch gebrauchen darf), unbeleckt (klingt auch anzüglich, wenn man schon dabei ist) – die jedenfalls noch nie zusammenfassend beschrieben worden waren.
In der Regel lagen mir zu der Causa die Strafakte des Täters (Kapitalverbrechen sind weit überwiegend Männersache; im TV-Krimi wird von Frauen mehr gemordet als in der Realität) und Presseberichte vor. Zu Fällen ab den 1920er Jahren fanden sich außerdem Zeitzeugen. Je nach Sachverhalt waren weitere zeitgenössische Verhältnisse zu erkunden.
Es reichte mir nicht, mich im erhältlichen Schriftgut auszukennen. Unabdingbar waren Ortstermine. Keineswegs nur deshalb, weil ich für eine publizierbare Geschichte Bilder brauchte und für Fotos vergleichsweise besser bezahlt wurde als für Textzeilen.
Noch jedes Mal, wenn ich, Schilderungen in Schrift und Bild im Kopf, meine inzwischen verfertigten Vorstellungen mit den tatsächlichen räumlichen Gegebenheiten konfrontierte, veränderte, erweiterte oder verengte sich die Geschichte, traten Aspekte hinzu, die sich aus den Vortexten gar nicht ergeben konnten – und sei es nur, weil mein Blick Jahrzehnte später auf dieselben Gegenstände fiel.
Ich habe unterschiedlich umfangreiche Texte über Verbrechen verfasst, von 100 Zeilen bis 100 Seiten lang, und nicht zuletzt auch aus kommerziellen Gründen mehrere Fassungen derselben Vorgänge geschrieben und damit umgehen müssen, dass ich von dem jeweiligem Fetzen Wirklichkeit wiederum nur einen Abriss zeigen kann.
Ein getreues Bild zu zeichnen zu wollen, ist eigentlich eine Anmaßung. Umso sorgfältiger sollte man bei der Aufzeichnung wirklicher Vorkommnisse sein.
Gleichwohl: ein Fetzen Wirklichkeit ist keine Geschichte. Was mir vorlag – die Akten und Zeitungsberichte sowie die Notizen während der Recherche – besagte nichts, bis die Fäden heraus präpariert waren, mit denen sich eine bündige Erzählung von 1500 Wörtern stricken ließ.
Aus dem strukturell stets gleichen Ablauf des behördlichen Verfahrens, das sich in den Medien spiegelt, ergäbe sich nur immer die gleiche Dramaturgie. Die besondere Geschichte findet sich jenseits dessen, womit Polizei, Justiz und Presse den betreffenden Fall gleich wie andere abhandeln.
Von einer Causa gibt es sowohl eine Fassung für die Sonntagsausgabe einer Boulevardzeitung von weniger als 800 Wörtern wie eine Buchfassung von 37 Seiten. Derselbe Fetzen, zwei Geschichten.
Insofern ich aus dem Buchverkauf keine Einnahmen erziele und dem Verlag nicht verpflichtet bin, kann ich mir erlauben, die Variante aus Elses Lachen. Wahre Kriminalfälle (Bremen 2009) hier zum Vergleich einzustellen: Ballade vom Desperado.
Den Fetzen habe ich nicht zuerst aufgerissen, sondern kannte bereits die Darstellungen von H. Ebeling (1968) und M. Jensen/K. Nosratian (1996), als ich im Hamburger Staatsarchiv mehrere Aktenbestände einsah (A 10735/30, 3 Bde u. a.). Hinzu kamen reichlich Zeitungsberichte.

50 Seiten umfasst der Extrakt vom 21. Mai 2008 in meinem Notizbuch: die »Informationen«, die ich als wesentlich für meine Geschichte erachtete. Die Seite, bei der meinem Notizbuch der Rücken bricht, lautet: »Pässe von Bruder & Schwester Annys (Wanda 1.2.10, Arthur 8.7.07) | beim uruguayischen Konsul in Frankfurt Visen | Mutter Johanna R. (* 25.9.77) | im Schlafwagen über die Grenze, dann 8.12. 11 Uhr Amsterdam | 9. 12. nach 12 Uhr verhaftet | das Einbruchs-Werkzeug tragen H. und Külsen in einer Aktentasche«.
An der Räubergeschichte interessierte mich vor allem die darin enthaltene Liebesgeschichte. Ich las sie nicht hinein oder heraus – sie sprang mir bei der Durchsicht der Akten ins Auge.

