Der Landjäger von Hammah 1924–37
»Familienname?«
»Plape.«
»Sämtliche Vornamen?«
»Hermann Julius.«
Mit Bleistift füllt Gendarmerie-Hauptwachtmeister Wilhelm Neumann die ersten Rubriken des »Fragebogen für tschechoslowakische Staatsangehörige in Deutschland« aus.
Es ist 15.30 Uhr am 14. März 1937. Neumann sitzt an seinem Schreibtisch in der »Landjägerei« von Hammah.
Die Leute nennen das Haus am Pinnbarg weiterhin so, obwohl die Landjäger, die Polizisten der preußischen Provinz Hannover, seit 1934 Gendarmen heißen. Wilhelm Neumann benutzt nach wie vor alte Briefbögen, auf denen er die Anschrift »Landjägereiposten« durchstreicht und darüber »Gendarmerie Postenbereich« stempelt.
Sein Schreibtisch ist klein und voll. Auf der Platte stehen Radio, Telefon, Briefwaage und die Figur eines Hahns, der Klebeband hält. An der Wand darüber das obligatorische Hitler-Bild. Das Büro des Gendarmen ist eine Ecke seiner Wohnstube.
Auf dem Fragebogen für Hermann Plape trägt Neumann noch Geburtsdatum und -ort ein, den Personenstand und die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, dann wird seine Schrift unsicher und bricht plötzlich ab.
Hermann Plape begreift erst nicht. Als sich aber der Polizist gar nicht mehr rührt, springt er auf und läuft in den Flur.
»Frau Neumann«, ruft er durchs Haus, »Ihrem Mann ist schlecht geworden.«

Der Arzt Dr. Greer, der aus Himmelpforten eintrifft, kann bloß den Tod feststellen: Herzschlag. Wilhelm Neumann, den seine Freunde Willy nannten, war übergewichtig, rauchte viel und trank gern.
Bei Dr. Greer war er wegen eines chronischen Magenleidens in Behandlung. Neumann hatte immer einen Vorrat Pillen mit Belladonna, dem Extrakt der Tollkirsche, bei sich, auf den er zurückgriff, wenn ihn Krämpfe überfielen.
Dem Lokalblatt war das Sterben des Dorfpolizisten zwei Sätze wert. »Im Alter von 48 Jahren verstarb plötzlich der Gendarmeriehauptwachtmeister Leutnant a. D. Wilhelm Neumann. Während er eine Vernehmung vornahm, machte ein Herzschlag seinem Leben ein Ende.«
Am nächsten Tag rief ihm der Kommandeur der Gendarmerie in einer Anzeige nach: »Mitten aus einer Diensthandlung heraus wurde uns unser lieber Kamerad […] plötzlich und unerwartet durch einen schnellen sanften Tod entrissen«.
In der Chronik von Himmelpforten hat Neumann außerdem einen Platz als Gründer des Reitvereins und eines Gesangvereins. Beide gingen noch vor seinem Tod ein.
Damit ist die offizielle Hinterlassenschaft des Wilhelm Neumann, geboren am 19. Januar 1889 in Weißenhöhe (Kreis Wirsitz), gestorben am 14. März 1937 in Hammah, beschrieben. Es ist nicht wahrscheinlich, dass er, älter geworden, noch von sich reden gemacht hätte.
Er war kein Charakter, über den sich eine Abhandlung verfassen ließe. Ein Durchschnittsmensch, der seinen kleinen Platz ausfüllte, neben und mit vielen anderen, die wie er in der Geschichte untergegangen sind. Zufall hat es gefügt, dass sein spärlicher privater Nachlass nicht irgendwo verstreut, verbrannt, vermodert und vergessen ist.
Der nie zu Ende ausgefüllte Fragebogen für Hermann Plape lag in einem Karton in der Kanzlei eines Stader Rechtsanwalts, wo ich ihn durchsah. Die Familie der Frau des Anwalts war mit Ottilie Neumann, der Witwe des Gendarmen, befreundet. Er selbst kümmerte sich um Ottilie, bis sie kurz vor Weihnachten 1985 90-jährig starb.
Zum Dank vererbte sie ihm den Schreibtisch ihres Mannes. Dessen Schubladen waren noch gefüllt – mit dem Krimskrams, der ein Leben umreißt: Urkunden und Quittungsbücher der Spar- und Darlehenskasse; eine Zigarrenkiste mit einer »stereoskopischen Kriegsbildsammlung der 109. Infanterie-Division Kurland«; ein Reisepass und Das kleine Konversationslexikon für die Rocktasche; das »Ausgabenbuch« für die Jahre 1933 bis 1935; Briefe alter Kameraden; Ansichtspostkarten und stapelweise Fotos.
Wilhelm Neumann war mit ganzem Herzen Soldat. In mehrfacher Ausfertigung bewahrte er eine Liste der insgesamt rund 80 Gefechte und Schlachten auf, an denen er während des Ersten Weltkriegs teilnahm. Ein »Tagebuch«, das er von 1914 bis 1923 führte, enthält keine persönlichen Einträge, sondern ist eine Art Buchführung der Kriegsereignisse und seiner anschließenden militärischen Verwendungen.
Zuletzt war Neumann Feldwebel in Lübeck. Bei Reserveübungen brachte er es bis zum Leutnant. Er wäre gern weiter beim Militär geblieben, aber für die nach den Versailler Verträgen reduzierte Reichswehr war er inzwischen zu alt.
