Die Legende vom Flötenspieler
Abyssinien klang nach exotischer Ferne wie Äthiopien, nach unbekannten Welten, unentdeckten Ländern, ganz und gar fremden Menschen, Sitten und Gebräuchen, nach nie Erlebtem und spielte an auf die Träume, in denen das Bürgertum von der Wohnstube aus die Welt eroberte, indem es sie sich dinglich, als Teil der alltäglichen Ausstattung symbolisch unterwarf, in der Kommode und im Buchregal gefangen hielt.
Abyssinien war zugleich das Land des Abgrundes, der unausgeloteten Tiefe, des Untergangs im Abyssus. Was die Bürger sich unterwarfen, veränderte sie. Sie mochten es sich in die Tasche stecken, im gefütterten Etui deponieren oder an die Wand hängen, mochten es für sicher verwahrt halten, doch Taschen, Etuis und Nägel bannten es nur scheinbar. Auf einer immateriellen Ebene, die der Bürger für gering erachtete, als dem Materiellen unterlegen, höhlte das Fremde das Eigene aus und eignete es sich seinerseits an.
Und waren aus den Fremden Bürger geworden, würden sie ihrerseits, als Trophäen der eigenen Geschichte, das Aufgehobene und Ausgelöschte aufbewahren und ihm eine anhaltende Wirksamkeit verschaffen, durch die der Prozess sich wiederholte, indem das fremd Gewordene sich als Neues und begehrenswert darstellte, dem man sich hingab.
Adolph Freiherr von Knigge setzte mit der Kritzelei aus. Er hatte Bemerkungen zu einer Fortsetzung der Abenteuer des Herrn kaiserlich-abyssinischen Exministers von Wurmbrand zu Papier bringen wollen, indes die zitternde Hand, die den Bleistift kaum gerade aufsetzten konnte, unmöglich mit der durch keine Krankheit gebremsten Geschwindigkeit seiner Gedanken Schritt halten konnte. Er müsste sich mit Stichworten bescheiden, um einen Gedankengang immerhin zu skizzieren, wo er nicht imstande war, ihn in voller Länge auszuführen, bezweifelte er aber, dass er sich später an die angedeuteten Zusammenhänge würde erinnern können.
Joseph von Wurmbrand, kaiserlich-abyssinischen Exministers, jetzigen Notarii caesarii publici in der Reichsstadt Bopfingen, politisches Glaubensbekenntnis mit Hinsicht auf die französische Revolution und ihre Folgen hatte der Autor selbst als harmlos eingestuft und insonderheit darauf geachtet, die eigene Regierung von der Kritik ausdrücklich auszunehmen. Gerade dadurch machte er freilich auf sich aufmerksam, und erste Warnungen gingen bei ihm ein.
Eben in Abyssinien hatte er von Freiheit geträumt, von grenzenloser Freizügigkeit, die Ordnung überflüssig machte, in der es weder Macht noch Herrschaft, kein Oben und Unten, weder Reiche noch Arme, keine Ränke, Intrigen, Verleumdungen und Übervorteilungen gab, und die Menschen in elysischer Eintracht miteinander umgingen, ein jeder tun und lassen konnte, was er wollte, sofern er die anderen nicht beeinträchtigte. In Abyssinien war kein Platz für Regierungsräte, die nur befriedigte, in die Freiheit anderer einzugreifen, von der sie ohnehin einen eingeschränkten Begriff nach eigenem beengten Vorbild hatten, die traten und buckelten, aber nie aufrecht gingen.
Einen flüchtigen Moment lang hatte er sich Abyssinien wie eine der Südseeinseln vorgestellt, von denen in jüngster Zeit so viele Berichte eingingen. Er teilte nicht den Glauben, der in den Salons grassierte und von Reisepredigern genährt wurde, die Cook oder Forster auf ihren Expeditionen begleitet haben wollten und im Anschluss an ihre Vorträge Kupferstiche oder originale Handzeichnungen von Szenen aus dem Alltagsleben der Wilden feilboten, Andenken an den Traum, jene Breiten wären ein irdisches Paradies.
