Kindsmord in Stade 1901
»Lina Linnekugel, 19 Jahr alt, lutherisch, Dienstmädchen, aus Harsefeld gebürtig, noch unbestraft und recht gut beleumdet, ist des versuchten Kindsmords angeklagt«, meldete das Buxtehuder Wochenblatt im November 1873.
Lina hatte geboren, während sie im Stall beim Viehfüttern war. Sie trug ihr Kind in den Garten, wo sie, »in der Absicht, momentan sein Schreien zu verhindern, jedenfalls in Angst und kopflos geworden, dessen Mund mit etwas Gras und Moos bedeckte«.
Statistiken gibt es nicht, und niemand weiß, wie viele Morde sich in der hohen Rate der Kindersterblichkeit verbargen. Sicher war Lina Linnekugel kein Einzelfall. Überforderte ledige Mütter, die ihren Nachwuchs umbringen, gab es immer.
Und als Strafe erwartete sie lange Zeit der Tod. 1661 wurde in Stade eine Kindsmörderin nach der Hinrichtung mit dem Schwert auf einen Pfahl gesteckt; 1781 wurde in Otterndorf Margaretha Hammans geköpft. Berühmt wurde Susanna Margarethe Brandt, die 1772 in Frankfurt am Main hingerichtet wurde, und die der seinerzeit dort als Rechtsanwalt praktizierende Goethe als Vorbild für sein »Gretchen« nahm.
Um den zunehmenden Abtreibungen und Morden an unehelichen Kindern der besseren Gesellschaft vorzubeugen wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Wien eine Einrichtung geschaffen, in der die Schwangeren »unter Maske« gebären konnten und nachher das Kind gegen einen Pauschalbetrag quasi an die Stadt verkauften; »eingezahlte Kinder« hießen diese dann.
Auf dem Lande und bei den unteren Schichten war die Lage um so ärger: Manche Magd, die damit rechnen musste, aus dem Dienst verstoßen zu werden, sobald sie Mutter wurde, gebar heimlich und brachte ihr Kind »um die Ecke«.
Lina Linnekugel, deren Kind überlebte, wurde vom Schwurgericht freigesprochen. Von einem ähnlichen Fall, der sich knapp 30 Jahre später in Schölisch zutrug und weniger glimpflich ausging, hat sich eine Akte erhalten.
Einzelheiten aus dem Leben der Kindsmörderin sind darin nicht verzeichnet. Von dem kleinen, eingeschränkten und gedrückten Dasein der Dienstmagd erfährt man vor allem aus dem, wonach die Berichterstatter des Gerichts nicht gefragt haben – weil es sie nicht verwunderte.
Wie diese Aussage der 19-jährigen Marie Offermann: »Ich hatte keine Ahnung, dass meine Schwangerschaft schon so weit fortgeschritten war, dass ich gebären würde. Ich habe auch nicht gewusst, dass die Schmerzen im Leib ein Zeichen wären dafür, dass die Geburt nahe bevor stünde.«
Niemand hatte sie aufgeklärt. Und nachdem das »Malheur« passiert war, fand sich niemand, der ihr beistand. Ein wenig tumb scheint sie außerdem gewesen zu sein: »Woher die Schmerzen kämen, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.«
Anna Maria Offermann, Marie gerufen, geboren am 16. November 1881 in Haddorf, war vermutlich selbst ein »Bastard«. Die Akte erwähnt keine Eltern, nur einen Vormund, den Arbeiter Peter Offermann in der Stader Bäckerstraße. Ihr Onkel? Oder jemand, der die Waise adoptiert hatte? Im Gerichtsverfahren trat er nicht in Erscheinung.
Maries Seele stand nicht zur Debatte, allein ihre Tat – als ließen sie sich voneinander trennen. Das Verlässlichste über die Kindsmörderin ist der Katalog ihrer äußeren Merkmale: 1,67 Meter groß, blond, schlank, »Gesichtsbildung: länglich«, graue Augen, »Nase und Mund: gewöhnlich«. Ein Mädchen ohne besondere Züge.