Seine Bewerbung als Landjäger war eine Notlösung. Schließlich musste er vier Kinder durchbringen, zwei Söhne und zwei Töchter, denen die Mutter gestorben war. Schon bald, nachdem er Witwer geworden war, hatte er wieder geheiratet, die sechs Jahre jüngere Ottilie.
Er hätte eine Stationierung in Stralsund oder Köslin vorgezogen, aber man bot ihm eine Stelle in Stade-Schölisch an. Und disponierte dann kurzfristig um. Am 16. Januar 1924 trat er seinen Dienst in Hammah an.
Leider nur als »Landjäger zu Fuß«, nicht »zu Pferde«. Ottilie nämlich soll gemeutert haben: »Ich will nicht der Reitknecht meines Mannes sein!« Also musste der leidenschaftliche Reiter mit einem Fahrrad Vorlieb nehmen.
Kurz nach Dienstantritt schuf sich der Pferdenarr trotzdem Abhilfe und gründete einen Reitverein, mit dem er an Turnieren teilnahm. 1932 in Hamburg wurden die Hammaher sogar »Deutscher Meister der ländlichen Reiterei«.
Der Zugereiste scheint sich ziemlich rasch ins Dorfleben integriert zu haben. Auch an der Gründung des Gesangvereins Concordia war er beteiligt. Als erstem Vorsitzenden oblag ihm die Organisation des alljährlichen Sängerballs.
Im Alltag musste Familie Neumann sich bescheiden. Abzüglich Steuern und der Miete für die Wohnung in der Landjägerei blieben ihr 235 Reichsmark und 67 Pfennig monatlich zum Leben. Zum Vergleich: Butter kostete 74 Pfennig, Milch 36, Brot 50 Pfennig.
Hammah hatte etwa 560 Einwohner, und der Landjäger war nicht sonderlich gefordert. Es sei denn, er machte sich Arbeit.
Abends im Gasthaus, wird erzählt, soll der preußisch penible Neumann in gemütlicher Runde, aber in Uniform, einen Skat gedroschen haben. Zur Polizeistunde habe er sich verabschiedet, seinen Tschako aufgesetzt und draußen den Skatpartnern aufgelauert, die es wagten, ohne Licht am Fahrrad den Heimweg anzutreten.
In Neumanns Hinterlassenschaft aus dem Schreibtisch finden sich nur zwei Belege für kriminalistische Aktivitäten. Eine Ausgabe des Deutschen Fahndungsblattes von 1927 mit einer Vermisstenmeldung: Der 27-jährige Peter Jakob Witt aus Groß Sterneberg war von zu Hause verschwunden. »Es wird vermutet, dass er versuchen wird, irgendwo beim Militär oder Schupo oder auch bei der Fremdenlegion einzutreten.« Offenbar hatte Neumann die Suche eingeleitet.
Außerdem zwei Zeitungsausschnitte. Im Dezember 1931 wurde in Hammah bei einem Schneider eingebrochen. Der Dieb ließ allerhand Textilien mitgehen und tat sich auch an einer halben Flasche Branntwein gütlich. Sechs Tage später wurde er gefasst, der Zeitung zufolge durch den »hiesigen Landjägereibeamten«.

Bis kurz vor seinem Tod arbeitete Neumann an einer Ahnentafel für seinen 1911 geborenen Sohn Fritz, der als Gehilfe in der Hammaher Molkerei angestellt war. Aus ganz Pommern und Ostpreußen ließ der Vater sich Geburts- und Heiratsurkunden der Vorfahren schicken.
Wer es im Dritten Reich zu etwas bringen wollte, musste reines Blut bis ins 18. Jahrhundert nachweisen können. Offenbar wollte Neumann für seinen Sprössling vorsorgen. Er wurde gerade noch fertig damit.
Bei den Reichstagswahlen 1933 hatten 333 von 366 Wahlberechtigten in Hammah für die Nazipartei gestimmt. 41 Einwohner gehörten der SA an, und bald rekrutierte die SS ihre Leute im Dorf.
Wilhelm Neumann war zwar Mitglied der NSDAP. Aber die Aufforderung an die Ortsgruppe, zu seinem Begräbnis anzutreten, verrät, dass der erzkonservative kaisertreue Ordnungshüter nicht wirklich dazu gehörte. Es sei »eine selbstverständliche Pflicht«, ihm das letzte Geleit zu geben, heißt da – »ganz gleich wie er zu uns gestanden hat«.
Neumanns Begräbnis fand einigen Niederschlag in den Anzeigenspalten des Stader Tageblatt. Die »Kriegerkameradschaft« würdigte ihr Vorstandsmitglied, und der Kommandeur der Gendarmerie hob nochmals Neumanns Pflichterfüllung bis in den Tod hervor.
Die Witwe des Wachtmeisters musste die Dienstwohnung allerdings schleunigst räumen. Sie tat es und ließ die Schubladen des Schreibtischs unberührt.
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Literatur – D. Alsdorf/H. Spreckels: Hammah im Wandel der Zeit, Hammah 1997 | S. Schulz-Hauschildt: Himmelpforten, Himmelpforten 1990 | U. R. in Hamburger Abendblatt 31.12.2001
© Uwe Ruprecht
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