Meine erste Fassung (Hamburger Morgenpost 10.8.2008) begann: »Im April 1928 wird es eng für Ernst Hannack (27). Bei seiner Geliebten Anny (24) werden sieben Koffer mit Beute aus seinen Einbrüchen beschlagnahmt.«
In der zweiten Version (Kreiszeitung Syke 17.10.2009) ist der Akzent noch deutlicher: »›Sie ist eben ein Kind mit guten Augen und liebender Seele‹, schreibt Ernst Hannack über seine Geliebte Anny.«
Die Buchfassung fängt an: »Anny lief im Zimmer auf und ab.«

In der Fassung von H. Ebeling kommt Anny nur am Rande vor, als beliebige Gangsterbraut, die für die Straftaten aus seiner polizeilichen Sicht (der Autor war zur Tatzeit selbst vor Ort im Dienst) nicht näher in Betracht steht (was sich für mich aus der Akte anders ergab). Derselbe Fetzen, ein gänzlich anderer Faden.
Die Daten und Ereignisverläufe sind dieselben, aber die Lesart unterscheidet sich. Eine »objektive« Ansicht gibt es nicht. Selbst wenn ich keine Geschichte erzählen würde, sondern das tatsächliche Geschehen lediglich dokumentieren wollte, würde ich auswählen, gewichten und in der Beschreibung werten müssen.
Meine Betrachtung eines Kriminalfalls wird erheblich davon mitbestimmt, dass ich mich mit hunderten vertraut gemacht habe – und auf Besonderheiten anders achte, als auf das Gewöhnliche, das unbedarften Lesern bereits besonders erscheinen kann.
Für Pitavalgeschichten gibt es wie für die Polizeiberichte in der Presse Standards und Stereotypen. Einige sind sachlich unvermeidlich, aber hält man sich nur an sie, büßen die Geschehnisse ihre Einzigartigkeit ein. Bei allzu vielen Erzeugnissen habe ich den Eindruck, die Verfasser haben gar keine Besonderheit erkannt, weil sie lediglich die vorgesehenen Leerstellen im Textraster mit Namen und Daten gefüllt haben.
Auf eine metaphysisch melancholische Art ist jede Schandtat gleich – insofern verstehe ich jede, die nichts davon hören will. Unbegreiflich sind mir freilich Leute, die verschiedene authentische Kriminalfälle beschreiben und dabei immer dieselbe Geschichte erzählen.
Ich habe den Verdacht, dass sie lediglich nicht genau genug hinschauen. Gewiss: ein Gattenmord ist wie der andere; kennt man einen, kennt man alle. Und Beziehungstaten sind überhaupt die häufigste Art, gewaltsam ums Leben zu kommen. Unter den zwei Dutzend Fällen in Elses Lachen sind sieben solche. Aber jeder hat sein eigenes Gepräge.
Ein Fall aus den 1930ern (Die Leiche im »Schweinemagen«) unterschied sich durch die Dauer der Ermittlung und den Umgang des Täters mit der Leiche. Eine Hauptrolle spielte der Zufall.
Soviel ließ sich der Akte und den Zeitungen entnehmen. Ich suchte die Schauplätze auf (das Mordhaus stand noch), erkundigte mich nach Zeitzeugen und stand bei den Nachfahren des Mannes vor der Tür, der seinerzeit die Leiche entdeckt und damit auf einen Spatenstich den Fall gelöst hatte.
Zufälligerweise hatte rund 20 Jahre vorher ein Verwandter ein Tonband mitlaufen lassen, als der Alte seine Geschichte zum Besten gab, und man scheute sich nicht, mich eine Kopie machen zu lassen.
Zufall, dass in diesem Mitschnitt der Kommissar eine tragende Rolle spielte, der mir bereits als wesentlicher Akteur in einem anderen Fall untergekommen war.

Ohne den Zufallsfund zum Leichenfund hätte ich in meiner Darstellung vielleicht den Akzent auf die echten und vermeintlichen Wahrnehmungen der 12-jährigen Tochter zum Mord des Vaters an der Mutter gelegt. Ich hörte, sie lebe noch – und verzichtete darauf, daran zu rühren. Zumal an einer weiteren Stelle unvermeidlich Familiengeheimnisse in den Focus verständiger Leser gerieten.
In einer fiktiven Geschichte hätte ich für die Liebesgeschichte des Räubers ein Ende erfinden müssen. In der Wirklichkeit habe ich keines gefunden. Anny verschwindet aus der Akte, und ihre Spur anderweitig aufzunehmen dürfte selbst mit amtlichen Mitteln aufwändig und höchstwahrscheinlich aussichtslos sein.