Die Erkundigungen, die Fußgendarm Wilhelm Behnke, 36 Jahre, vom Stader Beritt der 10. Gendarmerie-Brigade, in der Nachbarschaft des Kolsterschen Guts in Schölisch einzog, ergaben ebenfalls nichts Besonderes. Marie ging selten aus, und wenn, kehrte sie pünktlich zurück. »Sie soll keinen Verkehr mit anderen Mädchen gepflegt haben. Es ist keinem aufgefallen, dass die Offermann sich sittlich schlecht führte.«
Am Nachmittag des 22. September 1901 war Marie mit dem 15-jährigen Dienstjungen Heinrich Ritter allein zu Haus und klagte über Schmerzen. Heinrich war der Vater ihres Kindes; weder vorher noch nachher habe sie mit jemandem »zu tun gehabt«, sagte Marie.
»Es ist richtig, dass ich um Weihnachten herum mit der Offermann zu tun gehabt habe und zwar mehrmals«, räumte der Junge ein. »Das Kind, welches die Offermann im September geboren hat, mag von mir herrühren. Ich habe mit ihr, als sie schwanger wurde, nicht darüber gesprochen, von wem das Kind wäre.«
Auch am Nachmittag des 22. fiel zwischen den beiden kein Wort über das Kind. Wenn Marie sich schon keine Gedanken machte über ihre Schmerzen, so erst recht nicht der Jüngling, der mit ihr »zu tun« gehabt hatte. Peinlich, dass sie ihm überhaupt davon erzählte, wie sie litt.
Den Gutsbesitzer Johann Kolster, 54 Jahre, scherten die Beschwerden der Magd ebenso wenig. Kolsters Frau Katharina »war nicht recht wohl« und kümmerte sich auch nicht.
In einem Satz beschreiben die Akten, wie mit der Schwangerschaft der Magd auf dem Gut umgegangen wurde: »Wenn aber die Ehefrau Kolster die Offermann danach fragte, ob ihre Zeit bald käme, da sie dann in ihrem Hause nicht bleiben könne und fortgebracht werden müsse, gab sie zur Antwort, das ginge keinen was an.«
Dass das Mädchen verschwinde, sobald sein uneheliches Balg die Welt betreten hätte – darin erschöpfte sich das Interesse auf dem Gut.
Nein, Marie dachte nicht darüber nach, woher die Schmerzen kämen. Wenn ihr denn jemand gesagt hätte, was Wehen sind, hätte sie es nicht wahrhaben wollen. Das Kind war schlicht eine Katastrophe.
Die Mitleidlosigkeit in Maries Umgebung war durchaus typisch, so wie es allgemein üblich war, uneheliche Mütter in ein ungewisses Schicksal zu entlassen. Üblich auch, dass die Väter keine Verantwortung zu übernehmen hatten; »Kavaliersdelikt« hieß das, wenn es den Herren höherer Stände zustieß.
Gegen drei Uhr in der Nacht zum 23. September hörte Gutsherr Kolster ein Geräusch, »als ob die Klinke der Küchentür ginge«. Er ging nachschauen und fand die Mädchenkammer leer. Kolster vermutete, dass Marie zu ihrem Vormund gegangen sei.
Braves Mädchen, dachte er vielleicht, macht sich aus dem Staub, bevor das Kind kommt, und erspart uns Scherereien. Und er legte sich wieder zu Bett. Eine halbe Stunde später hörte er erneut die Tür. Von draußen kam Marie herein, die Kleidung blutverschmiert und sichtlich dünner geworden.
»Was ist mit dem Kind?«, fragte Kolster. Das Mädchen sah ihn stumpf an. Kolster wurde heftiger – so laut, dass seine Frau in ihrem Bett hörte, dass die Magd »nicht mit der Sprache heraus« wollte. Weinend gestand Marie, das Kind verscharrt zu haben.
