Eine NS-Geschichte aus Bremervörde
»Sie ist leichtsinnig gewesen! Man wusste doch, wie gefährlich das war!«, sagten die Leute nachher, als Annemaries Eltern eine Todesanzeige in die Zeitung setzen ließen: »Nach Gottes unerforschlichem Ratschluss verstarb nach kurzer, schwerer Krankheit …«. Und dann schwiegen die Leute wieder.
War Annemarie ein besonderes Mädchen? Vielleicht etwas hübscher als die meisten anderen? Etwas lebhafter? Leichtsinnig, das war sie wohl. Zu leichter Sinn für ihre finstere Zeit.
Mit 14, nach dem Schulabschluss, verließ sie ihr Zuhause in einem Dorf auf dem weiten flachen Land und verdingte sich als Magd bei Bürgern und Bauern in der Region. Viel herum kam sie nicht, nur mal 20 oder 30 Kilometer in diese oder jene Richtung. Zuletzt war sie auf einem entlegenen Bauernhof angestellt.
»An alle Männer hat sie sich heran gemacht«, sagten die Leute später. Annemarie ging gern tanzen, wie fast jedes Mädchen. Tanzen gehen war so ziemlich das einzige Vergnügen, das ihr frei stand. Kurz nach Beginn des Krieges lernte sie auf einem Tanzboden in der Stadt einen jungen Mann kennen, den die Leute »stattlich« nannten.
Das Paar gefiel den Leuten, die Magd und der Soldat. So sahen sie es auch ständig in den Wochenschau-Filmen des rollenden Kinos. Ein Bild wie auf den Postkarten, die sie ihren Lieben zu den Festtagen schickten. Ein blondes Mädel und ein stattlicher Mann.
Was mochte nur in das Mädchen gefahren sein, dass sie ihre Eroberung vom Tanzboden nicht zu schätzen wusste?
Neue Zwangsarbeiter kamen auf den Hof des Bauern, bei dem Annemarie arbeitete. Sie kamen aus dem Kriegsgefangenenlager oder waren gezielt aus ihrer Heimat verschleppt worden – niemand fragte danach, niemand erklärte es. Es waren Menschen ohne Geschichte, Menschen, die kein Gesicht haben sollten; es sollten gar keine Menschen sein.
Bloß Annemarie konnte nicht anders, sie schaute sich einen der Zwangsarbeiter genauer an. Und verguckte sich. Vergaß ihre stattliche Tanzbodenbekanntschaft und stieg mit dem Zwangsarbeiter ins Heu.
Stephan stammte aus dem ersten fremden Land, in dem die Schwarzen Schergen gewütet hatten. Er war 30, neun Jahre älter als Annemarie, war daheim verheiratet und hatte zwei Kinder.
Im Krieg ist das Leben zu kurz für Vorbehalte. Dass die beiden sich liebten, wusste erst der ganze Hof, dann das Dorf, und endlich erfuhr es auch der stattliche junge Mann aus der Stadt.
Die Menschen ohne Gesicht durften natürlich nicht mit ihren Herren am selben Tisch essen. Da trieb es Annemarie zu weit. Man war auf dem Hof wohl entschlossen gewesen, die verbotene Beziehung stillschweigend zu dulden. Schon deshalb, weil sie anzuzeigen einem nur selbst Scherereien eingebracht hätte.
Aber wenn Annemarie es übertrieb, war nichts mehr zu machen. Als Stephan des Esstisches im Haus verwiesen wurde, nahm Annemarie ihren Teller und folgte ihm in die Scheune.
»Haltet das deutsche Blut rein!«, befahl ein Merkzettel, der dieser Tage im Dorf und auf den Höfen verteilt wurde. »Das gilt für Männer wie für Frauen! So wie es als größte Schande gilt, sich mit einem Juden einzulassen, so versündigt sich jeder Deutsche, der mit einem Polen oder einer Polin intime Beziehungen unterhält. Verachtet die tierische Triebhaftigkeit dieser Rasse! Seid rassebewusst und schützt eure Kinder. Ihr verliert sonst euer höchstes Gut: Eure Ehre.«
Bald war abzusehen, dass die »Rassenschande« von Annemarie und Stephan jedem Uneingeweihten ins Auge springen würde. Des Mädchens Monatsblutung blieb aus; bald hatte sich die Neuigkeit auf dem Hof verbreitet und darüber hinaus.