Aus besseren Quellen, von englischen Seeleuten und echten Gelehrten, hatte Knigge nicht nur die Ermordung Cooks geschildert bekommen, sondern sich von finsteren Feierlichkeiten erzählen lassen, bei denen Angehörige der niederen Kasten den gräßlichen Naturgottheiten des Pazifiks, aberwitzigen Mischwesen aus Fisch und Mensch, in blutigen Zeremonien geopfert wurden.
Das Ritual eines Stammes, der inmitten eines Urwalds hauste, der die betreffende Insel vollständig überwucherte, hatte Knigge ein für allemal von der Hoffnung geheilt, in den von Handel und Wissenschaft bislang unerschlossenen Weltgegenden ein grundsätzlich anderes und neues Gesellschaftsmodell zu erwarten. Vor allem des eigenen Flötenspiels wegen hatte das Ritual ihn sofort beeindruckt und bedrückt.
Einem aus der Sklavenschicht wurde eines Tages eine Flöte in die Hand gedrückt. Die Sklavenschicht war groß, keiner konnte vorher wissen, wen es traf. Unvermittelt trat der Priester an den Sklaven heran, der sich auf einem alltäglichen Gang durch das Dorf befand, irgendeiner Verrichtung nachging, eine Last schleppte oder ein Werkstück bearbeitete, ein Tier schlachtete oder eine Pflanze schälte, und hielt ihm die Flöte hin.
Von dem Moment an war der Sklave aller Pflichten entbunden, aller Aufgaben ledig. Es war ihm vielmehr untersagt, irgendetwas zu tun und in irgendeiner Weise am Leben der Gemeinschaft teilzuhaben. Nur Flötenspielen durfte er. Je nachdem, wie das Ritual durch die Zeiten praktiziert wurde, überließ, verbot oder gebot man ihm, ob, wie und wo er Flöte spielte.
Einst war es üblich, dass die Priester ihn ermahnten, immerhin tagsüber oder zu bestimmten Nachtzeiten die Flöte zu blasen. Zeitweilig bürgerte es sich ein, dass er es auf dem Marktplatz zur Mittagszeit zu sitzen und zu flöten hatte. In einer anderen Epoche trat und stieß ihn jeder, der ihn nicht mit der Flöte an Mund sah. Später oder früher wurde er getreten und geschlagen, weil mein sein Lied nicht ertrug, und die Priester stachelten das Volk dazu auf, mit der Peinigung des Flötenspieler den eigenen Kredit beim Gott zu erhöhen.
Mit der Flöte bemaß der Priester dem Sklaven sein letztes Jahr. Zwölf Monde lang würde er flöten oder nicht. Danach wurde er dem heimischen Gott der Unterwelt dargebracht. Dieser war eine Kreuzung aus Krake und Kröte, übersät mit pulsierenden Augen und Eiterblasen, der auf einer kleineren Insel hocken sollte, auf der man den Flötenspieler aussetzte. Das steinerne Eiland, eigentlich nur ein Felsenriff, war das unwiderruflich letzte Asyl des verurteilten Sklaven.
Der Gott holte ihn sich, waren die Insulaner überzeugt, ohne je überprüft zu haben, was mit den Ausgesetzten geschah. Den Priestern zufolge kam das Ungeheuer aus der Tiefsee und schlürfte die Gabe der Gläubigen von den Steinen. Das Riff lag in einer Zone flachen Wassers, und die Opfer wurden weit vorher aus dem Boot geworfen. Keiner der Ruderer kam je nah genug, um verstreute Knochen zu sehen, die verweste Leiche des Verhungerten vom letzten Jahr, angespülte Ertrunkene. Die Brandung allein oder ein Sturm genügte, alle Spuren zu verwischen.
Falls eines der Opfer im Laufe der Jahrhunderte einmal an den Strand der Hauptinsel gespült worden war, hätten die Priester eine bündige Begründung gefunden: Der Gott habe das Opfer abgelehnt; etwas stimmte nicht mit seinem Flötenspiel.
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Siehe über Adolph Freiherr von Knigge auch → Mit doppelter Dosis Opium über seine letzte Reise 1795 nach Stade und über → Knigge und die Illuminaten
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