Verbrecher und die, die mit ihnen zu tun haben, sind in der überwiegenden Mehrheit ganz gewöhnliche Menschen, deren Spuren sich überhaupt nur deshalb und nirgendwo anders in vergleichbarer Form der Historie überliefern, weil sie Gegenstand eines Strafverfahrens geworden sind.
Entsprechend ist das Umfeld ein alltägliches, in dem bedeutend ist, was wiederum nirgendwo oder selten aufgezeichnet wird. Die Beteiligten führen keine Tagebücher oder füllen Timelines auf Facebook. Und täten sie es, müsste es entziffert werden. Wie lange dauert es, bis ein Posting Patina angesetzt hat und niemand mehr weiß, wovon darin eigentlich die Rede ist, ohne jeden zweiten Begriff nachschlagen zu müssen?
Ein erheblicher Teil der Texte, die als »wahre Kriminalgeschichten« in Umlauf sind, sind Varianten nicht des Fetzens Wirklichkeit, sondern dessen, was bereits darüber veröffentlicht wurde: Literatur ohne Quellen.
Orte werden von Leuten beschrieben, die diese nur aus den Texten anderer kennen, und weder sie noch ihre Leser bemerken die Irrtümer, denen sie unterliegen, sei es auch nur, weil eine Formulierung zweideutig ist.
So entstehen Legenden und Mythen, indem sie im Gewand der Wahrheit daher kommen, während sie tatsächlich das aus Texten zweiter Hand Zusammengeklaubte als getreues Abbild des Fetzens Wirklichkeit ausgeben.
Ob die Geschichte dieses oder jenes Räubers oder Mörders so oder anders aufgefasst wird, fällt in den Bereich künstlerischer Freiheit und die Verantwortung der Leser, die glauben mögen, was sie wollen. Um mit Kriminalität Politik zu machen werden Legenden als Tatsachen in die Welt gesetzt.
Soeben, im März 2018, wurde vom Rat der Stadt Buxtehude ein Kriminalfall, zu dem man sich über Jahrzehnte partout nicht politisch verhalten wollte, obwohl es angezeigt gewesen wäre, zur Legendenbildung herangezogen. Das Opfer sei im Streit um den Satz »Hitler war der größte Verbrecher« getötet worden und dabei habe es sich um einen Fall von »Zivilcourage« gehandelt.
Ich habe die Causa und ihre Legenden (Die Braunen Banditen von Buxtehude) und die Laufbahn eines der Täter (Das Nest in der Nordheide) so gründlich wie möglich untersucht. Der Satz ist nie so gesagt worden, und der Getötete wurde nicht das Opfer von Neonazis, weil er »Antifaschist« gewesen wäre.
Über die zweifelslos vorhandene Legendenbildung bei der Braunen Bande ist nichts wirklich Substantielles bekannt. Sie dürfte ähnlich weit entfernt von der erkennbaren Wirklichkeit entfernt sein, wie die Zuschreibungen auf der Homepage der Stadtregierung.
Polizeireporter und Politiker machen die Wirklichkeit stets einfacher und eindeutiger, als sie ist. Statt der Fransen eines Fetzens zeichnen sie klare Umrisse.
Eine gewisse Klarheit muss sein, sonst wäre es der Fetzen und nicht die Geschichte. Die Vorkommnisse am Busbahnhof zu Buxtehude anno 1992 lassen sich inzwischen wohl hinlänglich klar und deutlich aufzeichnen. Das heißt jedoch gerade nicht, dass sie in einer Schlagzeile oder Parole und in einem Abziehbild einfangen lassen.
»Wehret den Anfängen!« steht auf einer am Tatort angebrachten Gedenkplakette. Der Satz war schon zur Tatzeit eine fromme Lüge derer, die die Wirklichkeit nicht wahrhaben wollten; er war es, als die Tafelinschrift geprägt wurde und ist es weiter: aus zuverlässiger Quelle höre ich, der Satz soll auf der diesjährigen Gedenkveranstaltung gesagt worden sein.
Bei fast allen Fällen, die ich mir vornahm, hatte ich eine mehr oder weniger dicke Legendenschicht abzukratzen, um die wirkliche Geschichte freizulegen. In der Buxtehuder Causa konnte ich mitverfolgen, wie der politische Zuckerguss aufgetragen wurde.
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Siehe mehr unter → Kriminalgeschichten
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