Annemarie wurde fort gejagt. Sie kam unter bei einem Friseur in der Stadt. Noch waren die Behörden nicht aufmerksam geworden.
»Lass es weg machen!«, riet ihr der stattliche junge Mann vom Tanzboden, dem sie gelegentlich in den Straßen begegnete. »Mir passiert nichts«, erwiderte sie. Etwas hatte ihr die Illusion eingepflanzt hatte, sie und ihr Kind kämen davon. Die letzten sieben Wochen vor der Niederkunft verbrachte sie bei ihren Eltern.
Irgendwer plauderte schließlich an der falschen Stelle, aus Versehen oder mit Bedacht. Die Leute reden viel, und nachher will es keiner gewesen sein. Eine Belohnung für den Verrat war nicht ausgeschrieben, außer der Ehre. Der treue Untertan hat seinen Lohn an sich.
Manche Leute sagen, es war der staatliche Mann aus der Stadt, der es nicht ertrug, dass die Magd ihn mit einem Untermenschen betrogen hatte. Das verletzte nicht nur die Ehre des Volks, sondern die seine persönlich.
Stephan war bereits im Gefängnis, als sein Sohn geboren wurde. Ein Vierteljahr nach der Geburt wurde er früh morgens geweckt und zurück auf den Hof transportiert, wo er mit Annemarie im Heu gelegen hatte.
Ein Tischler hatte unter einem großen Baum ein Schafott errichtet. 600 Zwangsarbeiter aus der ganzen Region waren rund um den Hof zusammen getrieben worden. Die wichtigsten Repräsentanten, Landrat, Bürgermeister und Abgesandte der Braunen und Schwarzen Parteiarmeen ließen sich das Schauspiel nicht entgehen.
Ein anderer Zwangsarbeiter wurde gezwungen, Stephan aufzuknüpfen. Auch er hatte sich der »Rassenschande« schuldig gemacht. Nachdem er zusammen mit Stephans Sarg weg geschafft worden war, erhängte man ihn gleichfalls.
Zwei Tage danach wurde Annemarie verhaftet. Sie arbeitete inzwischen in einer Rüstungsfabrik. »Sie hat ein loses Mundwerk gehabt«, sagen die Leute. Wenn Annemarie von Stephans Schicksal wusste, hat sie geahnt, was auf sie zukäme? Hatte sie dann noch Grund, den Mund zu halten?
Der Friseur, der sie im Vorjahr aufgenommen hatte, weigerte sich, ihr den Kopf kahl zu scheren. Ihr wurde auch erspart, mit einem Schild, das ihre Schande bezeichnete, durch die Straßen der Kleinstadt gehetzt zu werden.
»Wenn ein Pole mit einer Deutschen verkehrt, ich meine jetzt also, sich geschlechtlich abgibt, dann wird der Mann gehängt, und zwar vor seinem Lager. Die Frauen werden unnachsichtig den Gerichten vorgeführt und wo der Tatbestand nicht ausreicht in Konzentrationslager überführt.« Das hatte der Meister der Schwarzen Schergen, Heinrich Himmler, seinen Gesellen befohlen, und so wurde es getan.
Annemarie verschwand. Ihr Vater wollte ihr noch Essgeschirr ins Gefängnis bringen, da war sie schon fort. Auf Anfragen der Eltern gab es keine Antwort. Nach fast zwei Jahren kam mit der Post eine Urne.
Die Eltern reklamierten auch die persönliche Habe der Toten. Was sie aber schließlich erhielten, hatte nie Annemarie gehört. »Nach Gottes unerforschlichem Ratschluss« schrieben die Eltern in ihre Todesanzeige. Sie wussten es besser.
Annemarie war im speziellen Frauen-Lager in Ravensbrück untergebracht und diente für die medizinischen Experimente von Prof. Dr. Karl Gebhardt, dem Leibarzt von Heinrich Himmler, in dessen nahe gelegener Klinik Hohenlychen. Umgebracht wurde Annemarie im größten Vernichtungslager in Stephans Heimat, in Auschwitz-Birkenau.
Und das Kind? Verschollen.