Also doch Scherereien! Wütend befahl Kolster, ihm die Stelle zu zeigen. Auf schwachen Beinen führte Marie ihn zu einem 20 bis 30 Meter vom Haus entfernten Wassergraben. Das Kind, sagte sie, »läge da unten im Dreck«.
Kolster sah nichts. »Die Offermann wurde aufgefordert, es heraus zu holen, tat es aber nicht.«
Auch als zwei Knechte mit einer Laterne herbeikamen, entdeckten sie das Kind nicht. Einer der Knechte war Heinrich Ritter, der Vater. »Besonders aufgefallen ist mir nichts an ihr« – mehr gibt er dazu nicht zu Protokoll. »Heinrich! Mir graut’s vor dir«, möchte man mit Gretchen ausrufen.
Am Morgen nahm Fußgendarm Behnke die Anzeige auf. Am folgenden Tag traf das Gericht zum »Augenscheinstermin« auf dem Gut ein.
Am Rand des Grabens war kein Wasser, sondern Schlamm, sogenannte Kleierde, daraus »guckten an mehreren Stellen Fleischteile hervor«: Knie und Arme des toten Kindes. »Nachdem der Leichnam mittels einer hölzernen Schaufel mit Leichtigkeit aus dem Schlamm herausgehoben war, zeigte sich, dass der Mund ganz mit Schlamm gefüllt war.«
»Das Kind war ein reifes und lebensfähig«, befand der Gerichtsmediziner. Das Kind, dessen Geschlecht der Aktenleser nicht erfährt, habe »nach der Geburt geatmet, also gelebt« und war am Schlamm erstickt.
Dafür, wie es in den Graben gekommen war, gab Marie eine Erklärung, der von dem Mediziner widersprochen wurde.
»Ich wollte nach Stade, weil ich meinen Arzt in der Nähe haben wollte, wenn die Schmerzen stärker würden«, sagte sie. Sie kam bis zum Stall, dort überwältigten sie ihre Schmerzen. Ein paar Schritte noch wankte sie, bis zu einer Pappel am Wassergraben, dann sank sie hin und verlor das Bewusstsein, sagte sie.
»Als ich wieder zu mir kam, fand ich mein Kind nicht mehr. Die Nabelschnur war gerissen«. Ihre geöffneten Beine wiesen zur Böschung des Grabens hin; beim Ortstermin wurden dort eine Handvoll blutgetränkter Blätter gefunden.
Marie suchte und entdeckte das Kind im Graben. Sie nahm es auf und brachte er ein Stück weiter zu der Stelle, wo es geborgen wurde. »Dort will sie das Kind mit Erde bedeckt haben, ohne dass sie vorher nachgesehen und gemerkt habe, ob das Kind lebte oder nicht.«
Dass sie bewusstlos geboren hatte, die Nabelschnur gerissen und das Kind in den Graben gerutscht war, nahm das Gericht Marie nicht ab. Doch es ließ mildernde Umstände gelten und verurteilte sie zu nur drei Jahren Gefängnis, die sie auf den Tag genau in Harburg absaß.
Gerichtlich hat man danach in und um Stade nie wieder etwas von ihr gehört. Das letzte Zeichen von ihr ist das Signalement, das anlässlich ihrer Freilassung angefertigt wurde. Im Unterschied zu der ersten Beschreibung bei ihrer Festnahme wird ihre Gestalt nicht mehr mit »schlank« sondern als »gesetzt« bezeichnet, die Zähne sind nicht mehr »gesund«, sondern »schadhaft«.
Das Haus an der Straße nach Götzdorf stand nicht mehr, als ich 100 Jahre später nachschaute; aber den Graben gab es noch, an dem Marie Offermann geboren hatte.
© Uwe Ruprecht
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