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Die Darstellung folgt den von Werner Borgsen in der Heimatbeilage der Bremervörder Zeitung am 25.1.1997 veröffentlichten Recherchen.
Bei dem Kriegsgefangenenlager, dem Stephan zugewiesen war, handelte es sich um das »Mannschaftsstammlager B im Wehrkreis X« in Sandbostel. Etwa eine Million Gefangene aus 46 Nationen wurden von 1939 bis 1945 durch →»Stalag X B« geschleust. Vom hier aus wurden sie auf Arbeitskommandos verteilt, die vorwiegend in der Landwirtschaft Zwangsarbeit leisteten.
Ab Oktober 1944 unterstand das Lager der SS, die in den letzten Kriegswochen Häftlinge aus dem aufgelösten KZ Neuengamme und seiner Außenstellen hierher trieb. Bis zu 50.000 Gefangene befanden sich gleichzeitig auf dem Gelände.
Tausende starben, wie viele, kann nur geschätzt werden; um die 50.000? Todesursachen: Hunger, Seuchen, Misshandlungen und willkürliche Erschießung.
Unter den Überlebenden drei Prominente: der marxistische Philosoph und Mörder seiner Ehefrau Louis Althusser, der Surrealist und Kriminalschriftsteller Leo Malet (Nestor Burma) und der Schöpfer von Don Camillo und Peppone, Giovannino Guareschi.
Dadurch, ob sie die Genfer Konvention anwendeten oder nicht, installierten die Wächter eine Hackordnung unter den Gefangenen. Oben standen Amerikaner und Briten, gefolgt von Franzosen und Belgiern, dann Serben und Griechen. Ganz unten waren Polen, Italiener und schließlich die sowjetischen Gefangenen.
Siehe J. Bohmbach/H.-H. Kahrs (Hg.): Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in der NS-Zeit an der Niederelbe, Stade 2009 | W. Borgsen/K. Volland: Stalag X B Sandbostel, Bremen 1991 | D. Kohlrausch in Zwischen Elbe und Weser 1/2002 | U. R. in Neues Deutschland 2.4.2002, blick nach rechts 10/2004
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Die beiden mächtigsten Männer des Dritten Reichs gaben Gastspiele in Bremervörde, vor seinem Beginn und nach seinem Untergang. Adolf Hitler war im Reichstagswahlkampf 1932 fast einen Monat auf Deutschland-Tour. Am 25. Oktober landete sein Flugzeug in Schwerin, am nächsten Tag in Bad Schwartau, am 28. in Bremervörde und gleich ging es weiter nach Hamburg.
6000 Zuschauer auf der Straße und in der Markthalle, die ganze Stadt auf den Beinen, erwarteten den »Führer«. Er kam mit Verspätung, abends um zehn, raste im geschlossenen Wagen heran, Defiliermarsch, Heil-Rufe, das Mädchen mit dem Blumenstrauß, die Reden.

Die Zeitungsredakteure nannten ihn nicht wie ihre Kollegen in der Nachbarschaft »Führer«, sondern schlicht beim Namen und streuten in ihren Gruß Kritik ein. Die sich bald »Schriftleiter« nennen mussten gaben seine Worte nur indirekt wieder; trockenes Holz, das bei niemand zünden sollte:
»Seine Gemeinschaft, die er aufgebaut habe, reiche vom Straßenkehrer bis zum kaiserlichen Prinzen. Er sei stolz auf dieses kostbare Gut und werde es weiter verwalten, denn wenn dem nicht so wäre, würde das dritte Reich sich genauso zerschlagen wie es das zweite getan habe.«
Nach einer Stunde war Er fort. »Heute Vormittag«, schloss die Zeitung ihren Vortrag, »flutet das Leben wieder in bekannten gewohnten Bahnen dahin. Der Hitlertag ist vorüber mit seinen hochgespannten Erwartungen; für viele, wohl die meisten, ein großes Erlebnis.« Der »Hitlertag« war lange nicht vorbei, sondern noch kaum angebrochen.
Hitlers Hauptvollstrecker Himmler verbrachte die Nacht nach seiner Verhaftung in Meinstedt am 21. Mai 1945 auf der Oste-Insel in Bremervörde. (→ Himmlers Höllenfahrt)
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